D ie Dienstbesprechung begann mit einem Bericht darüber, was Lars Rüttlich am Vorabend über den großen Unbekannten ausgesagt hatte.
Groß, aber kein Riese. Schlank, aber muskulös. Grau meliert, aber nicht alt, wobei diese Einschätzung wohl im Auge des Betrachters lag. Julia Durant hatte es nicht selten erlebt, dass in den Gesichtern herumlungernder Jugendlicher, deren Blicke sie manchmal einfing, ohne dabei rügend wirken zu wollen, der Begriff »Oma« zu lesen war. Bestenfalls »Alte«. Hier und da vielleicht auch » MILF « – freilich eine fragwürdige Ehre, aber vielleicht das Beste, was man einem wildfremden Vierzehnjährigen an Wertschätzung entlocken konnte.
Das Markanteste an dem Mann, der die Anzeige aufgegeben hatte, sei seine Stimme gewesen. Heiser, aber nicht krächzend. Kein Hilfsmittel wie etwa jene Mikrofone, die schlimmstenfalls nach Kehlkopfoperationen eingesetzt wurden. Rauchig. Eine Art Belag, der wie ein Dämpfer über den Stimmbändern zu hängen schien.
Durant hatte den ganzen Abend über die blumigen Beschreibungsversuche nachdenken müssen, zu denen Rüttlich sich hatte hinreißen lassen. Zugegeben: Sie hatte immer und immer wieder nachgebohrt.
Ein Flüsterer also. Sie wollte das nicht, doch sie kam auch nicht dagegen an. Glücklicherweise hatte die Presse keinen Wind davon bekommen, und auch von Lars Rüttlich sowie von Niels Schumann hatte sie das Versprechen eingeholt, vorerst kein Sterbenswort über die Sache zu verlieren. Der Preis: eine Exklusivstory. Durant widerstrebte es zwar zutiefst, wenn sie daran dachte, wie die Morde an Tanja und Alina in den Medien ausgebreitet werden würden, aber so lief es nun mal.
»Er hatte einen Datenträger bei sich«, berichtete sie weiter, »mit einer JPG -Datei des Kreuzes. Sonst befand sich nichts darauf, kein Ordner, kein gar nichts. Rüttlich hat standardmäßig das Virenprogramm drüberlaufen lassen, bevor er den Inhalt öffnete, deshalb ist er sich sicher, dass nur eine einzige Datei gespeichert war.«
»Wäre gut, diese Datei zu untersuchen«, meldete sich Schreck zu Wort.
»Was glaubst du denn darin zu finden?«, fragte Hellmer skeptisch.
»Metadaten, Hinweise auf ein Programm oder eine IP -Adresse«, zählte der IT -Experte auf. »Vielleicht sogar Steganografie, also ein Bild im Bild. Wäre ja nicht das erste Mal in diesem Fall …«
Durant nickte. »Ich kümmere mich darum, dass du eine Kopie erhältst. Aber nach allem, was sich bisher zugetragen hat, ist der Täter doch vor allem eines: altmodisch. Stego-was? Das passt doch überhaupt nicht.«
»Steganografie«, wiederholte Schreck achselzuckend. »Trotzdem. Sicher ist sicher.«
»Um noch mal auf dieses Kreuz zurückzukommen«, forderte Claus Hochgräbe, um das Ganze abzukürzen.
»Ja.« Durant fuhr sich durchs Haar. »Also es handelt sich zwar nicht um ein richtiges Hugenottenkreuz, aber laut Rüttlichs Aussage soll es das darstellen. Sein Gegenüber betonte mindestens dreimal, dass er die Grafik selbst erstellt habe. Dass es nicht einfach eine Kopie aus dem Internet sein sollte und dass es persönlich für mich – also für die Verstorbene – sei.« Durant hielt inne und schluckte. Wie sich das anfühlte.
Die Kommissarin hatte den Tag vor drei Stunden begonnen. Mit einem ausgiebigen Frühstück mit Rührei, Toast und Müsli, auch wenn ihr sowohl die Ruhe als auch der Appetit dafür fehlten. Genau aus diesem Grund aber hatte Claus Hochgräbe darauf bestanden und ihr als Krönung noch ein Glas frisch gepressten Orangensaft aufs Auge gedrückt. Dieser machte sich nun per leichtem Sodbrennen bemerkbar, wobei der säuerliche Geschmack in Durants Mund auch von der Vorstellung herrühren konnte, dass jemand ihren Tod – und das offenbar auf penibelste Art und Weise – geplant hatte. Die Frage, die ihr in den Eingeweiden brannte, war, wie der Täter reagieren würde, wenn die Anzeige nicht in der Zeitung erscheinen würde.
Lange hatte sie am Vorabend mit Hochgräbe darüber diskutiert, welcher Weg wohl der beste sei. Während Durant sich impulsiv dafür entschieden hätte, das Ganze in die Zeitung zu bringen, hatte ihr Partner für das Gegenteil plädiert. Und – schlimmer noch – er holte sich dazu auch noch die Unterstützung von Hallmann ein.
»Klar, dass dein Freund dir nicht in den Rücken fällt«, hatte die Kommissarin bissig angemerkt, auch wenn sie sich eingestehen musste, dass Josef Hallmann nicht ganz unrecht hatte: Der einzige Grund, die Anzeige zu drucken, wäre, den Täter in Sicherheit zu wiegen. Aber das brachte nur etwas, wenn man ihm auf den Fersen war, wenn man das Netz gespannt und die Fallen gestellt hatte. Doch davon waren sie weit entfernt.
»Zeigen Sie ihm, dass Sie nicht machtlos sind«, so Hallmanns Rat. »Er wird die Zeitung aufschlagen und sehen, dass Sie die Anzeige verhindert haben. Egal, ob sie ihm nun wichtig war oder nicht: Er wird erkennen, dass er nicht alles kontrollieren kann. Und genau das wird ihn irritieren, wird sein Ego ankratzen, wenn auch nur minimal.«
Letzten Endes hatte Durant ihm recht geben müssen. Und sosehr sie sich auch darüber ärgern wollte, stieg ihr ein neuer Gedanke in den Kopf. Wie hätte es ihr Paps gefunden, wenn sie ihre eigene Sterbeanzeige zugelassen hätte – wenn auch nur aus taktischen Gründen? Er hätte sich ein verständnisvolles Nicken abgerungen, doch in seinen Augen und in seiner Stimme hätte eine klare Botschaft gelegen: »Julia, mit dem eigenen Tod spielt man nicht. Das ist Gottes Aufgabe. Der Tod ist das Letzte – das Einzige, wie es manchmal scheint –, das ihm der Mensch nicht wegnehmen kann. Das solltest du respektieren und nicht leichtfertig damit umgehen.«
Angesichts all der Kriege, der Frauen- und Kindermorde und all der Massaker, die sich – nicht zuletzt im Namen Gottes – praktisch rund um den Planeten ereigneten, war es allerdings schwer, dem nicht zu widersprechen. Vor allem, weil ihr Paps nicht mehr antworten, nicht mehr leibhaftig mit ihr diskutieren konnte. Das machte Julia traurig, schwermütig, aber gab ihr letztlich auch wieder Zuversicht: Gott allein würde einmal über ihren eigenen Tod bestimmen. Kein Stephan, kein Flüsterer, kein Messer und kein Projektil.
»Sehen wir uns zum Mittagessen?«, fragte Durant nach der Besprechung.
Claus warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Bedaure. Zwei Termine, das wird sicher nach ein Uhr.«
»Na, macht nichts.« Die Kommissarin rieb sich den Bauch. »Ich bin eh noch pappsatt.«
»Es geht eben nichts über ein gutes Frühstück. Das nächste Mal besorge ich noch Weißwurst und Brezen.«
Durant riss die Augen auf. Allein der Gedanke daran verursachte einen neuen Schub Sodbrennen.
»Plan B«, sagte Hochgräbe lächelnd. »Abendessen so gegen halb sieben?«
»Gerne. Wenn nichts dazwischenkommt.«
Wenn nicht wieder jemand von meinen Freunden draufgeht.
Der saure Geschmack blieb.
Julia Durant ging zu ihrem Schreibtisch zurück. Dabei fiel ihr Blick auf die Landkarte, die den Zuständigkeitsbereich des Frankfurter Polizeipräsidiums und dessen Nachbarbezirke zeigte. Spontan kam ihr Peter Brandt in den Sinn, der sich von seiner OP erholte. Möglicherweise würde man ihn schon zum Wochenende entlassen können. Wann er wohl wieder an seinen Schreibtisch zurückkehren durfte? Wie zufällig sprang Durants Gedanke zu Andrea Sievers. Sie musste schmunzeln, denn so kurz Brandts Liaison mit der Rechtsmedizinerin auch gewesen war, so hohe Wellen hatte sie doch geschlagen. Es lag zwar viele Jahre zurück, aber noch immer traf man bei Brandt damit einen Nerv.
Durant tippte eine Kurznachricht. Wartete, ob Andrea online ging und sie gleich las. Tatsächlich. Binnen Sekunden öffnete sich eine neue Sprechblase:
Hi, Julia. Ich sag nur eines:
Durant schüttelte sich.
Sie verließ die Messenger-App und rief Sievers an.
»Na? Sitzt ihr noch zusammen?«, fragte diese.
»Nein. Was bedeutet dieser Zahn?«
»Wir haben ihn aus der Asche gesiebt. Oder besser gesagt: Bruchstücke davon. So ganz schlau werden wir noch nicht daraus.«
»Ein ganzer Zahn?«, unterbrach die Kommissarin sie ungläubig, während ihr das diffuse Bild einer Knochenmühle durch den Kopf zuckte.
»Ich sagte Bruchstücke«, betonte die Rechtsmedizinerin. »Und je schneller du mich weiterarbeiten lässt, desto eher kann ich dir Antworten liefern.«
»Ich wundere mich ja nur. Ich dachte, bei einer Verbrennung kommt am Ende lediglich feiner Staub in die Urne.«
Andrea Sievers schnaubte. »Ein bisschen mehr freuen könntest du dich ja schon, finde ich. Immerhin bin ich extra deshalb hierhergefahren. Weil du hofftest, dass es eben nicht nur feiner Staub ist.«
»Tut mir leid, ich weiß im Moment irgendwie überhaupt nichts mehr«, entschuldigte sich Durant.
»Schon okay, Frau Sokrates«, flachste Andrea und verabschiedete sich.
Julia griff nach ihren Zigaretten und sah sich nach dem Autoschlüssel um, bevor ihr einfiel, dass sie zu Fuß gekommen war. Dann eben ein Dienstwagen, beschloss Julia, die nun ihren Besuch bei Peter Brandt abhaken wollte. Vielleicht würde ihr die Autofahrt helfen, den Kopf freizubekommen.
Die Kommissarin betrat den Innenhof des Präsidiums und zündete sich sofort eine Zigarette an. Die Griffe gingen ihr wie automatisch von der Hand, eine Routine, die sie vor einigen Jahren zwar abgelegt hatte, die man aber ähnlich dem Fahrradfahren offenbar nicht verlernte. Kaum dass sie die ersten Züge in ihre Lungen gezogen hatte, meldete sich das Telefon in ihrer Tasche. Es war Butz Mayer, wie die Anruferkennung verriet. Durant hatte seine Nummer eingespeichert, auch wenn sie im Grunde keine neuen Brücken in ihre Vergangenheit schlagen wollte. Doch vielleicht war es kein Fehler, jemanden in der Stadt zu haben, noch dazu beim Landeskriminalamt.
»Boots, was liegt an? Ich bin auf dem Sprung.«
»Das scheinst du irgendwie immer zu sein … Hör mal. Ich sitze gerade bei Mohr und Co. Die Ergebnisse der Forensik sind da.«
Die Reisetasche, kombinierte Durant im Stillen. Oder die Tüte mit den Kirschen?
»Okay, schieß los!« Julia wunderte sich nicht darüber, dass Butz Mayer bei den Kollegen der Mordkommission saß, auch wenn er längst woanders tätig war. Sie hätte wohl genauso gehandelt.
»Wir sind auf Lautsprecher«, meldete sich nun Marcus Mohr. »Die Spusi ist so weit durch mit deiner Reisetasche. Wir haben erwartungsgemäß …«
»Es ist nicht meine Tasche!«, unterbrach Durant kühl.
»Ja, sorry, nicht so gemeint. Wie gesagt: Es gibt nichts, jedenfalls nichts, was wir nicht finden sollten. An der Unterseite des Lippenstifts und im Karton der Tönung war jeweils ein Zehenabdruck. Bisschen verschmiert, aber eindeutig. Beide Produkte wurden benutzt, aber es gibt keine Hinweise auf DNA . Vielleicht sollen sie nur gebraucht wirken.«
»Was ist das mit dem Zeh?«, quakte Butz viel zu laut ins Mikrofon. »Eine Art Fußfetisch?«
»Er will uns damit beweisen, dass er es ist«, erwiderte die Kommissarin. »Jedenfalls glaube ich das. Zehenabdrücke sind genauso einzigartig wie Fingerabdrücke, nur im Gegensatz zu diesen und auch zur DNA befinden sie sich in keinem System.«
»Also eher ein Machtfetisch.«
»Fetisch hin oder her, das kann meinetwegen Hallmann analysieren. Für mich zählt, dass dieser Bastard meine beste Freundin ermordet hat. Und er hat sie genauso geschminkt und hergerichtet, wie ich aussehe. Inklusive Haartönung.«
Betretenes Schweigen. Es knackte in der Leitung, dann meldete sich Boots mit gedämpfter Stimme. »Was hast du da gerade gesagt?«
»Was meinst du?«
»Hallmann. Doch nicht etwas Josef Hallmann?«
»Genau der. Claus, mein Partner – und ich meine damit nicht den Beruf –, kennt ihn von früher.«
»Aha. Und wie lange ist dein Claus schon in Frankfurt?«
»Endgültig seit 2015 «, antwortete Durant und legte die Stirn in Falten. Die Zigarette lag längst zertreten auf dem Pflaster, und sie dachte daran, sich gleich noch eine anzustecken, tat es aber nicht. Stattdessen drängte sie: »Wieso denn? Komm auf den Punkt!«
»Josef Hallmann hat hier keinen allzu guten Namen mehr«, erklärte Mayer. »Er hatte hier eine Menge einflussreicher Freunde, auch beim LKA , aber unterm Strich hat er uns eine ganze Menge Arbeit aufgehalst. Viel mehr, als er uns je von Nutzen war.«
»Ich hab’s eilig und verstehe kein Wort von dem, was du mir vielleicht sagen willst. Klartext bitte, Boots, und keine Romane!«
»Gott, du bist immer noch genauso anstrengend wie früher! Also, dann die Kurzform. Hallmann hatte einen Lehrstuhl an der Uni, hat Täterprofile für die Polizei erstellt und auch Gutachten für Gerichte. Zuerst war es nur eine ehemalige Studentin, die ihm vorwarf, er habe sie seinerzeit geschwängert, ihr Geld für die Abtreibung gegeben, und der Eingriff sei am Ende derart schiefgegangen, dass sie keine Kinder mehr bekommen konnte. Nie wieder. Das muss um die Jahrtausendwende gewesen sein, vielleicht auch früher. Herausgekommen ist das aber erst kürzlich, als sie ein Foto Hallmanns in den Medien gesehen hat. Vielleicht fand sie erst dann den Mut dazu.«
So wie viele andere Frauen auch, dachte Durant. Me too, die Skandale um zahlreiche Hollywood-Prominente und die anstehenden Gerichtsverhandlungen, von denen regelmäßig zu lesen war, hatten einiges bewirkt. Plötzlich fühlten sich Opfer stark genug, über Dinge zu reden, die sie seit Jahren oder gar seit Jahrzehnten niemandem anvertraut hatten. Und wieder einmal wurde das hässliche Gesicht einer Welt sichtbar, in der reiche Männer viel zu lange alles hatten tun und lassen können. Für die meisten Opfer würden auch diese neuen Entwicklungen keine Verbesserung bringen.
Julia schluckte. »Und weiter?«
»Hallmann hat geleugnet. Aber dann traten zwei weitere Frauen auf die Bildfläche. Eine davon musste sich ihm sexuell gefällig erweisen, es ging um ein Gutachten für ihren Bruder, dem eine hohe Haftstrafe drohte. Und als diese Geschichte bekannt zu werden drohte, knallte ihm eine ehemalige Sekretärin einen Vaterschaftstest auf den Schreibtisch. Er hatte auch sie geschwängert und mit einem hohen Geldbetrag zwecks Abtreibung ruhiggestellt. Nur dass sie das Kind bekommen hat, vermutlich ohne sein Wissen. Der Sohn ist mittlerweile volljährig.« Mayer schnaufte. »Hallmanns Name tauchte kein einziges Mal in den Medien auf – Stichwort Amigos. Die haben ihn aus der Berichterstattung rausgehalten, aber natürlich wusste jeder, der mit ihm zu tun hatte, auch so, dass nur er gemeint sein konnte. Er legte sämtliche Tätigkeiten nieder und verschwand vom Radar. An Geld und Immobilien mangelt es ihm ja nicht. Nur hätte ich ihn in der Schweiz oder in der Südsee vermutet, aber sicher nicht bei euch in Frankfurt.«
»Scheiße.« Konnte es sein, dass Claus von alldem nichts mitbekommen hatte? Dass er sich an Hallmann gewandt hatte, völlig ahnungslos, und dass Hallmann keinerlei Anlass sah, ihn über alles zu informieren? »Du, ich muss auflegen. Ich fürchte, mein Liebster hat von alldem genauso wenig Ahnung wie ich.«
»Na dann. Gib ihm meine Nummer, wenn er dir nicht glaubt. Dank Hallmann fliegen uns hier gleich mehrere Fälle um die Ohren, in denen er als Gutachter tätig war. Ich erzähle ihm gerne die Langversion über seinen Freund.«
Julia Durant verabschiedete sich und nahm nun doch eine zweite Zigarette aus der Packung. Sie rollte den Filter in den Mundwinkel, während sie auf eine Verbindung zu Hochgräbes Handy wartete. Doch der ging nicht ran. Bevor sie sich darüber ärgern konnte, kam ihr in den Sinn, dass er einen Gerichtstermin erwähnt hatte. Nichts Weltbewegendes, aber eine der wenigen Situationen, in denen es verzeihlich war, sein Telefon nicht nur stumm, sondern in den Flugzeugmodus zu versetzen. Durant entschied sich gegen eine Textnachricht, sie würde es später noch einmal versuchen. Für den Moment blieb ihr nichts anderes übrig, als nach Offenbach zu fahren, denn auf einen Anruf bei Josef Hallmann hatte sie nicht die geringste Lust. Darum durfte Claus sich selbst kümmern, dachte sie nicht ohne eine Prise Trotz.
Peter Kullmer fuhr vor die Halle der Fahrzeugaufbereitung, die in einem Mischgebiet am Ortsrand von Frankfurt lag. Eine Selbstbedienungswaschanlage, ein Teppich-Outlet und einen Bäcker mit Autoschalter gab es hier, außerdem einen Flachbau mit Mietgaragen. Die hellen Schwaden des Industriegebiets Frankfurt-Höchst trieben in den wolkenlosen Himmel, und ab und an zog eine Düsenmaschine vorbei.
Doris Seidel kümmerte sich zu Hause um Elisa, denn sie wollte Nadine Hellmers Hilfsbereitschaft nicht überstrapazieren. Außerdem war sie von einem starken Impuls mütterlicher Fürsorge übermannt worden. Sosehr sie Nadine auch vertrauen konnte, es blieb stets eine Angst in ihrem Innersten, die nur wegging, wenn sie sich selbst bei ihrer Tochter befand.
Bei so mancher Person hätte dies womöglich einen bitteren Beigeschmack hinterlassen, aber nicht bei Franks Frau Nadine. Sie verstand das allzu gut.
»Ich bin ja froh, dass die sich überhaupt gemeldet haben«, brummte Hellmer, der neben Kullmer auf dem Beifahrersitz hockte. Den 911er hatte er auf dem Hof des Präsidiums gelassen, wo er, von oben bis unten gereinigt und spezialversiegelt, in der Sonne glänzen durfte.
Neben der Sauerei mit den Kirschen, der die erste Aufmerksamkeit gegolten hatte, hatte man im Fußraum des Porsche außerdem eine Notiz gefunden. Der Inhalt war seltsam genug gewesen, um das Aufsehen des Aufbereiters zu erwecken.
»Aber nach drei Tagen?« Kullmer zog den Schlüssel aus dem Zündschloss.
Die beiden stiegen aus und näherten sich einem Container, in dem sich so etwas wie die Annahme befand. Schreibtisch, Telefon und Flachbildschirme. Dazu eine Sitzecke mit Ledercouch und Sessel, Wasserspender und Kaffeeautomat. Ein bärtiger Südländer – Hellmer wusste, dass er Portugiese war – grinste von Wandplakaten mit den neuesten Top-Angeboten. Immer den Daumen nach oben, denn das gehörte zum Logo der Autoaufbereitung. Derselbe Mann, den muskulösen Körper in ein rosa Poloshirt gezwängt, trat soeben durch eine zweite Tür in der schmalen Seite des Containers und zeigte dasselbe Lächeln, als er die beiden Männer erblickte.
Hellmer stellte ihm seinen Kollegen vor, Kullmer wehrte das Angebot einer Tasse Kaffee ab und verneinte gleichzeitig die Frage, ob er den Kuga direkt in die Halle geben wolle. Zum Sonderpreis natürlich. »Rabatt für meine Freunde von der Polizei.«
»Wir kommen wegen des Zettels.«
»Na gut. Moment.« Der Mann eilte hinter den Schreibtisch und zog eine Schublade auf. Zu Hellmers Verwunderung hielt er statt einem verknüllten Papier eine Plastiktüte nach oben.
»Wegen Spuren. Habe ich doch richtig gemacht so, oder?« Er kehrte zurück und drückte dem Kommissar die knisternde Folie in die Hand. Sie glich dem Innenleben eines Polsterumschlages.
»Ja, danke, sehr gut.« Hellmer lächelte anerkennend.
»Wir fragten uns nur gerade, warum dieser Zettel erst jetzt aufgefallen ist«, sagte Kullmer.
»Der Kollege war krank. Kam erst heute wieder, und dann fiel ihm ein, dass er den Zettel gefunden hat. Ich habe ihn direkt zur Schnecke gemacht, aber er hat’s ja nicht böse gemeint.«
»Schon gut.« Hellmer deutete fragend auf den Glastisch vor der Sitzecke. Der Chef nickte. Sie nahmen alle drei Platz, Hellmer zog behutsam die Plastikfolie auseinander, und dann lag der Papierbogen auch schon vor ihnen.
Mon Chéri wären wohl zu geistreich gewesen,
Mon cher …
Bis ganz bald!
»Ist das irgendein abgedrehter Witz, den ich nicht verstehe?«
Frank Hellmer fand das alles andere als komisch. Spielte der Täter mit »geistreich« auf den Inhalt jener Likörpralinen an, wissend, dass Hellmer ein trockener Alkoholiker war? Und was sollten seine unheilvollen Grußworte bedeuten?
Ganz bald.
Die Warnung war seit dem Wochenende praktisch unbeachtet geblieben. Hellmer zog es die Magengegend zusammen, und er rief Nadine an. Sie war wachsam, das wusste er. Aber sie musste noch wachsamer sein. Und auf alles vorbereitet.
Ungefähr zur gleichen Zeit kehrte Julia Durant in die Stadt zurück. Im Gespräch mit Peter Brandt hatte dieser sehr viel mehr Neues erfahren als sie, denn er hatte noch nicht gewusst, dass Alina Cornelius tot war und seine Ex-Freundin Andrea Sievers DNA aus einem Aschehaufen zu gewinnen hoffte. Er hatte den Namen Stephan sicherlich schon aus ihrem Munde gehört, aber konnte kaum glauben, dass der Anschlag gegen ihn aus einem Rachefeldzug gegen Julia Durant herrührte.
»Da muss noch mehr dahinterstecken«, hatte Brandt mehr als ein Mal wiederholt.
Und so langsam glaubte auch Julia Durant daran.
Nur … was übersah sie?
Oder wen?
Die Sonne stand hoch am Himmel, als er den Holzhausenpark erreichte. Vögel glitten durch die kaum bewegte Luft auf der Suche nach Insekten. Kinderlachen klang aus weiter Ferne.
Für einen Augenblick erhellte sich die Miene des Kommissariatsleiters. Er hatte einen Gerichtstermin hinter sich gebracht und mehrere Telefonate führen müssen, davon nicht wenige mit unerfreulichem Inhalt. Man stand ihm auf den Zehenspitzen, weil der Mord an Tanja Wegner mittlerweile weite Kreise gezogen hatte. Sowohl die Tatsache, dass es sich um eine Polizistin handelte, als auch die bestialische Art und Weise ihres Ablebens. Und dann, immer wieder, die Tatsache, dass er Julia Durant noch nicht von den Ermittlungen abgezogen hatte. Der Deal, das LKA bis zum Ende der Woche auf Abstand zu halten, hatte Wellen geschlagen. Im Grunde konnte die Brandung ihn den Kopf kosten. Denn sofort wurden eine ganze Reihe an bisher unausgesprochenen Fragen aufgewirbelt. Dinge, die bislang nur hinter vorgehaltener Hand geäußert worden waren: War es eine gute Idee gewesen, einen landesfremden Kollegen an die Spitze der Mordkommission zu setzen? Ausgerechnet in Frankfurt, ausgerechnet im Königskommissariat, wie sich das K11 gerne selbst bezeichnete? Ausgerechnet dort, wo eine – häufig viel zu – regsame Kommissarin die Zügel in den Händen hielt, mit der er auch noch liiert war?
Am Ende fragte sich Hochgräbe, ob man in Wirklichkeit nicht eher ihn selbst für befangen hielt. Und obwohl er sich sonst vehement gegen sogenannte Amigo- oder Spezl-Wirtschaft wehrte, hatte er nun seinem Vorgänger Berger einen Besuch angekündigt. Zum einen, um ihn über den Fall ins Bild zu setzen, denn immerhin gehörte auch Berger zum gefährdeten Personenkreis, zum anderen, damit dieser hier und da ein versöhnliches Wort einlegen konnte. Eine Ermittlung ohne Julia Durant war sinnlos und – jedenfalls ohne sie wie Hannibal Lecter gefesselt in ein anderes Land zu verbringen – auch nicht in die Realität umzusetzen.
Nur ein schnelles Käsebrot daheim, dachte Hochgräbe, als er den roten Opel Roadster unter einem Baum parken sah. Vielleicht war seine Liebste ja doch zu Hause, und ihnen war ein kleines Zeitfenster an Zweisamkeit vergönnt. Dann aber fiel ihm ein, dass sie am Morgen entschieden hatten, zum Präsidium zu laufen. Der Wagen parkte hier also schon seit gestern.
Als Hochgräbe, zwei Stufen auf einmal nehmend, das Parterre erreichte, sah er gerade den leuchtenden Stoffzipfel der Montur des Essenslieferanten in Frau Holdschicks Tür verschwinden. Der Geruch nach Essen war süßlich, aber undefinierbar. Hochgräbe eilte mit ungebremstem Elan bis in den ersten Stock hinauf. Die Wohnung war leer und er enttäuscht, auch wenn er es nicht anders erwartet hatte. Er schmierte sich zwei Brote, schälte ein Ei und langte mit den Fingern in das beinahe leere Gurkenglas. Pfeffer, Salz und Paprika, zusätzlich eine Prise Muskat auf das zerschnittene Ei, dazu ein alkoholfreies Weißbier. Plötzlich hatte er es nicht mehr eilig. Das gute Wetter lud dazu ein, nachher das Fahrrad für die Fahrt zu Bergers Haus zu nehmen. Und auf dem Nachhauseweg konnte er dann ein wenig einkaufen.
Während er kaute, dachte Hochgräbe zwangsläufig darüber nach, ob es angemessen war, den Tag derart leichtfüßig zu planen. Doch andererseits war es genau das, was man der Bevölkerung in harten Zeiten riet: Lassen Sie sich nicht einschränken, denn dann hat das Böse gewonnen. Machen Sie weiter, führen Sie Ihr Leben so normal wie möglich, lachen Sie, feiern Sie, gehen Sie aus!
Und für alle anderen, die während genau dieser Tätigkeiten ihr Leben gelassen hatten, gab es Schweigeminuten.
Mit einem Mal verging ihm den Appetit.
Er trug die Reste in die Küche, zog sich ein anderes Shirt an und suchte seine bequemen Schuhe. Erfolglos. Trotzdem griff der Kommissariatsleiter im Hinausgehen zum Fahrradschlüssel, der säuberlich mit einem separaten Anhänger am Schlüsselbrett baumelte. Jenem Brett, das nur er benutzte. Julia ließ ihren klimpernden Bund immer gerade dort fallen, wo es ihr in den Sinn kam, panische Momente, wenn sie ihn bei nächster Gelegenheit suchte, vorprogrammiert.
Als Hochgräbe die Treppe hinabschlenderte, klickte erneut die Tür im Parterre.
Fünf Minuten später hatte er das Rad, welches er mangels Garage im Keller aufbewahren musste, weil es zu teuer war, um im Hausflur herumzustehen, auf den Gehweg bugsiert. Er wollte sich auf den Sattel schwingen, als er am Ende der Straße einen weißen Kastenwagen erblickte.
Moment mal, dachte er. Er kniff die Augen zusammen. Zweifelsfrei handelte es sich um das Auto des jungen Essenslieferanten, mit dem er am Vortag erst gesprochen hatte. Hochgräbes Gedanken rasten. Wenn Frau Holdschick nicht aufstehen konnte, wer hatte dann ihre Tür bewegt? Ein Notfall vielleicht? Hatte sie sich durch die Wohnung gequält, um kurz vor dem Ziel aufzugeben? Oder hatte der junge Mann keinen näheren Parkplatz gefunden? Dabei hielt der doch sonst auch meistens direkt am Bordstein. Die Essenboxen mussten höllisch schwer sein. Oder war er bereits weitergefahren und war nun zum zweiten Mal gekommen? Hatte er etwas vergessen? Wie viel Zeit war seitdem verstrichen? Nicht genug, um den inneren Kriminalbeamten in Aufruhr zu versetzen, entschied Hochgräbe. Dennoch prüfte er die Umgebung auf zwielichtig erscheinende Gestalten (von denen sich nur selten welche hierher verirrten) und verzichtete daraufhin auf den Aufwand, das Fahrrad irgendwo anzuketten. Er tappte bedächtig ins Haus zurück, überquerte das Fliesenmuster und hielt Sekunden später das Ohr an die Wohnungstür im Parterre.
Stille.
Hochgräbe machte eine Faust und pochte gegen das Holz. Noch immer regte sich nichts. Er sah sich um, kam sich ein wenig blöd vor, den Namen seiner Nachbarin in die hallende Leere zu rufen. Sie würde ihn nach allem, woran er sich erinnerte, doch ohnehin nicht hören können. Er hämmerte erneut, diesmal fester.
»Hallo?«
Auch dieser Versuch brachte keine Veränderung. Kein Rascheln, kein Rufen, kein Schaben. Totenstille, dachte er. Biss sich auf die Unterlippe, denn der Gedanke kam ihm unangemessen vor. Andererseits … wie alt war die Dame noch mal?
Ein letztes Mal, dann wandte er sich ab. Überlegte kurz, ob sich irgendwo in der oberen Wohnung ein Zweitschlüssel befand. Frau Holdschick, so glaubte er, besaß einen von ihnen – oder hatte zumindest einen besessen. Auch wenn es nur wenige Blumen zu gießen gab. Aber das war eine andere Geschichte.
Er wählte Julias Nummer, doch bekam nur die Mailbox. Also trat er wieder ins Freie, wo der Drahtesel wartete. Auch der Kastenwagen parkte noch immer am Ende der Straße.
Hochgräbe lenkte auf den Asphalt und trat kräftig in die Pedale. Noch bevor er die Kreuzung erreichte, erblickte er einen glatten, schwarzen Haarschopf, der in der Sonne glänzte. Dazu ein Paar Schultern, die mit der passenden Farbkombination gekleidet waren. Der Mann verfiel in einen Trab, als er die Grundstücksmauern des Hauses verließ, aus dem er Sekunden zuvor gekommen war. Schon Sekunden später schwang die Autotür auf.
»Halt!«, keuchte Hochgräbe, und der Junge fuhr erschrocken herum, als das Vorderrad nur eine Armlänge von ihm entfernt zum Stehen kam.
»Geht’s noch?«, blaffte er und nahm sofort eine Verteidigungshaltung ein. Die Sonne blendete ihn, offenbar hatte er Schwierigkeiten, sein Gegenüber zu erkennen. Als der Groschen fiel, rang er sich ein versöhnliches Lächeln ab. »Ach … Sie sind es.«
»Dachten Sie etwa, ich sei ein Räuber? Sie fahren ja nicht gerade einen Geldtransporter.«
»Man weiß ja nie. Was gibt’s denn so Eiliges, dass Sie mir fast in die Tür rasen?«
»Waren Sie eben bei uns im Haus?«
»Ja. Bei Frau Holdschick. Weshalb fragen Sie?«
»Ein- oder zweimal?«
»Einmal natürlich. Essensbehälter rein, Essensbehälter raus.« Tiefer Seufzer. »Für mehr ist ja meistens leider keine Zeit.«
»Hmm. Hat sie Besuch?«
»Nein. Ihre Kinder leben weit weg, soweit ich weiß. Sie ist eigentlich immer alleine.«
»Kann sie laufen?«
»Kaum. Können Sie mir vielleicht mal sagen, was diese ganze Fragerei soll?«
»Als ich eben aus dem Haus ging, fiel ihre Tür ins Schloss«, erklärte Hochgräbe.
»Unmöglich. Man muss die Tür selbst zudrücken, die hat keinen Mechanismus. Geht ziemlich schwer, manchmal klemmt der Schnapper. Aber ich war seitdem eine rauchen und dann hier hinten, in dem Haus, aus dem ich gerade kam.«
»Ohne Essensbehälter«, folgerte Hochgräbe.
»Der steht schon im Auto. Ich war nur noch mal drinnen«, zwinkerte der Mann. »Für kleine Jungs.«
Hochgräbe wusste, dass er eigentlich auf dem Weg zu Berger sein sollte, aber die Sache mit der Wohnungstür ging ihm nicht aus dem Kopf. Insbesondere jetzt, da die einzige plausible Erklärung dafür flöten gegangen war.
»Sie haben doch den Schlüssel«, begann er gedehnt.
»Ich habe vor allem eines«, kam es zurück, »keine Zeit.«
»Für ein Kippchen hat’s doch auch gereicht«, konterte Hochgräbe. »Kommen Sie, ich mache mir ernsthaft Sorgen um die alte Dame. Nicht, dass es hinterher heißt: ›Ach, hätten wir doch bloß nachgesehen.‹«
»Ist ja schon gut. Aber auf Ihre Verantwortung. Was genau bei der Polizei machen Sie noch mal?«
»Chef der Mordkommission«, grinste der Kommissariatsleiter entwaffnend.
Drei Minuten später schob der junge Mann seinen Schlüssel in Frau Holdschicks Tür, nachdem sich Hochgräbe noch einmal durch Klopfen und Rufen angekündigt hatte.
»Ich lasse Sie aber nur rein«, beteuerte er, »danach bin ich weg! Mein nächster Termin war ein hohes Tier bei der Bundeswehr. Er ist schon ziemlich verpeilt. Schimpft ständig, wenn er mich sieht, dass er keinen Chinafraß essen würde. Dann hebe ich den Deckel hoch und bete ihm vor, dass ich es nur liefere und nicht selbst koche. Mal abgesehen davon, dass ich aus Bruchköbel stamme. Wenn ich mich jetzt auch noch verspäte, rastet der Gute total aus. Denn sein Zeitgefühl funktioniert noch mit militärischer Präzision.«
»Schon gut«, raunte Hochgräbe in dem Moment, als die Tür mit einem Ächzen aufschwang. »Sie können gehen. Tausend Dank für Ihre Hilfe.«
Er drückte die Tür weiter auf. Der süßliche Geruch war wieder da. Apfelpfannkuchen. Konnte das sein? Dazwischen der muffige Geruch nach alten Möbeln, Kleidern und Mottenkugeln.
»Frau Holdschick?«
Claus Hochgräbe betrat den schmalen Flur. Die Wohnung war vollkommen anders geschnitten als ihr darüberliegendes Pendant. Unüblich, dachte er, für ein Haus dieses Alters. Da hatte sich jemand seinen Individualismus viel Geld kosten lassen. Dann fiel ihm ein, dass Susanne Tomlin die obere Wohnung nach ihrem Geschmack umgestaltet hatte. So viel zum Thema Geld. Susanne besaß davon eine ganze Menge.
Ein Geräusch ließ Hochgräbe zusammenfahren. Schlafzimmer?
»Frau Holdschick?« Er kam sich komisch vor, aber was sollte er machen. »Nicht erschrecken. Ich bin Ihr Nachbar, von oben.«
Den Blick nach rechts gerichtet, wo helles Licht aus einer angelehnten Tür fiel, schritt der Kommissar voran. Die Hand legte sich auf die Türklinke.
Und während der Spalt sich vergrößerte und das Licht ihn überflutete, sauste ein Schlag auf seinen Nacken, und die Finsternis verschlang ihn.
Julia Durant hatte das Telefonat mit ihrem ehemaligen Kommissariatsleiter beendet und verharrte mit zittrigen Händen auf ihrem Bürostuhl. Der Grund dafür war nicht etwa Bergers Stimme, wenngleich diese noch immer eine gewisse Wirkung auf sie hatte. Sie atmete durch und rief ein paar Erinnerungen ab. Es war eine Mischung aus Ehrfurcht und Respekt, aber auch eine Art väterliche Vertrautheit, wie sie es sonst nur von ihrem eigenen Vater kannte. Immerhin war Berger über viele Jahre hinweg ihr Vorgesetzter gewesen, und er hatte ihr alles sein müssen: Lehrer, Vertrauter und Freund, aber auch scharfer Kritiker und Advocatus Diaboli. Als Chef hatte er im Zweifel das entscheidende letzte Wort gehabt, was nicht bedeutete, dass Durant sich nicht gelegentlich darüber hinweggesetzt hätte und stattdessen ihrem Bauchgefühl gefolgt war. Ebendieses Bauchgefühl rumorte auch jetzt, aber noch nicht so, dass sie sich alarmiert fühlte.
Berger hatte sich bei ihr gemeldet, weil Hochgräbe ihn nicht zur vereinbarten Zeit aufgesucht hatte.
»Vermutlich ist ihm was dazwischengekommen«, war Durants erster Gedanke gewesen. Eine spontane Schutzreaktion, immerhin konnte das viele banale Gründe haben.
»Aber hätte er dann nicht angerufen?« Da mochte Berger recht haben. Bei ihr hatte Claus es ja auch versucht, aber seitdem war er nicht mehr erreichbar. Vielleicht schlicht ein leerer Akku. Solche Dinge passierten nicht nur ihr. Die Zeiten, in denen ein Handy mit einer Akkuladung tagelang auf Stand-by sein konnte, waren seit WLAN und Bluetooth längst Geschichte. Doch etwas in Bergers Tonfall hatte der Kommissarin verraten, dass er einen Gedanken zu haben schien. Einen, den sie sich selbst, vermutlich unterbewusst, strikt verboten hatte zu denken. Claus würde nichts zustoßen, Claus war doch vorsichtig. Claus …
»Scheiße. Sie glauben doch nicht etwa …«
»Nach allem, was ich bis jetzt gehört habe.«
»Warten Sie.« Julia Durant hatte das Smartphone vom Ohr genommen, um ihre Finger über das Display huschen zu lassen. Doch anstelle den alten Chef in die Warteschleife zu legen, hatte sie ihn plötzlich aus der Leitung gekickt. Darum, entschied sie eilig, kümmere ich mich später.
Stattdessen ein Versuch bei Claus. Sie lauschte dem Tuten. Sieben, acht, neun, zehn. Nichts.
Claus Hochgräbe hatte sich stets gegen eine Mailbox gewehrt. Wozu gab es Rufumleitungen ins Büro oder nach Hause, wo jeweils Anrufbeantworter an den Telefonen hingen? Vermutlich konnte man sein iPhone bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag klingeln lassen. Also tippte Durant auf den roten Hörer und versuchte es erneut. Wieder das Freizeichen, wieder ging niemand ran.
»Wo bist du?«, textete sie daraufhin. Und: »Melde dich bitte.«
Danach begann das Zittern.
Als eine Viertelstunde später ihre Nachrichten, die sie im Minutentakt überprüfte, zwar als zugestellt angezeigt wurden, aber unbeantwortet blieben, war das Bauchgefühl bereits so quälend, dass die Kommissarin den Hörer in die Hand nahm und in der IT -Abteilung anrief.
»Ihr könntet das alles so einfach haben«, war Schrecks Kommentar, während er alles für eine Ortung vorbereitete. Durant hatte sich zu ihm in den Keller begeben, wo sie auf dem Monitor den Ergebnissen seiner Handbewegungen folgte.
»Es gibt Apps, die das prima erledigen«, fuhr er fort. »Oder ihr gönnt euch endlich mal ein paar iPhones, dann könnt ihr die Standorte eurer Geräte jederzeit überprüfen.«
»Wer will das denn?«, erwiderte Durant unwirsch. Einmal ganz abgesehen davon, dass Claus ein solches Gerät besaß.
»Du«, konterte Michael Schreck. »Zumindest gerade jetzt, in diesem Augenblick.«
Julia Durant hätte ihm am liebsten einen saftigen Kommentar entgegengeschmettert, in dem ein Serienmörder vorkam, der solche Schritte in diesem Augenblick notwendig machte.
»Hilft es dir denn, dass er eins hat?«, fragte sie stattdessen.
»Werden wir sehen.«
Etwas tat sich auf Schrecks Bildschirm.
»Bingo.« Er rieb die Hände ineinander.
»Was ist das?«
»Frankfurt. Nordend. Nordend-West, um genau zu sein.« Schreck zoomte den Kartenausschnitt auf den gigantischen Monitor. Tatsächlich dauerte es noch einige Sekunden, bis Durant sich in dem Spinnennetz von Straßen zurechtfand. Viele Häuserblöcke waren rechteckig angelegt, der Rest meist dreieckig oder rautenförmig. In der Mitte der Karte klappten einige Straßenzüge ab der Wolfsgangstraße deutlich nach unten weg. Als müssten die Straßen jenem grünen Fleck Platz machen, der wie nachträglich hineingeschleudert wirkte. Der sich oberhalb der Fürstenbergerstraße breitmachte und im Norden von der Holzhausenstraße begrenzt wurde.
Holzhausenviertel .
Durants Kopf schnellte nach vorn. Das war ihr Viertel – ihre Gegend!
Sie war beileibe kein Ass darin, Satellitenaufnahmen zu lesen, doch sie schämte sich beinahe, dass sie es nicht eher begriffen hatte. Wie auf Kommando zoomte Schreck auf maximale Vergrößerung, und Julia Durant erkannte das Dach und sogar einen Teil der Fassade ihres Hauses. Und neben dem Kamin, der einen langen Schatten zog, blinkte der Cursor, der die Position von Claus’ Telefon anzeigte.
Dann versetzte ihr ein Anruf einen derartigen Schreck, dass es ihr wie feine Stiche den Nacken hinabrann. Butz Mayer. Ausgerechnet jetzt.
»Kann es sein, dass ich dich immer auf dem falschen Fuß erwische?«, ulkte er.
Doch Julia Durant war nicht in der Stimmung für Scherze. Mit dem Telefon am Ohr war sie längst auf dem Weg in Richtung Treppenhaus. Boots berichtete von einem Foto von ihr, das man in der Reisetasche gefunden habe. Eingenäht, gerade so diskret, dass man nicht beim ersten Blick darauf stieß, es aber trotzdem finden konnte. Boots versprach, ihr das Bild zu mailen.
Eine weitere Botschaft?
Julias Kopf war nur leider gerade überhaupt nicht empfänglich, um sich damit auseinanderzusetzen.
Im Laufschritt erreichte die Kommissarin ihr Zuhause. Ausgerechnet heute hatte sie den Roadster stehen lassen und sich zu Fuß zum Präsidium begeben. Fitness, dachte sie bitter, während sie zwei Stufen auf einmal nahm, bekam sie nun also mehr als gewollt. Wenigstens trug sie bequeme Schuhe.
Was, wenn Claus sich ein Mittagsschläfchen gönnte?
Was, wenn er sein Handy schlicht vergessen hatte und auf dem Weg zu Berger irgendwo falsch abgebogen war?
Hochgräbe war längst noch nicht so firm, wenn es darum ging, sich in der Stadt zu orientieren. Andererseits war er auch nicht so hilflos, wie sie in diesem Moment dachte.
»Nein!«, sagte Durant laut, während sie die Wohnungstür entriegelte. Er hätte sich längst bei ihr melden müssen. Gerade jetzt, wo sich alle in höchster Alarmbereitschaft befanden.
Noch während die Tür nach innen aufschwang, bereute sie es, keine Verstärkung mitgenommen zu haben.
Durant hielt in letzter Sekunde inne, um nicht dem Reflex nachzugeben, die Tür mit der Ferse zuzukicken. Stattdessen tastete sie nach ihrer Dienstwaffe, die sie in den letzten Tagen durchgehend bei sich trug. Mit der Pistole im Anschlag trat sie aus dem Flur ins Wohnzimmer und fragte sich, wie ihr Liebster wohl reagieren würde, wenn er in dieser Sekunde splitterfasernackt aus dem Bad treten würde.
Wie war das noch gleich mit den kotzenden Pferden?, dachte sie, während sie den Raum scannte. Doch weder hier noch in den anderen Zimmern gab es irgendeinen Hinweis auf Claus Hochgräbe.
Allerdings auch kein Handy. Mit der wieder gesicherten Waffe im Holster schritt die Kommissarin sämtliche Räume erneut ab. Küchentheke, Couchtisch, Matratze. Nirgendwo befand sich das Mobiltelefon.
Sie zog ihr eigenes hervor und trat auf den Teppich, um möglichst wenig Nebengeräusche zu produzieren. Dann wählte sie ihn an. Erst einmal, es verstrichen ein halbes Dutzend blecherne Freizeichen, dann noch einmal. Dieses Mal hielt Durant den Daumen auf den Lautsprecher, um das Tuten abzudecken. Angestrengt lauschte sie, ob nicht doch irgendwo ein Läuten zu hören war.
Fehlanzeige.
»Er ist nicht hier!«, berichtete sie Michael Schreck, der sich daraufhin noch einmal die Positionsbestimmung vornahm.
»Der Sendemast ist noch immer derselbe«, erklärte er nach wenigen Augenblicken, »und auch die Position ist unverändert.«
»Aber ich stehe doch mitten in der Wohnung!«, rief Durant in einem Anflug von Verzweiflung. »Er wird ja wohl kaum aufs Dach geklettert sein.«
»Diese Ortungen haben einen gewissen Spielraum, aber das weißt du ja.«
»Und?«
»Vielleicht ist es ihm aus der Tasche gefallen? Vielleicht liegt es irgendwo drunter … «
»Das ist mir keine große Hilfe«, murrte Durant und unterbrach die Verbindung.
Auf Knien rutschte sie um Bett und Sofa herum. Öffnete sogar den Klodeckel, auch wenn es ihr höchst unwahrscheinlich schien, dass das Gerät unter Wasser noch funktionieren würde.
Anschließend untersuchte sie die Schuhe und Jacken an der Garderobe. Erfolglos. Kurz darauf befand sich die Kommissarin wieder vor dem Haus. Noch immer ohne Fund.
Sie hatte in ihrer Verzweiflung sogar den Briefkasten aufgeschlossen und bei Frau Holdschick – vergeblich – geläutet. Beides Optionen, die höchst unwahrscheinlich waren.
Auch draußen gab es nichts weiter zu sehen. Das Haus verfügte über keine Grünfläche, und sowohl das Abtretgitter vor der Tür als auch die beiden Topfpflanzen waren schnell durchsucht.
Ratlos wollte Durant in Richtung Park aufbrechen, an dessen Rand ihr Auto parkte. Doch dann fiel ihr etwas ein. Hatte er nicht erwähnt, dass er das Fahrrad nehmen wollte? Der Keller!
Durant sprintete zurück und nahm sich den Weg zum Treppenabgang vor. Ausgetretene Stufen führten steil hinab in ein modriges Loch, das so gar nicht zu dem ansonsten so gepflegten Haus passte. Und sie wusste nur zu gut, wie sehr sich Claus stets abmühte, das schwere Vehikel hinauf und hinunter zu bugsieren.
»Training«, sagte er immer. Stets der Optimist mit dem sonnigen Gemüt.
Wo zum Teufel steckst du?
Weitere Minuten verstrichen, und außer einer staubigen Hose brachte die Suche keine Ergebnis. Auch das Fahrrad lehnte an der Wand, wo es hingehörte. Niemand benutzte den Keller, also stellte Claus es häufig direkt am unteren Ende der Treppe ab. Nur anlehnen, dachte die Kommissarin, davon hielt er nichts. Feuchte Wände und der teure Lederlenker … aber sie dachte nicht weiter darüber nach.
Wenn das E-Bike hier stand, war ihr Gedanke mit dem Auto nicht verkehrt gewesen. Doch dann musste Durant an Schrecks letzte Aussage denken. Eine kleine Ungenauigkeit war normal. Aber bis zum Parkplatz war es ein halber Häuserblock. Selbst wenn ihm das Telefon auf dem Weg dorthin verloren gegangen war … konnte das wirklich sein?
Julia Durant schloss die Kellertür ab und wählte erneut die Nummer der IT .
Mike Schreck meldete sich sofort, allerdings klang er ein wenig frostig. »Na, bin ich doch nicht so nutzlos wie angenommen?«
»Sorry, Mike, ich hab’s nicht so gemeint.«
»Ist schon okay. Kein Treffer, vermute ich.«
»Leider richtig.«
»Das verstehe ich nicht. Das Signal bewegt sich keinen Millimeter.«
Zehn Minuten später bog der silberne 911er um die Ecke. Julia hatte mittlerweile sogar die Mülleimer des Nachbargrundstücks begutachtet; ergebnislos. Da sie wusste, dass Claus’ Mobiltelefon entweder lautstark schellte oder keinen Piep von sich gab (er benutzte praktisch nie den Vibrationsalarm), hatte sie nach einem weiteren Anruf auf dem Apparat zwischen klebrigem Altpapier herumwühlen müssen. Auch wenn sie selbst nicht daran glauben wollte, dass sich das Telefon ausgerechnet hier befand. Wer sollte es hineingeworfen haben? Kinder? Würden Kinder das tun?
Erleichtert, nicht mehr alleine zu sein, trat die Kommissarin auf die Straße.
»Ich such mir noch schnell einen Parkplatz.« Hellmer hatte das Beifahrerfenster herabgelassen, damit Durant den Kopf in den Wagen stecken konnte.
»Puh. Wie riecht es denn hier?«
»Ich hatte die Wahl zwischen Reinigungsmittelgestank oder gammelnden Kirschen. Ich habe mich für Ersteres entschieden.«
»Sorry, nicht dran gedacht«, brummte sie.
»Noch immer kein Erfolg bei der Suche, hm?«
Durant verneinte.
»Na, ich helf dir gleich. Kann ja nicht sein. Lass mich nur das Auto abstellen.«
Der Motor dröhnte auf, als Hellmer dem Porsche die Sporen gab.
Julia Durant blickte die Straße hinab. Viel Glück, dachte sie. Um diese Zeit findet er nie einen Parkplatz. Tatsächlich sah sie Hellmer um die Ecke biegen, wartete einen Moment, um ihn schließlich ein weiteres Mal in die Straße einfahren zu sehen. Nun quetschte er den Wagen in eine schmale Lücke, so eng, dass das Heck ein ganzes Stück auf die Straße ragte.
»Höhere Gewalt.« Er stieg aus und umarmte Julia lange und innig. Danach fingerte er eine Zigarette aus der Schachtel und verharrte unschlüssig, bevor er seiner Kollegin einen fragenden Blick schenkte. »Du auch, oder?«
Durant griff sich eine und wartete, bis er beide entflammte. Sie nahm einen tiefen Zug, hustete und wedelte sich den Rauch aus dem Gesicht.
»Du solltest das besser wieder lassen.«
»Mag sein. Aber nicht jetzt.«
»In Ordnung. Wie kann ich dir helfen?«
Julia Durant erklärte, wo sie schon überall gesucht hatte. Dass das Telefon hier sei, genau hier . Selbst mit einer Ungenauigkeit von zehn oder zwanzig Metern gab es nicht mehr viele Möglichkeiten. Und keine davon erschien auch nur im Geringsten plausibel.
»Was ist mit dem Speicher oder dieser alten Frau unter euch?«
»Es gibt keinen Dachboden, nur so eine Kriechkonstruktion. Da waren wir noch nie. Und bei Frau Holdschick macht keiner auf.«
»Was nichts bedeuten muss.«
»Doch«, antwortete die Kommissarin spitz. »Denn sie ist steinalt, fast taub und blind und bettlägerig. Dass sie nicht aufmachen kann, ist also völlig normal.«
»Okay, eins zu null für dich«, verteidigte sich Hellmer, die Hände vor sich gehoben. »Dann bleibt eigentlich nur noch der Gully. Oder wir müssen Platzeck anfordern, damit er eure Wohnung auseinandernimmt.«
»Das kann er gerne tun. Doch ich habe selbst schon unter die Möbel geleuchtet. Sogar im Kühlschrank und im Klo habe ich nachgesehen. Und im Gegensatz zu mir verlegt Claus sein Handy nie.«
Ein Hupen ließ die beiden aufschrecken.
»Hee!« Ein gelber Kastenwagen mit dem Logo der Post stand plötzlich neben ihnen. Der Fahrer hatte die Fenster geöffnet und deutete in Richtung Porsche. »Sind Sie das?«
»Ja. Warum?«
»Das fragen Sie noch?«
»Der kommt ja wohl noch durch!«, rief Hellmer und breitete demonstrativ die Arme aus.
»Ich riskiere doch keinen Lackschaden! Hinterher hetzen Sie mir Ihre Anwälte auf den Pelz. Außerdem muss ich genau dorthin. Würden Sie also bitte …«
Frank Hellmer hatte längst seinen Dienstausweis aus der Tasche gezogen. »Ich bin beruflich hier.«
»Schön für Sie. Ich auch.«
Julia stieß Frank sanft in die Seite. »Fahr doch einfach noch mal um den Block«, raunte sie ihm zu.
Widerwillig stieg der Kommissar ein und rangierte aus der Lücke. Während er um die Ecke verschwand, beobachtete Durant den Postboten, wie er sich am Briefkasten zu schaffen machte. Dann drehte sie sich um, in der Erwartung, dass Hellmer jede Sekunde wieder in ihr Blickfeld einbiegen musste. Doch auch als der Postwagen sich in Bewegung setzte, war von ihm weder etwas zu hören noch zu sehen.
»So ein Scheißdreck, diese Parkerei hier«, schnaufte er, als er um die entgegengesetzte Ecke des Häuserblocks gebogen kam und in Hörweite war.
»Was glaubst du, weshalb ich so oft zu Fuß zur Arbeit komme. Wenn man mal einen Platz gefunden hat, gibt man ihn nicht gerne her.«
Wieder lief sie im Kopf den Weg vom Präsidium hierher ab. Sie konnte sich nicht daran erinnern, den Opel auf seinem Parkplatz stehen gesehen zu haben. Doch andersherum gedacht: Nahm sie ihr Auto tatsächlich jeden Tag bewusst wahr? Galt da nicht dasselbe wie für alle anderen Gegenstände, die sich immer wieder am selben Ort befanden und an die man sich einfach derart gewöhnt hatte, dass man sie schlicht übersah? Immerhin war sie heute abgelenkt und in Eile gewesen. Ja, das musste es sein. Bevor sie weiter darüber nachsinnen konnte, meldete sich Durants Telefon.
Mike Schreck aus der IT .
»Hast du es, ja?«, wollte er wissen, er klang erregt.
»Was meinst du?«
»Na, was wohl? Das Handy, nach dem wir die ganze Zeit suchen!« Diesmal klang die Stimme empört.
Julia schenkte Hellmer einen hilflosen Blick, deutete auf das Telefon und formte Schrecks Namen mit den Lippen.
»Wir haben gar nichts. Wie kommst du darauf?«
»Weil sich das Gerät soeben in Bewegung gesetzt hat. Komm schon, Julia, verkauf mich jetzt bitte nicht für …«
»Es hat was?«, schrie die Kommissarin.
»Scheiße. Du hast es wirklich nicht gefunden, oder? Es bewegt sich – da! – jetzt schon wieder.«
Schreck nannte den Straßennamen. Dort war Frank mit dem Porsche abgebogen.
»Warte mal bitte – Frank ist hier.« Julia Durant schaltete den Lautsprecher ein. »Mike meint, dass das Handy sich von uns wegbewegt.«
»Ja, und das tut es noch immer. Jetzt biegt es wieder um die Ecke. Die Parallelstraße zu eurer.«
»Das kann doch nicht sein«, keuchte der Kommissar.
»Wo parkst du?«, wollte Durant wissen.
»Genau dort. Komm!« Hellmer schnappte sie am Arm. »Wenn wir so herum laufen, müssten wir deinem Telefon direkt begegnen.«
»Grüßt es schön von mir«, erklang es lakonisch aus dem Lautsprecher. »Und bedankt euch recht herzlich für die verlorene Zeit!«
»Nichts da, du bleibst dran«, stieß Durant hervor, die längst in einen Laufschritt verfallen war. Hellmer war ihr zwei Schrittlängen voraus. Als sie die Einmündung erreichten und er abrupt stehen blieb, wäre sie ihm um ein Haar ins Kreuz gelaufen.
»Hoppla! Was ist jetzt?«
Frank trat ein Stück zur Seite und deutete nach links. »Ich will nicht schon wieder mit diesem netten Postboten kollidieren.«
»Noch dreißig Meter. Höchstens«, ließ Schreck verlauten.
Und dann wurde Julia Durant vom Blitz der Erkenntnis getroffen.
Bevor Frank Hellmer sie stoppen konnte, sprang sie auf die Straße und baute sich vor dem abbremsend an die Kreuzung rollenden Kastenwagen auf.
»Sie schon wieder!«, rief es nach einem wütenden Hupen.
Durant trat an das Fahrerfenster. »Ja. Wir schon wieder. Die Kriminalpolizei. Was haben Sie eben gemacht? Den Briefkasten geleert?«
»Natürlich, was denn sonst? Und ich habe auch noch ein paar davon vor mir. Wenn ich also …«
»Wir müssen den Inhalt untersuchen!«
Entgeistert sah der junge Mann sie an. Er war hager, trug ein halbes Dutzend Piercings im Gesicht, vier davon in den Augenbrauen und zwei in der Lippe, und die Kommissarin war sich sicher, dass er zu Zeiten der alten Bundespost sicher kein Beamter geworden wäre. Das Postgeheimnis indes war ihm durchaus geläufig. Es brauchte ein Weilchen, bis Durant und Hellmer ihn davon überzeugt hatten, dass sich wichtiges Beweismaterial unter den Briefen befinden könne. Dass sie auch die Spurensicherung verständigen und den Wagen beschlagnahmen könnten, wenn es darauf ankäme, womit sicher keinem geholfen sei. Schlussendlich gab der Mann mit dem Bürstenhaarschnitt nach, fuhr den Wagen von der Kreuzung und öffnete den Laderaum. Er stieg hinein und zog eine Kiste hervor. Darin befänden sich sämtliche Sendungen aus besagtem Briefkasten.
»Woher wissen Sie das so genau?«, hakte Hellmer nach. »Sieht doch alles gleich aus.«
»Für Sie vielleicht. Aber für mich nicht. – Müssen Sie die Post denn auch öffnen?«
»Nein, jedenfalls nicht willkürlich. Keine Sorge, wir gehen so behutsam wie möglich vor.«
Argwöhnisch beäugte der Postangestellte jeden Handgriff der beiden.
Zuerst bat Julia Durant um Stille. Dann nahm sie ihr Telefon zur Hand, auf dem sie das Gespräch mit Schreck mittlerweile abgewürgt hatte. Sie würde ihm alles in Ruhe erklären, hatte sie versprochen. Zum x-ten Mal rief sie Claus’ Nummer an. Das Freizeichen tutete, aber es klingelte nirgendwo, und auch eine Vibration war nicht zu vernehmen. Stattdessen donnerte ein Lieferwagen mit rumpelnder Ladung vorbei.
»Mann! Immer dann, wenn man’s nicht gebrauchen kann«, schimpfte Hellmer und ließ die geballte Faust durch die Luft sausen.
»Scht!«, zischte Durant. Da war doch etwas!
Sie trat noch näher an den Poststapel, und auch Hellmer näherte sich mit angestrengter Miene. Durant formte eine Muschel ans rechte Ohr – und tatsächlich: Gedämpft und wie aus weiter Ferne waren künstliche Glockenklänge zu hören, einer der simpelsten und unaufdringlichsten Standardtöne, die Hochgräbes iPhone zu bieten hatte.
»Das ist es!«, rief sie, drückte Hellmer ihr Telefon in die Hand und wies ihn an, den Ruf noch einmal zu wiederholen und einige Schritte nach hinten zu gehen.
»Ein Handy im Briefumschlag?«, wunderte sich der Postler und kräuselte die Stirn. »Das sollte man aber nicht riskieren.«
»Bitte absolute Stille«, forderte die Kommissarin, die sich nun auf die Ladefläche gekniet hatte und mit beiden Unterarmen in der Kiste steckte. Das Klingeln wurde lauter. Und nachdem sie einen ganzen Stapel dünner Briefumschläge beiseitegeschaufelt hatte, hielt sie einen A5-großen Polsterumschlag in den Händen. Das synthetische Glockenspiel verstummte in dieser Sekunde, doch es stammte eindeutig von dieser Quelle.
Ohne sich auch nur eine Sekunde um eventuelle Spuren zu kümmern, riss sie das Kuvert auf und brachte den Inhalt zum Vorschein. Das Display schimmerte noch. Es verzeichnete eine Menge verpasster Anrufe. Durant wühlte, dann legte sie den Umschlag beiseite. Keine Notiz, kein Brief, keine Karte. Nur das Telefon und eine Tonbandkassette. Sie trug einen Aufkleber, der zwei Kirschen zeigte. Doppelkirschen, wie sie sie und die anderen Mädchen sich an die Ohren gehängt hatten, lange bevor sie ihre ersten richtigen Ohrringe bekamen.
In einer Zeit, in der es nichts als das unbeschwerte Leben für sie gegeben hatte.
All das war lange vorbei.
»Er ist an dich adressiert«, stellte Hellmer fest. »Keine Frankierung, kein Absender, aber es ist dein Name und die Adresse des Präsidiums angegeben.«
Er hielt den Umschlag hoch, sodass Durant es sehen konnte. Dicke, schwarze Druckbuchstaben, vermutlich mit einem Edding aufgebracht.
»Was machen Sie mit Briefen, die weder Porto noch Absenderadresse tragen?«, wandte Durant sich an den Postboten.
»Normalerweise zahlt der Empfänger dann nach. Schwierig wird es, wenn der Empfänger sich weigert. Dann müssen wir Sendungen im Notfall öffnen, um auf den Absender schließen zu können. Der Brief käme dann retour. In diesem Fall allerdings hätten wir es Ihnen vermutlich auch so zugestellt.« Er grinste schief. »Keiner verscherzt es sich gerne mit der Polizei.«
»Vielleicht hätte ich mir vorhin das Blaulicht auf den Porsche heften sollen«, entgegnete Hellmer spitz, aber mit einem Augenzwinkern.
»Darf ich meine Tour denn jetzt fortsetzen?«
Die beiden Kommissare wechselten einen Blick, bedankten sich bei dem Mann, notierten noch rasch seine Personalien und ließen ihn ziehen.
Frank Hellmer spurtete zu seinem Porsche. Sehr verwundert darüber, weshalb Julia Durant es vorzog, den Fußweg zu nehmen. Doch wie so oft hatte sie nichts erklärt, sondern ihn dahingehend abgespeist, dass die Zeit dränge.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren.« Ihre Stimme war zittrig, aber gefasst. »Warte an der Kreuzung Holzhausenstraße und Eschersheimer Landstraße. Da, wo der Glaskasten zur U-Bahn runterführt.« Sie meinte den Aufzug, der neben dem Treppenaufgang errichtet worden war. »Ich muss noch etwas überprüfen, und ich bete zu Gott, dass ich mich irre.«
Hellmer brauchte vier Minuten, bis er den Wagen auf das neue Gehwegpflaster bugsierte. Er passte gerade so zwischen den Aufzug und den ersten Baum und zog prompt einen wütenden Kommentar von zwei Radfahrern auf sich, der an ihm abperlte.
»Die mit ihren dicken 911ern!«
»Kleiner Penis, dicke Karre.«
Er würde den Porsche früher oder später verkaufen. Im Grunde wollte er das schon seit Jahren, aber irgendwie hatte ihn immer wieder etwas daran gehindert.
Kaum zwei Minuten verstrichen, da wurde auch schon die Beifahrertür aufgerissen, und Julia fiel auf den Sitz.
»Fahr los«, keuchte sie nur und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Waren da Tränen in ihren Augen?
Hellmer sah sich um, rollte auf die Straße und beschleunigte. Der Ruck ging ihnen beiden durch und durch.
»Kannst du mir jetzt mal sagen, was du noch prüfen wolltest?«, fragte er.
»Der Opel. Er ist weg«, antwortete Durant.
»Weg? Im Sinne von …«
»Weg. Punkt. Ich stelle ihn immer irgendwo am Rand des Parks ab. Auf dem Hinweg habe ich nicht darauf geachtet, weil ich so in Eile war und ständig an Claus und das Handy denken musste. Aber jetzt habe ich Gewissheit. Er steht nicht mehr an seinem Patz.«
»Also ist Claus damit unterwegs?«
»Kann ja nur so sein! Jeder von uns hat einen Schlüssel, wobei er ihn praktisch nie benutzt. Das bedeutet also, Claus ist in seiner Gewalt – und sie könnten mittlerweile sonst wo sein!« Sie wimmerte beinahe, als sie weitersprach: »Frank, ich habe eine Heidenangst. Bitte hilf mir.«
Soeben querten sie die Kreuzung, wo die Miquelallee in die Adickesallee überging. Das Präsidium baute sich rechts vor ihnen auf.
»Was sollen wir tun?«, fragte Hellmer unsicher, denn ihm fehlte jede Idee. Das iPhone und die Kassette lagen bei ihm im Auto. Die Wohnung war leer, im Präsidium war Hochgräbe auch nicht. Im Umkehrschluss hieß das, dass er überall sein konnte. Nur war das leider nichts, was sie in irgendeiner Form weiterbrachte.
»Wir hören uns zuerst das Band an«, antwortete die Kommissarin leise.
Doch in ihrer Stimme lag kaum mehr Hoffnung.
Zufrieden betrachtete er sein Werk. Er hatte dieses idyllische Plätzchen beinahe zufällig entdeckt, auf einer seiner ausgedehnten Touren ins Frankfurter Umland. Trotz des schönen Wetters war außer ein paar Gassigängern und einer Joggerin, die ihm zweimal gefährlich nahe gekommen war, kaum jemand unterwegs. Natürlich, es war ein normaler Werktag, und der Feierabend ließ noch ein wenig auf sich warten. Aber bald würde sich das ändern. Ein, zwei Stunden, und die Menschen würden aus ihren Hamsterrädern ausbrechen, jedenfalls bildeten sie sich das ein, und womöglich würde es dann auch hier draußen lebendiger werden.
»Soll es nur«, grinste er, als er die Tore des Schrottplatzes passierte, wo in dieser Sekunde ein metallisches Kreischen und Knacken darauf schließen ließ, dass einem Pkw von der Hydraulikpresse der Garaus gemacht wurde.
Einige Hundert Meter weiter erreichte er den Bahnhof und nahm die Regionalbahn in Richtung Friedberg, von wo aus er zurück nach Frankfurt reiste.
Während er die sanften Erhebungen der Wetterau durchquerte, deren Felder und Waldstücke sich links und rechts bis in weite Ferne erstreckten, fühlte er zum ersten Mal seit langer Zeit eine Art innere Ruhe, die einer sonderbaren Befriedigung glich.
Der letzte Akt seines diabolischen Spiels konnte beginnen.
Er hatte bereits begonnen.
Das Band leierte. Michael Schreck hatte die Vermutung geäußert, dass es mit einem Batteriegerät aufgenommen worden war. Für seinen Geschmack klang die Stimme außerdem etwas zu hell, was dadurch zustande gekommen sein mochte, dass sich der Antrieb in dem Kassettenrekorder verlangsamte.
Eines allerdings stand völlig außer Frage: Die Stimme, die dort ins Mikro krächzte, gehörte niemand anderem als Stephan!
»Chérie, jetzt ist es endlich so weit.
Wenn du diese Nachricht erhältst, neigt sich unser Spiel dem Ende zu. Du hast einen Teil deiner Schulden beglichen, aber noch nicht alle. Ich habe es genossen, dich dabei zu beobachten, wie dein Leben in Splitter zu zerfallen begann. Wie eine Porzellanvase, die man mit dem Hammer bearbeitet. Zuerst habe ich sie umgestoßen, und sie bekam einen Riss. Dann habe ich sie in zwei Teile zerschlagen und damit begonnen, die Scherben zu zertrümmern. Immer kleiner, immer mehr. So, dass am Ende nichts mehr übrig bleibt, was man mit Kleber wieder zu einer Vase richten kann.
Doch ich werde erst dann fertig sein, wenn nichts als feiner Sand mehr übrig ist. Wenn sich dieser Sand, nicht mehr wissend, ob er einmal eine Vase oder ein Teller war, nur noch danach sehnt, in der Unendlichkeit zu verschwinden. Im Dunkel, im Nichts, aus dem er einst gekommen ist.
Dann, liebe Julia, wird deine Rechnung beglichen sein.«
»Jetzt ist es also amtlich«, hauchte sie. »Diese Bestie hat Claus!«
Und es brauchte keine Textanalyse von Josef Hallmann, um zu verstehen, was als Nächstes geschehen würde.
Er würde – und bei dem Gedanken daran, dass das längst passiert sein konnte, ergriff sie die nackte Panik – zuerst Claus Hochgräbe töten und dann, am Ende, sie selbst.
Beim erneuten Gedanken an Hallmann durchzuckte Durant ein Schauer. Neben ihren unzähligen Anrufen auf dem Gerät war auch ein erfolgloser Versuch von seiner Nummer gelistet gewesen, wie sie sich erinnerte. Vielleicht war es ja wichtig, auch wenn sie dem Mann nun erst recht kein Vertrauen mehr entgegenbringen konnte. Sie griff Hochgräbes iPhone und entsperrte es mit dem vierstelligen Code, den er im Andenken an ihren Kennenlerntag gewählt hatte. Nach kurzem Scrollen in der Kontaktliste fand sie den entsprechenden Eintrag, wählte ihn an und drückte auf Anrufen.
»Hallo?«, fragte es lang gezogen. Im Hintergrund rauschte es. Es erinnerte Durant an etwas, aber ihr Denken war viel zu blockiert, um es zuzuordnen.
»Julia Durant hier.«
»Oh.« Pause. »Schön, Sie zu hören. Wo ist Claus?«
»Das wüsste ich auch gerne.«
»Ist er denn nicht bei Ihnen?«
»Nur sein Telefon.«
»Seltsam.«
»Warum?«
»Ach … Er wollte sich melden. Aber irgendwie scheint er es vergessen zu haben.«
»Weshalb wollte er sich denn melden?«
»Das w… ich leid… auch …« Störgeräusche hackten die Worte ab.
»Sorry. Ich verstehe Sie kaum.«
»Schlechter Empfang.«
Dann fiel es der Kommissarin wie Schuppen von den Augen. »Sind Sie in der Bahn?«
»Ja! Warten Sie. Jetzt wird’s gl… besser.«
Julia Durant war sich nicht sicher, ob sie ihm gegenüber das neu aufgetauchte Tonband erwähnen sollte. Hochgräbe vertraute ihm, das hatte er mehrfach betont. Aber wusste er auch über die jüngsten Umstände Bescheid, die zur Ächtung Hallmanns geführt hatten? Sie hatte noch keine Gelegenheit gefunden, um mit ihrem Liebsten darüber zu sprechen. Vielleicht dachte er danach ja anders über seinen alten Freund?
»Claus ist verschwunden.« Das würde er ohnehin herausfinden. »Sind Sie auf dem Weg hierher?«
»So in etwa. Soll ich?«
»Ich bin mir nicht sicher. Wissen Sie etwas, was mit Claus’ Verschwinden zu tun haben könnte?«
Hallmann lachte heiser, was zu einem Hustenanfall führte. »Verzeihung. Aber das klang gerade so, als wäre ich ein Verdächtiger.«
»Wie auch immer. Vielleicht sollten Sie besser ins Präsidium kommen. Es gibt Neues von unserem Killer.«
Sollte er es doch wissen. Was änderte das schon? Julia Durant hatte keine Kraft mehr für Spielchen. Hier, im Polizeipräsidium, war Josef Hallmann am besten aufgehoben, so oder so. Und falls er doch etwas Sinnvolles beitragen konnte – oder wollte …
Verzweifelt vergrub sie den Kopf zwischen den Händen, als sie das Gespräch beendet hatte. Irgendwann spürte sie eine Hand auf der Schulter. Frank Hellmer. Dann die zweite, auf der anderen Seite. Er suchte, hörbar verzweifelt, nach hilfreichen Floskeln, doch sie wussten beide, dass es keine gab.
Wo war Claus?
Wo war der knallrote Roadster, den man doch praktisch nirgendwo übersehen konnte?
Als Julia Durant nach oben schnellte, taumelte ihr Kollege erschrocken zurück.
»Holla! Was ist los?«
»Mike!«, keuchte die Kommissarin. »Mir fällt da gerade etwas ein.«
Dann, an Hellmer gewandt: »Frank! Wir brauchen vielleicht den Porsche. Hast du wirklich noch das Blaulicht drinnen rumliegen?«
Die beiden Männer wechselten irritierte Blicke und schenkten ihr die volle Aufmerksamkeit, als sie von ihrer Autoversicherung erzählte und von jenem nervigen Gerät, welches irgendwelche Telemetrie übermitteln konnte, um Beiträge zu sparen.
»Jedenfalls habe ich einen solchen Tracker«, endete sie gehetzt und hatte längst Claus’ iPhone wieder in der Hand, »und auf unseren Handys ist die zugehörige App.«
Schreck hatte es längst kapiert, während Hellmer noch ein Fragezeichen im Gesicht trug.
»Und du kannst damit eventuell den Standort des Wagens orten«, beendete der ITler Durants Schilderungen. »Glückwunsch! Um welchen Sensor handelt es sich denn?«
»Das weiß ich doch nicht«, erwiderte Durant. Statt weiterer Worte streckte sie ihm das Telefon entgegen, wo sich das entsprechende Symbol befand.
»Ganz oben links.«
Schreck tippte darauf. »Glück im Unglück«, murmelte er. »Manche Sensoren orten dich nämlich nur, wenn das Handy gekoppelt ist. Aber ihr habt da einen …«
»Bitte. Erspar uns die Details«, unterbrach ihn Durant. »Können wir den Wagen orten oder nicht?«
Schreck lächelte noch immer. Es war keine Zufriedenheit, kein Hohn, sondern einer dieser Ausdrücke von Zuversicht, die einen Funken Hoffnung in Julia entzündeten. Er tippte und wischte ein wenig, dann hielt er ihr das Gerät hin.
»Eine Reise in die schöne Wetterau gefällig?«
Wie gut, dass Frank Hellmer seine PS -Schleuder unmittelbar hatte reinigen lassen. Jedes Mehr an Leistung, jeder Stundenkilometer nahm Julia Durant ein wenig Druck von der Brust. Auch wenn ihr das Atmen trotzdem schwerfiel.
»Hast du deine Waffe dabei?«, war ihre erste Frage gewesen, während sie sich anschnallte und dabei das Schulterholster unter ihrer Jacke zurechtrückte.
Hellmer hatte den Kopf stumm in Richtung Handschuhfach bewegt, während er den Motor startete. Dort lagerte er sie gern, wie Durant wusste, denn der Anschnallgurt und das Schulterholster waren eine äußert unbequeme Kombination. Dann hatte die Beschleunigung ihre Oberkörper auch schon in das dunkle Leder der Sitze gedrückt, und sämtliche störenden Gedanken verflogen.
Hochgräbes iPhone vor sich gerichtet, zoomte Durant den Kartenausschnitt hin und her.
»Da ist nichts«, sagte sie bereits zum dritten Mal. »Was soll diese Scheiße?«
Hellmer hatte soeben die Eschersheimer Landstraße verlassen, um scharf nach rechts in die Hügelstraße abzubiegen. Schon näherte sich die nächste große Ampelkreuzung, rechter Hand kam das Gelände der Waldorfschule mitsamt seinem Gebäudekomplex in der typischen Bauweise in Sicht. Anstatt auf dem Dach blitzten achtundvierzig Power-LEDs in grellem Polizeiblau auf einer Art Tablett, das der Kommissar mit Klettband hinter der heruntergeklappten Sonnenblende befestigt hatte. Das neueste Spielzeug aus dem Fundus an Polizeibedarf. Außer zur Probe hatte er es noch nie benutzt.
»Siehst du, wie sie auseinanderfliegen?«, stellte er zufrieden fest, als er in einem waghalsigen Tempo auf die Kreuzung zupreschte.
»Sieh mal lieber zu, dass wir nicht selbst von der Fahrbahn fliegen«, murrte Durant, mit der freien Hand nach Halt hangelnd. Die Kurve kam unaufhaltsam näher, Hellmer tippte ruckartig auf die Bremse und rollte anschließend mit zuckelnden Lenkbewegungen auf die Doppelspur Richtung Norden. Irgendwo hupte es, und ein Lichtreflex flammte auf. Julia Durant dachte an das Blaulicht. Von hinten war es dem Porsche aber nicht anzusehen, dass er in diesem Augenblick als ziviles Einsatzfahrzeug diente.
Doch mit solchen Gedanken hielt sie sich nicht weiter auf. Hauptsache, man machte die Fahrbahn vor ihnen frei.
Der nächste Aussetzer ihres beschleunigten Herzrhythmus kam prompt. Anstelle unter der A661 hindurchzufahren und die Auffahrt Eckenheim Richtung Westen zu nehmen, drückte Hellmer den 911er auf die Rechtsabbiegerspur. Der Wagen schoss bergan, und Julia schimpfte: »Mensch, Frank! Wo fährst du denn hin?«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich mich um diese Zeit auf die A5 begebe.« Er riss die Augen auf. »Ich sag nur Feierabendverkehr und Rettungsgasse.«
»Und wo willst du stattdessen langfahren?«
»Die neue B3, wenn’s genehm ist.«
Julia Durant betete, dass ihr Partner sich damit nicht auf dem Holzweg befand.
Wieder blickte sie auf das Smartphone. Der Bildschirm hatte sich verdunkelt.
»Was will er dort? Das ist doch nichts«, wiederholte sie nach einer Weile des angespannten Schweigens. Und tatsächlich wusste die Karten-App nichts weiter dazu beizutragen, als dass der Punkt der letzten Position ihres Wagens auf einem Feldweg lag. Mitten im Nirgendwo, unweit einer Kreuzung. Und auch beim Darauftippen verriet die rote Stecknadel nicht viel mehr als die Postleitzahl und den Ort.
61203 Reichelsheim (Wetterau)
Reichelsheim.
Julia Durant zermarterte sich das Gehirn. Da war etwas. Doch es lag im Nebel längst vergangener Tage, zumindest so lange, bis sie den Kartenausschnitt wieder verkleinerte. Dann fiel ihr etwas ein, und auch wenn alles in ihr sich dagegen wehrte, huschte ein Grinsen über ihre Mundwinkel. Reichelsheim in der Wetterau! Der kleine Flugplatz inmitten von Feldern und Auen, an dem sie sich vor vielen Jahren einmal als reiche Gräfin ausgegeben hatte.
»Gräfin Sophie Mathilde Durant«, sagte sie leise, während das Lächeln wieder verschwand.
»Wie bitte?«
»Ich denke an früher. An eine Beerdigung, auf der eine Menge hoher Tiere anwesend waren.«
»Ich verstehe überhaupt nichts.«
»Ist egal. Ewig her. Aber ich war schon mal in dieser Gegend.« Julia suchte den Flugplatz und den Friedhof, zunächst erfolglos, denn sie wusste nicht, wie man auf eine detailliertere Ansicht umschaltete. Die Straßenkarte zeigte nur ein Spinnennetz unzähliger Wege. »Meinst du, ich soll deshalb hierhergelotst werden?«, sagte sie irgendwann. »Wieder eine Verbindung zu früher, so wie bei Laura Schrieber und Tanja Wegner?« Sie schauderte bei dem Gedanken, was das für Hochgräbe bedeuten könnte.
»Beruhige dich erst mal«, reagierte Hellmer etwas unbeholfen. »Vorläufig suchen wir nur dein Auto, sonst nichts. Spekulationen bringen uns nicht weiter.«
»Das sagst du so einfach.«
Die Bundesstraße war brandneu, wie es schien. Hellmers Entscheidung war die richtige gewesen. Während die Staumeldungen der A5 aus dem Radio kamen, rasten die Äcker und immer kleiner werdende Dörfer an ihnen vorbei. Alle paar Minuten prüfte die Kommissarin die Karten-App. Sie näherten sich der Position. Und der Opel stand still.
Als sie das Ortsschild Assenheim passierten, stöhnte sie auf.
»Assenheim, Ossenheim, Dorn-Assenheim … hier heißt ja alles gleich!«
Nicht, dass Julia Durant sich beschweren durfte. Als Kind eines kleinen Dorfes in Oberbayern kannte sie die eintönig wirkende Namensgebung im ländlichen Raum, in ihrer Heimat war es die immer wiederkehrende Schlusssilbe -ing.
»Und sieht auch alles gleich aus«, keuchte Hellmer mit zusammengekniffenen Augen, als sie durch eine enge Bahnunterführung schnellten und einen Getränkelaster auf der Gegenfahrbahn zum scharfen Bremsen zwangen.
Die Gegend war hügelig geworden, hier und da ein paar bewaldete Kuppen, in weiter Ferne kam die Kuppe des Hoherodskopfs mit seinem unübersehbaren Funkturm in Sicht. Der Porsche ließ ein Pferdegestüt links liegen, während sich kurz darauf in einer Senke auf der anderen Seite ein kleines Dorf abzeichnete.
Dann breitete sich das ebene Becken der Wetterau vor ihnen aus. Felder, wohin man sah. Zu dieser Jahreszeit lange abgeerntet und gepflügt, hier und da lagen Rübenhaufen, an anderer Stelle stach das grüne Kraut noch ins Auge.
»Gleich geschafft«, murmelte der Kommissar, beide Hände ums Lenkrad gekrampft, weil er konstant mit hoher Geschwindigkeit fuhr. Schweißspuren verrieten, wie angespannt er war, sowohl auf dem Leder als auch auf der Stirn. Doch ein Blick auf die Uhr verriet, dass er die etwa dreißig Kilometer lange Strecke in deutlich weniger als einer halben Stunde geschafft hatte. Laut Smartphone wären es mindestens sechsunddreißig Minuten gewesen.
Nach einer weiteren Kreuzung, an der Hellmer scharf bremsen musste, weil ein Bus das Blaulicht versehentlich oder bewusst übersehen hatte, näherten sie sich weiteren Höfen und schließlich einem Dorf.
»Wir sind da«, sagte Durant.
»Navigierst du mich?«
Die Häuser rasten an ihnen vorbei. An den Straßenlaternen warnten bunt bemalte Pressspankonturen vor spielenden Kindern. Einige Häuser schienen leer zu stehen, an anderen wurde gearbeitet.
»Ist das die Landflucht?«, fragte Hellmer angestrengt, während er die enge Straße fokussierte.
»Hier doch noch nicht.«
»Aber hier gibt’s ja nichts «, stellte er fest.
Durant stand nicht der Sinn nach Diskussionen, sie dachte nur an Claus. Trotzdem widersprach sie: »Wieso? Da ist schon mal ein Imbiss. Und eine Mehrzweckhalle ist auch ausgeschildert.«
Und als wollte der Ort ihre Aussage bestätigen, kam eine goldene Bierreklame in Sicht, und am Straßenrand tauchte ein grauer Kombi mit Tupperware-Beschriftung auf. Auch wenn sie den größten Teil ihres Lebens in der Großstadt verbracht hatte, hatte Julia das Dorfleben nicht vergessen. Es gab weitaus trostlosere Gegenden, so viel war jedenfalls sicher.
Am Ende des Dorfes knickte die Ortsdurchfahrt scharf nach rechts ab.
Während Durant mit dem Finger zoomte, schlug sie ihrem Partner vor, der Straße zu folgen. Doch just in dem Augenblick, als sie ansetzte, schoss der Porsche auch schon geradeaus.
»Nein!«, rief sie.
»Schau doch«, widersprach Frank. »Es ist direkt geradeaus.«
»Aber da vorne ist gesperrt!«
Hellmer ließ den Wagen langsamer werden, bis auch er erkannte, dass es zwischen den besprühten Betonpfosten und dem Schlagbaum kein Durchkommen gab.
»Verdammt! Wie weit noch?«
»Paar Hundert Meter.«
Hellmer sprang aus dem Wagen. Julia Durant folgte ihm.
»Da ist ein See!«, rief er fassungslos. Sie schloss zu ihm auf, dann sah sie es auch.
Eine gigantische Senke, über die sich eine graublaue Wasseroberfläche erstreckte. Der Wind trieb Wellen über den See, am anderen Ufer standen Kinder mit Lenkdrachen, zwei Gleitschirm-Surfer schnitten mit spritzender Gischt durch die Fluten.
Julia Durants Blick wechselte ungläubig zwischen dem iPhone und dem Landschaftspanorama. Unter anderen Umständen wäre es ein Sinnbild des Friedens gewesen, romantisch und wunderschön. Vögel zogen ihre Bahnen, in der Luft wie auf dem Wasser, und mittendrin erkannte sie eine kleine Schafherde, die sich durch kniehohen Bewuchs arbeitete. Doch es waren keine anderen Umstände.
Der Punkt, die Stecknadel auf der App, der Feldweg …
»Er ist hier nicht drauf!«, schimpfte sie. »Dieser verdammte See! Hier ist nichts verzeichnet. Wie kann das denn sein?«
»Hast du keine Satellitenaufnahme?«, wollte Hellmer wissen.
»Weiß ich nicht. Ich kann mit diesem Gerät nichts anfangen, alles ist ganz anders. Außerdem bringt uns das jetzt auch nichts.« Julia ging zurück zum Porsche und setzte sich hinters Lenkrad. Noch immer blitzten die LEDs.
Hellmer näherte sich. »Was wird das, wenn’s fertig wird?«
Sie ließ den Motor aufheulen. »Komm mit oder bleib hier«, forderte sie. »Wir müssen auf die andere Seite!«
Kopfschüttelnd stieg er ein, aber er sagte keinen Piep. Frank Hellmer wusste aus langjähriger Erfahrung, wann man gegenüber einer Julia Durant besser schwieg. Stattdessen schenkte er ihr ein Lächeln und nahm das iPhone an sich, während sie auf der schmalen Straße wendete. Dabei fielen ihm erstmals die alten Streifen der Fahrbahnmarkierung auf.
»Ein Bergwerkssee«, brummte er nachdenklich. Im Fernsehen war unlängst über den Braunkohletagebau in der Wetterau berichtet worden. Mit wenigen Fingertipps war die Darstellung der Karte auf Hybridmodus umgestellt. Ein Satellitenbild, kombiniert mit Straßennamen.
An seiner Miene erkannte Durant es zuerst, dann warf sie selbst einen Blick auf das Display.
Der Pinn befand sich noch immer an derselben Position. Nur dass diese nicht mehr an einer Wegkreuzung im Nirgendwo lag, sondern mitten auf jenem türkisblauen Fleck, der das Seegebiet in seiner ganzen Ausbreitung darstellte.
Julia Durant unterdrückte einen Aufschrei und gab Gas.
Der Duft von rheinischem Sauerbraten durchzog sämtliche Räume der Wohnung.
Es war ganz einfach gewesen – und wesentlich einfacher als Rouladen.
Ein bereits eingelegtes Stück Fleisch, eine Gewürzmischung, eine Dose Rotkraut. Selbst Serviettenknödel konnte man heutzutage, vorgegart und in Plastikfolie gepresst, fertig kaufen. Es war eine verrückte Welt geworden, doch sie bot auch manche Vorzüge, wie er sinnierte, während er sich den Holzlöffel mit Soße in den Mund schob, um das Ganze abzuschmecken.
Er hatte das Kochen gelernt, war zum Technikfreak geworden, hatte seine gesamte Lebenszeit der vergangenen Jahre dafür gewidmet, um bereit zu sein. Bereit für sein mörderisches Spiel, das so viel mehr für ihn war als bloßer Zeitvertreib.
Es war alles.
Und alles lief genau nach Plan.
»Salz«, flüsterte er mit einem schaurigen Lächeln und griff nach der Holzmühle.
Frau Holdschicks Küche war so ausgestattet, wie man sich die Utensilien einer Großmutter vorstellte, bei der es jeden Tag nach einem Festtagsessen roch. Eine alte Emailleschüssel, um Eier zu verquirlen oder geriebene Kartoffeln zu vermengen. Allerlei Töpfe. Hölzerne Rührlöffel mit blank gegriffenen Stielen und einer Patina vergangener Leckereien. Ein schwerer, hölzerner Nudelwalker.
Ein verstohlener Blick auf die Seite der Arbeitsfläche. Da lag er. Er hatte ihn abgewischt, doch einiges von Hochgräbes Blut hatte sich bereits ins Holz gesaugt.
Gleichgültig spannte er die Schultern an. Die alte Frau würde ihn nicht mehr brauchen.
Durch das Blubbern der Soße drang ein Geräusch.
Er legte den Löffel neben das Kochfeld und schlich durch die Zimmer, um die Lage zu überprüfen. Alles war in bester Ordnung.
Zurück am Herd, regelte er die Hitze auf ein Minimum und prüfte die Wanduhr.
Circa dreißig Minuten, bis der Asiate mit dem Abendessen kam, im besten Fall vierzig.
Der Geruch nach der Bratensoße war wirklich aufdringlich.
Gemächlich schritt er in die Besenkammer, holte eine Reisetasche, die er hoch oben im Regal verborgen hielt, und trug sie ins Wohnzimmer. Er platzierte sie zwischen Fernsehzeitungen und farbenfrohen Illustrierten, die hier überall herumlagen.
Neben ihm atmete es ruhig.
Mit ein paar Handgriffen befreite er verschiedenes Equipment aus der Tasche und reihte es fein säuberlich auf. Sein Hauptaugenmerk galt einer fliederfarbenen Kassettenbox, die er behutsam in den Händen wog, bevor er sie öffnete. Sie bot Platz für insgesamt ein Dutzend Bänder.
Manche davon würde er niemals wieder abspielen. Andere hatten ihren Zweck bereits erfüllt.
Er lächelte, als er zu einer der letzten Kassetten griff. Sie hatte bis zum Schluss auf ihn gewartet. Besser gesagt: auf sie .
Eine letzte Aufnahme.
Außer Atem erreichten Durant und Hellmer das Steilufer.
Sie hatten zurückgesetzt und waren der L3187 gefolgt, die östlich um den Baggersee herumführte. Das dichte Buschwerk verdeckte die Sicht, bis es Äckern wich, durch die ein asphaltierter Weg führte. Durant schlug das Lenkrad scharf ein, Erdklumpen prasselten in die Radkästen, und sie ahnte, das Hellmer in dieser Sekunde an die teure Reinigung seines geliebten Wagens dachte. Alles für die Katz. Aber weder er noch sie hatten etwas gesagt. Viel zu schmerzhaft hämmerte die Angst in der Brust. Angst vor dem, was in diesen Augenblicken zur Gewissheit wurde.
Der Porsche bog noch zwei weitere Male ab, bis er schließlich vor einem weiteren Schlagbaum zum Stehen kam. Doch dieser bestand nur aus einem alten, rot gepinselten Lichtmast, den jemand aus seiner Verankerung gerissen hatte. Tiefe Furchen deuteten darauf hin, dass hier regelmäßig Lkw verkehrten. Womöglich eine Abraumhalde. Für die Kommissare wiederum war die filigrane Doppelspur viel interessanter, die sich nach ein paar Dutzend Metern aus dem festgefahrenen Boden gelöst zu haben schien und durch das Ufergras und über zwei frische Maulwurfshügel führte. Bis hin zu einem steilen, von Gestrüpp und versunkenen Bäumen verwucherten Abschnitt des Ufers, das so aussah, als brächen hier regelmäßig Schollen der lehmigen Erde ab. Die Spuren führten zu einem hölzernen Tor, das inmitten eines mehrfach durchbrochenen Zaunes überflüssig wirkte. Unter dem Tor hindurch führten die Furchen weiter bis hin zur Kante. Geknicktes Astwerk und Grasfetzen sprachen Bände.
»Geh nicht so nah ran!«, hörte Durant ihren Partner sagen.
Doch sie nahm es nur wie unter einer Glocke wahr. Die Spuren. Die Positionierung.
Es war eindeutig. An dieser Stelle hatte man ihren geliebten Opel GT Roadster über die Böschung gesteuert.
Aber wer, fragte sie sich, während sie von einem heftigen Tränenkrampf geschüttelt wurde – wer hatte sich zu diesem Zeitpunkt noch in dem Wagen befunden?
Hellmer trat neben Durant und sagte ihr, dass er alle nötigen Stellen informiert habe. Innerhalb der nächsten Stunde würden Polizeitaucher, Feuerwehr und DLRG eintreffen.
»Sie setzen alles Menschenmögliche in Bewegung«, sicherte Hellmer ihr zu, den Arm auf ihren Rücken legend.
Doch beide wussten, dass eine Stunde verdammt viel Zeit war. Und dass der Opel wer weiß wie lange schon unter Wasser lag. Falls tatsächlich jemand – Claus!? – darin eingeschlossen war, käme jede Hilfe zu spät.
»Wir müssen das Ufer absuchen«, flehte die Kommissarin. »Du da, ich dort lang.«
»Einer von uns sollte hier auf die Kollegen warten.«
»Dann du«, entschied Durant, die allein den Gedanken, nutzlos in der Gegend herumzustehen, unerträglich fand.
»Pass auf dich auf!«, mahnte Hellmer und deutete auf ein dreckverschmiertes Schild, das, noch an seinem abgebrochenen Holzpfahl befestigt, im Gras lag. Vermutlich umgetreten von Personen, die nicht viel auf Warnhinweise gaben.
»Was meinst du?«
»Es ist ein Bergwerkssee. Das Schild warnt vor Uferabbrüchen und dergleichen. Eigentlich ist hier alles lebensgefährlich und verboten. Geh also nicht zu weit runter.«
»Sag das denen da«, kommentierte Julia Durant mit einem Blick auf die Surfer und folgte einem der unzähligen Trampelpfade in Richtung Wasser.
Immer wieder taxierte sie die Oberfläche, die in diesem Bereich beinahe spiegelglatt dalag. Sie suchte nach Luftblasen, nach einem Ölfilm, nach irgendwas. Doch außer einer Schar von Nilgänsen, die sich demnach nicht nur im Frankfurter Brentanobad breitmachten, war nichts zu erkennen.
Nach einer Viertelstunde erreichte Durant das Lager der Surfer.
»Wie lange sind Sie schon hier?«, erkundigte sie sich bei einem jungen Mann mit ledriger Haut, die darauf hindeutete, dass er sich hauptsächlich im Freien aufhielt. Er war athletisch gebaut und hatte seine blonde Mähne mit einem Bandana in Form gezwungen. Kurz zuvor war er an Land gekommen und hatte sich abgerubbelt. Die Ankunft der Kommissarin schien ihn in keiner Weise zu stören.
Er zeigte seine Zähne in einem breiten Lächeln. »Warum? Sind Sie von der Polizei?«
»Tatsächlich … ja.«
»Oh.«
In nahezu jeder anderen Situation hätte sie es in vollen Zügen ausgekostet, den Endzwanziger sprachlos zu sehen. Doch gerade jetzt war das völlig unwichtig.
»Hören Sie, das ist ein Notfall. Ist mir scheißegal, ob Sie hier surfen dürfen oder nicht. Aber dort drüben, wo ich herkomme«, sie zeigte auf das Steilufer, »wurde im Laufe des Nachmittags ein Auto über die Böschung gefahren.«
»Holy Shit!«
»Allerdings. Haben Sie irgendwas davon mitbekommen?«
»Sorry.« Der zweite Surfer schien das Gespräch bemerkt zu haben, wendete sein Board und preschte ebenfalls auf das Ufer zu.
»Wir sind erst seit ’ner halben Stunde hier oder so«, fuhr ihr Gegenüber fort. »Ist unsere erste Runde, wir haben ja immer ’ne Ecke zu fahren, bis wir hier sind.«
Durant hatte sich bereits gewundert, denn der Akzent des Mannes, wenn auch nur sehr unterschwellig vorhanden, passte nicht zum Sprachbild der Wetterau.
»Nilkheim. Bei Aschaffenburg.«
»Aha. Und Sie fahren hierher?«
Ein dritte Person trat aus dem Wasser, eine Frau, wie Durant jetzt erkannte. Ein argwöhnischer Blickwechsel, dann trat sie zu dem Mann, küsste ihn und fuhr sich anschließend mit dem Handtuch über Gesicht und Haare. Er raunte ihr ein paar Sätze zu.
»Die Fallwinde hier sind der Hammer«, erklärte sie. »Definitiv jede Fahrstrecke wert. Hierher kommen Leute von Wiesbaden, Würzburg und Bad Hersfeld.« Sie stockte. »Aber ein Auto? Das ist ja megablöd. Hätte man doch auch zum Schrottplatz bringen können.«
»Schrottplatz?«
»Na, direkt dahinten. Großes Metalltor. Riesige Lkw. Müssten Sie eigentlich gesehen haben.«
Julia Durant folgte dem Zeigefinger des Mädchens. Sie trug schulterlange Dreadlocks, Filzlocken und war im Gesicht und an den Oberarmen mit Sommersprossen übersät. Tatsächlich waren sie aus dieser Richtung herangerast, aber ihre Augen hatten einzig und allein dem Dickicht gegolten, welches das alte Baggerloch umgab.
Außerdem … der Sensor konnte sich doch nicht um so viel irren.
Oder doch?
Die Kommissarin entfernte sich einige Schritte von den beiden und wählte Michael Schrecks Nummer.
»Julia! Wo seid ihr?«, fragte er gehetzt. »Habt ihr ihn?«
»Die Koordinaten liegen in einem Baggersee«, sagte Durant zerknirscht.
»Verdammt. Ich meine … tut mir leid. Ist Claus …«
»Wir wissen noch gar nichts. Nur eine Frage: Wie groß kann die Abweichung der Ortung sein? Hundert, zweihundert Meter werden es ja wohl nicht sein, oder?«
»Ausgeschlossen«, sagte Schreck. »Warum fragst du?«
»Weil es nicht weit von hier eine Schrottpresse gibt.«
Schreck schluckte. Dann fing er sich und sagte hastig: »Eigentlich kann das nicht sein. Wirklich nicht.«
Doch Julia glaubte ihm das nicht so recht. Schon meldete sich ihr Telefon erneut. Andrea Sievers.
»Andrea«, sagte Durant keuchend, »versteh das bitte nicht falsch, aber …«
»Du möchtest also keine Ergebnisse hören?«
»Wie? Doch, natürlich. Aber Claus ist verschwunden. Ich bin kurz vorm Durchdrehen, verstehst du?«
Die Rechtsmedizinerin stellte ein paar Fragen, die Julia Durant ihr ungeduldig beantwortete, dann reagierte sie mitfühlend: »Mensch, Julia, das tut mir leid! Und ich bin ausgerechnet jetzt so weit weg. Aber auch wenn’s im Moment nicht viel bringen mag, wir haben erste Ergebnisse in Sachen DNA . Der Zahn, du weißt schon.«
»Und?«
»Der Zahn stammt von Stephan. Wir haben eine Menge Vergleichsproben, die alle übereinstimmen. Zahnbürste, Haare und Hautschuppen.«
»Könnte alles Fake sein«, wandte die Kommissarin ein, doch Dr. Sievers verneinte. »Dafür ist es zu viel. Glaub mir, so akribisch arbeitet niemand.«
Julia Durant ließ den Gedanken sacken. Der Kampf in ihrem Inneren war unerträglich, und sie spürte, dass sie längst nicht mehr in der Lage dazu war, objektiv zu urteilen. Hätte sie die Ermittlung besser anderen überlassen? Nein! Denn wie auch immer sich das Ganze auflösen würde: Stephan spielte eine tragende Rolle in dem Fall, und sie war die Einzige, die ihn persönlich gekannt hatte. Außerdem: Was sollte sie sonst machen? Zu Hause sitzen und darauf warten, wer ihr als Nächstes genommen würde? Sicherlich nicht. Es gab keinen anderen Ort, an dem sie jetzt sein durfte. Auch wenn die Ungewissheit und die Angst sie auffraßen.
Durant spürte ein Zupfen am Ärmel. Frank Hellmer.
Er hätte den Asiaten einfach umbringen können.
Stattdessen war ihm ein anderer Gedanke gekommen.
»Meine Mutter benötigt heute nichts.« Die Tür nur einen Spalt weit geöffnet, den verunsicherten Blick des jungen Mannes, der die Box mit dem Abendbrot umklammert hielt, im Visier. Er war nicht nur älter, sondern auch einen ganzen Kopf größer, was ihm einen Vorsprung an Autorität verlieh.
»Aber …«
»Ich komme dafür auf. Es ist mein Fehler, dass wir Sie nicht rechtzeitig informiert haben. Sie können das Essen hierlassen oder auch jemand anderem geben.«
Falls es überhaupt jemanden gab, der so einen Fraß wollte.
»Okaaay«, kam es wie zäher Kaugummi.
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Ich melde mich rechtzeitig, bevor ich abreise. Bis dahin brauchen wir nichts.«
Bevor der Essenslieferant etwas erwidern konnte, legte er einen Zwanzigeuroschein auf den blaugrauen Deckel der Box.
»Auf Wiedersehen!«
Er drückte die Tür ins Schloss und lauschte. Nach ein paar Atemzügen räusperte sich der junge Mann und entfernte sich mit schlurfenden Schritten. Dann die Haustüre, ein Motor.
Geschafft.
Ein Grinsen legte sich über sein Gesicht, während er in Richtung Schlafzimmer tappte, aus dem grunzende Geräusche zu hören waren.
»Zeit für dich, zu gehen«, flüsterte er, während sich seine Hände um ein Kissen schlossen, das er auf dem Stuhl bereitgelegt hatte.
Frau Holdschick schlief so tief, dass sie es nicht einmal mitbekam, wie ihr der gepolsterte Stoff die Atemluft abschnitt. Noch bevor sie aus ihrer Traumwelt zurückkehrte, um einen kurzen Todeskampf zu führen, trat sie auch schon über in das helle Licht, das ihr ihren Mann wiederbrachte. Und ihren Bruder, den der Krieg ihr viel zu jung genommen hatte.
Und es roch wunderbar nach Braten und Rotkohl.
Obwohl man die Zufahrten abgesperrt hatte und Schutzpolizisten sich alle Mühe gaben, Schaulustige fernzuhalten, war das Seegebiet nur schwer zu kontrollieren. Überall am gegenüberliegenden Ufer tauchten Menschen auf, einige mit angeleinten Hunden, andere noch in Anzug und Krawatte. Sogar eine Handvoll Kinder lief herum. Ein Fernglas wurde herumgereicht.
Als die ersten Streifenwagen eintrafen, hatten Durant und Hellmer die Gelegenheit genutzt, um bei dem Schrottplatz nachzufragen. Doch niemand konnte sich dort an einen GT Roadster erinnern. Außerdem, versicherte man ihnen, hätte man einen solchen Wagen zuerst einmal ausgeschlachtet, bevor man ihn in die Presse geschickt hätte. Viel zu schade um die ganzen Ersatzteile, hieß es weiter. Und falls sie den Wagen tatsächlich aus dem See bergen würden, dürften sie sich gerne noch mal melden.
In diesem Augenblick machten sich zwei Taucher fertig, um einen ersten Gang in den See zu wagen. Der ausklingende Sommer hatte das Wasser in einer halbwegs erträglichen Temperatur belassen, und den Rest kompensierte die Neoprenhaut. Durant nickte ihnen auffordernd zu, als aus dem Hintergrund eine Stimme rief: »Passen Sie bloß auf!«
Julias Kopf flog herum. Ein beleibter Mann in Grüntönen mit kräftigem Schnauzbart hüpfte ziemlich ungalant den abschüssigen Weg hinab. Winkend, die andere Hand ruderte, um die Balance zu halten, und Durant hatte Sorge, ob es ihm gelingen würde, rechtzeitig abzubremsen. Als er keuchend zum Stehen kam, wallte ihr eine Brise von Baumharz und Schweiß entgegen.
Die beiden Taucher verharrten am Uferrand, wo das Wasser seicht war und die Einzäunung endete.
»Wer soll aufpassen?«, fragte Durant gereizt. »Und wer hat Sie überhaupt durchgelassen?«
Der Fremde stellte sich vor. Nicht als Jäger oder Förster, was ihr erster Gedanke gewesen war, sondern als Naturfreund, der sich um den See kümmere. Er spulte eine Litanei von Vereinstätigkeiten ab, Obst- und Gartenbau, Angler, Hundesport – alles Dinge, die sich draußen abspielten oder damit in Verbindung standen –, dann kam er zum Punkt: »Einige von uns gehen hier auf Kontrolle. Immer wieder wird randaliert, Bänke brennen, Schilder werden umgetreten, und die ganzen Fremden, die hier zum Surfen herkommen, parken die Feldwege zu. Es ist zum Mäusemelken.«
»Wir tauchen hier nicht zum Spaß«, erwiderte Durant, und ihr Daumen huschte in Richtung Steilufer. »Hier wurde vermutlich ein Auto reingefahren.«
»Habe ich schon gehört.«
»Na also.«
»Sie werden es nicht finden. Eher verlieren Sie Ihre Taucher auch noch.«
»Wie meinen Sie das?«
»Diese Schilder sind kein Spaß! Dieser Tagebau war in den Neunzigern aktiv, das heißt, der See läuft noch immer voll, wenn auch nur sehr langsam. Wir reden hier von zwanzig, dreißig Metern Tiefe, und das gesamte Ufer besteht aus überflutetem Gras in lehmigem Boden. Vollgesogen wie ein Schwamm. Glitschig und lebensgefährlich. Was auch immer hier reinfällt: Es wird vom See verschluckt. Entweder weil es einsinkt, bis zum tiefsten Punkt gleitet oder aber – und das ist das Heimtückischste von allem – weil eine riesige Scholle Erdreich abbricht und der Sog alles mit sich nach unten reißt. Wenn Sie mich also fragen: Lassen Sie es besser sein.«
»Ist keine Option«, widersprach die Kommissarin, nachdem sie das Gesagte einen kurzen Moment lang hatte sacken lassen. »Der Wagen gehört mir. Außerdem ist er ein Beweisstück.«
Sie bedankte sich knapp, ließ den Mann stehen und näherte sich den beiden Tauchern. »Bitte passen Sie gut auf. Es heißt, das Ufer ist nicht besonders stabil.«
»Schon gut, ich kenne den See.« Der größere der beiden Froschmänner winkte ab. »Das meiste sind Schauermärchen, um die Leute vom Baden abzuhalten. Hier gibt es weder Strudel noch alte Maschinen oder gar ein versunkenes Dorf. Einfach bloß Wasser.«
Und einen Opel Roadster, dachte Durant mit Magenschmerzen, während die Männer ins Wasser stiegen.
Wenn der Kollege im Neoprenanzug mal bloß recht hatte.
Es piepte in ihrer Gesäßtasche, und parallel dazu vibrierte es oberhalb des Beckens. Durant zog zuerst das iPhone hervor, welches sie in die Hose hatte gleiten lassen. Eine Nachricht für Claus. Sie angelte mit der anderen Hand nach ihrem eigenen Smartphone, welches links in der Jacke steckte. Eine Nachricht für sie.
Vermutlich Doris oder Peter, dachte sie, während sie beide Bildschirme entsperrte. Es konnte ja nur etwas Dienstliches sein, wenn es an sie beide gerichtet war. Andrea Sievers textete nur selten, sie rief lieber an, und Hellmer befand sich in Sichtweite. Von ihm konnte es also nicht kommen. Doris und Peter wussten vermutlich noch nichts von all dem, was sich gerade hier …
Huhu, Chérie
Julia Durant zuckte zusammen. Und obwohl das Korsett um ihren Brustkorb schon bis aufs Äußerste gespannt war, schien es sich noch ein Stückchen mehr zusammenzuziehen. Nein!
Bevor sie prüfen konnte, ob die Nachricht auch auf Claus’ Gerät eingegangen war, ertönte ihr Klingelton. Anruf von einer unbekannten Nummer, vermutlich ein Prepaid-Handy.
Die Stimme hatte denselben gepressten Ausdruck wie schon zuvor, nur dass Durant sich diesmal sofort fragte, welche Rolle Stephans Kehlkopf dabei spielte.
»Na, meine Liebe«, flüsterte er. »Wie fühlt es sich an, wenn das Leben so richtig baden gegangen ist? Wenn man dasteht und weiß, dass man nichts mehr tun kann? Wenn man gefangen ist …«
Julia schrie so laut, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb: »Was willst du denn, du Schwein? Hast du mir nicht schon genug angetan?«
Doch er sprach einfach weiter. Laberte und leierte seinen selbstgefälligen Dreck hinunter, als glaubte er, dass es sie auch nur im Entferntesten interessieren würde.
»Eingesperrt in seiner Haut, in einem Leben, das man nicht führen möchte. Verlassen. Vergessen. Ob es sich so anfühlt, wenn man dasitzt, angeschnallt in einer Blechbüchse, während das Wasser in den Fußraum dringt? Wenn es durch sämtliche Ritzen drückt und an der Scheibe vorbeisteigt, während man sich nicht befreien, nicht bewegen kann?«
»Bla, bla, bla!«, rief die Kommissarin. Ein Bild stieg in ihr auf. Ihr Fuß, der sich tief in Stephans Weichteile grub. Sein Gesichtsausdruck. War es das, was sie tun würde, wenn …
Längst stand Hellmer neben ihr, ziemlich ratlos wirkend. Schreck von der IT war nicht greifbar; wie sollte er aus seinem Keller heraus ein Telefonat verfolgen, welches auf Durants Handy eingegangen war? Verdammt!
»Was ich von dir will?«
Durant erschrak. Die Stimme klang plötzlich anders – viel klarer. Das Flüstern war geblieben, aber das Leiern war verschwunden. Hatte er ihr bis eben ein Band vorgespielt und sprach jetzt direkt mit ihr? Klang deshalb die Stimme so anders?
»Ja …« Sie nahm alle Kraft zusammen, die sie noch hatte. »Du willst Rache? Meinetwegen! Dann komm her, verdammt noch mal, aber hör damit auf, meine Freunde umzubringen.«
Das Lachen hätte unheimlicher nicht sein können. Es weckte ungute Erinnerungen, die Durant nicht näher analysieren konnte, denn der Flüsterer wechselte wieder zu seinem leiernden Ton: »Alles habe ich dir genommen, so wie du mir. Fast alles. Du hast mein Leben zerstört, und ich werde dir deins nehmen.«
»Komm nach Hause, Chérie «, die Stimme hatte sich wieder aufgeklart, »komm schnell. Und komm alleine. Vielleicht stimmt mich das gnädig.« Wieder ein heiseres Lachen, welches direkt aus der Hölle zu kommen schien. »Einer von euch darf am Leben bleiben. Was meinst du? Wir spielen eine Partie Romeo und Julia. Aber ich warne dich! Kommst du nicht allein, sterben alle.«
Bevor Durant noch etwas sagen konnte, wurde die Verbindung unterbrochen.
Hellmer, den sie über Lautsprecher hatte mithören lassen, war kreidebleich.
»Einen tollen Ex-Mann hast du dir da angelacht«, murmelte er. »Und glaub mir, ich kenne mich da ziemlich gut aus.«
Julia Durant hörte ihn kaum. Ihre Gedanken drehten sich um das, was die Stimme in den letzten Sätzen angedeutet hatte. Romeo und Julia.
»Was bedeutet das?« Wirre Bilder schossen ihr durch den Kopf. Ein Mann, der mit einem Sauerstoffgerät in einem Sarg lag. Vergraben. Bloß eine Krimi-Episode im Abendprogramm, aber eine, die ihr tagelang Alpträume bereitet hatte. Hatte er das mit Claus gemacht? War Claus am Leben, irgendwo dort, unter der Wasseroberfläche, aus der soeben der Kopf eines der Taucher herausbrach? Hockte er, das Druckmanometer vor Augen, da, wartend, ob ihn vor dem letzten Atemzug jemand aus der stummen Finsternis befreite?
Der Froschmann schüttelte den Kopf und zeigte den Daumen nach unten. Weiter oben, am Steilufer, traf ein weiteres Team ein. Vier Personen, zwei Frauen, zwei Männer.
»Sie sollen sich beeilen«, drängte Durant.
Hellmer verstand. »Glaubst du … Claus ist da unten? Am Leben?« Er schüttelte den Kopf. »Stephan sagte doch: ›Komm nach Hause.‹ Und dass du es schnell tun sollst.«
»Ich kann jetzt nicht hier weg!«, zischte die Kommissarin.
»Doch!« Ihr Partner ergriff ihre Arme und blickte sie fest an. Er musste es ihr nicht erklären, sie verstand es auch so. Der Opel lag seit mindestens eineinhalb Stunden im Wasser, wahrscheinlich sogar länger.
Sie ließ Hellmer stehen und eilte zu dem Taucher, der sich soeben von der Maske befreite.
»Verdammt kalt da unten«, sagte er. »Keine Bewegung im Wasser. Ab drei Metern Tiefe spürt man einen massiven Temperatursturz. Dafür sieht man recht gut. Leider konnten wir noch nichts ausmachen, aber ich gehe gleich direkt unter dem Steilufer noch mal rein. Bedauerlicherweise ist dort Erdreich abgeschüttet worden, und wir müssen höllisch aufpassen, dass wir keinen weiteren Abbruch auslösen.«
»Wie lange hält so eine Sauerstoffflasche?«
»Das ist schwer zu beantworten. Kommt auf die Art des Tauchgangs, das Atemminutenvolumen und die Flaschengröße an. Ich habe hier eine 12 -Liter-Flasche, mit der ich schon zwei Stunden unter Wasser gewesen bin, und sie hatte immer noch Restdruck. Aber ich bin auch gut im Training. Für andere könnte schon nach der Hälfte der Zeit Schluss sein.«
Durant schluckte. Zwei Stunden. Sie wusste nicht, warum sie überhaupt auf diesen Gedanken gekommen war. Zu viele abgedrehte Fernsehserien? Doch das Demaskieren des Tauchers hatte ihr ein Bild vor die Augen getrieben, ein Bild, das ihr Angst machte, aber auch einen Strohhalm an Hoffnung bereithielt. Eine letzte Möglichkeit, an die sie sich klammern wollte. Doch leider war da noch etwas anderes.
»Wie ist denn die Temperatur weiter unten?«
»Schätze, viel mehr als acht Grad dürften es nicht sein. Wieso fragen Sie?« Der Taucher patschte mit der flachen Hand auf seine Neoprenhülle. »Keine Sorge. Ich bin gut gepolstert.«
Doch darum ging es ihr nicht. Julia Durant rief sich alles an Wissen ins Gedächtnis, was sie im Laufe ihrer Dienstzeit angesammelt hatte. Schon bei einer Wassertemperatur von zehn Grad Celsius würde ein Körper, selbst bei allerbestem Immunsystem, nach einer Viertelstunde an Kerntemperatur verlieren. Was an den Extremitäten begonnen hatte, würde sich ins Innerste ausbreiten. Zuerst würde ein heftiger Zitterkrampf einsetzen, danach folgten Halluzinationen und anschließend der Verlust des Bewusstseins. Das Herz schlug immer langsamer, bis es am Ende nur noch alle zwanzig bis dreißig Sekunden zuckte. Und sobald die Körpertemperatur die Zwanzig-Grad-Marke erreichte, trat der Tod ein.
Sie rechnete nach. Kein Sauerstoff und kein Neopren der Welt konnten Claus da unten retten, wenn er bewegungslos im Wagen saß.
Das iPhone piepte. Und parallel meldete sich ihr eigenes.
Da wollte wohl jemand auf Nummer sicher gehen.
Allez vite, Chérie!
Meine Geduld ist am Ende. Ich habe lange genug gewartet.
Dein Romeo hat nicht mehr viel Zeit.
Romeo .
Wer sollte das sein? Stephan? Oder Claus?
Die Kommissarin warf einen letzten Blick auf den Baggersee. Was für ein wundervolles Fleckchen Erde, dachte sie. Unter anderen Umständen.
Sie wandte sich an Hellmer und brauchte nichts zu sagen.
»Ich fahre dich. Außerdem lasse ich dich nicht ohne Verstärkung dahin.«
»Auf keinen Fall«, wehrte die Kommissarin ab, und sie tat das mit einer Schärfe, die keinen Raum für weitere Diskussionen eröffnete.
Fünf Minuten später schoss der silberne Sportwagen über die alte Straße nach Weckesheim hinein und bog nach ein paar Hundert Metern hinter dem Bahnübergang, parallel der Gleise, in Richtung Friedberg ab.
»Keine anderen Bullen, keine Kollegen, keine Freunde!«, sagte die Stimme bereits zum vierten Mal. Doch es klang nicht so, wie es sollte, daher folgte Versuch Nummer fünf. Diesmal gefiel es ihm besser, er hatte auch alles dafür gegeben. Das heiser-gepresste Sprechen, mit der Hand auf dem Adamsapfel, als könne der Druck die Stimme herabtönen. »Hörst du, Chérie «, sprach er weiter und hob die Mundwinkel. »Ich sehe alles. Es darf niemand kommen, außer dir. Ansonsten kannst du dir einen weiteren Toten auf die Fahne schreiben. Und du solltest mir mittlerweile glauben, dass ich vor nichts zurückschrecke.« Er hielt für zwei Sekunden inne, dann noch einmal, mit markanter Betonung: »Also … nur du und ich. Wie in alten Zeiten. – Und fahr vorsichtig!«
Er hörte sich die Nachricht an, nickte und drückte auf Senden. Beobachtete, wie die Audiodatei hochgeladen wurde, und leitete sie danach auch an die andere Mobilfunknummer weiter, obwohl er wusste, dass sich beide Geräte im Besitz derselben Person befanden.
Kommissarin Julia Durant.
Der Heldin von München, wie sie es einst in den Medien geschrieben hatten.
Wütend ließ er die Knöchel seiner Finger knacken.
Helden sterben Heldentode, dachte er und zwang sich wieder zur Konzentration. Er schritt zu einer Kamera, deren Bild er auf einem Tablet verfolgen konnte. Prüfte sie. Schaltete um zu zwei weiteren Aufnahmegeräten, die ihre Signale kabellos übertrugen. Eine hing im Treppenhaus, die andere scannte die Straße. Sollte sich eine Streife hierher verirren oder ein Spezialkommando oder auch nur die Kollegen Kullmer, Hellmer oder Seidel in Zivil, er würde es bemerken.
Sein Herz begann zu pochen. Nach Monaten der absoluten Kontrolle war dies der entscheidende Moment. Eine Gleichung, die er nicht kontrollieren konnte, von der er hoffen musste, dass sie aufging. Dass ihre Variablen sich den Erwartungen gemäß verhielten. Dass das Ego einer Julia Durant noch immer ausgeprägt genug war, um tatsächlich alleine hier aufzukreuzen. Und wenn es nicht ihr Ego war, dann die Sorge um diesen Kasper, den sie in ihr Bett gelassen hatte.
Vielleicht sollte ich ihr zur Sicherheit noch ein Foto von ihm schicken, dachte er. Am besten mit einer Waffe an seiner Schläfe.
Julia Durant hörte sich die Sprachnachricht gleich zweimal an. Nach allem, was geschehen war, konnte sie nicht riskieren, dass es sich um zwei unterschiedliche Inhalte handelte. Sie fuhr in diesen Minuten über ein brandneues Stück Umgehungsstraße in Richtung der Autobahnauffahrt zur A5.
Allez vite.
Beeil dich.
Hellmers Navi zeigte eine verbleibende Fahrzeit von siebenundzwanzig Minuten an.
Das Blaulicht hinter der Sonnenblende versprach, diese Angabe zu unterbieten. Nur um wie viele Minuten?
Das Telefon klingelte. Hellmer wollte wissen, wo sie sich befand.
»Gleich in Rosbach«, rief Durant, die das Telefon auf Freisprechfunktion geschaltet und zur Hälfte in die Ritze des Beifahrersitzes geklemmt hatte.
»Wann bist du da?«
»Kurz nach halb, hoffe ich.«
»Und ich soll wirklich niemanden hinschicken?«
»Nein«, sagte Durant scharf. »Ich kümmere mich selbst darum, Ende der Diskussion. Es steht zu viel auf dem Spiel.«
Sie verabschiedete sich mit dem Hinweis, sich auf die Straße konzentrieren zu müssen.
»Viel Glück«, wisperte Hellmer, während sein Blick auf der Wasseroberfläche des Sees ruhte, unter der nunmehr sechs Taucher am Werk waren, um den versunkenen Wagen zu finden.
Warum ausgerechnet hier?, dachte der Kommissar. Natürlich kannte man in Frankfurt die Seenplatte in der Wetterau. Für einen Münchner indes – wenn diese Theorie überhaupt noch stimmte – verfügte der Täter über eine beeindruckende Ortskenntnis.
Julia Durant hielt ihre Waffe vor sich, während sie sich der Haustür näherte. Gottlob waren keine Passanten in unmittelbarer Nähe, als sie mit dem 911er die Bordsteinkante hochgeknallt und aus dem Wagen gesprungen war. Sie sah sich um, taxierte die Gegend. Keine Kollegen. Keine Freunde. Hellmer hatte sich daran gehalten.
So weit, so gut.
Sie sollte nach Hause kommen. Das hatte er von ihr verlangt.
Nach Hause.
Dieses Gefühl brannte seit gut einer halben Stunde in ihren Eingeweiden. Er war bei ihr eingedrungen. In ihre Privatsphäre, in ihr Eigentum, in ihre kleine, heile Welt. Vermutlich hatte er Claus’ Schlüssel, also war die Sicherheitstür, die sie vor ein paar Jahren hatte einbauen lassen, zwecklos.
Wartete er auf sie?
Romeo.
Das Atmen fiel Julia so schwer, dass sie die Stufen nach oben nur langsam nehmen konnte.
Zeit genug für wirre Gedanken. Und auch für ein paar klare.
Vor einer Viertelstunde hatte Butz Mayer sich gemeldet. Er entschuldigte sich vielmals, weil er sie nach Feierabend störe.
»Du störst mich nur beim Fahren«, rief Durant in Richtung Beifahrersitz.
Feierabend. Ein Begriff, den Butz schon früher viel zu wichtig genommen hatte, wenn sie sich recht erinnerte.
»Ach so. Es geht noch mal um das Foto aus der Reisetasche aus dem Hotel. Hast du die Mail nicht bekommen?«
»Ich kam noch nicht dazu. Was ist damit?«
»Es ist ein Original«, betonte Mayer und beschrieb im Folgenden das Foto. Es handelte sich um eine Aufnahme, die ihren Weg in eine lokale Zeitung gefunden hatte. Das erste Foto von ihr in einer Zeitung. Das Foto von ihr und Stephan, fein säuberlich mit der Schere aus dem Blättchen getrennt. Auf der Rückseite klebte ein Teil eines anderen Artikels, es ging laut Mayer um den großen Fall von damals.
»Moment mal«, sagte sie. Vor ihren Augen kam die Frankfurter Skyline in Sicht, die eine beeindruckende Kulisse zeichnete. Und gleichzeitig stand sie mit den Beinen in Stephans Wohnung, den Schreibtisch mit ihrem Foto und der Papiersammlung vor Augen. Artikel, in denen sie plötzlich blättern wollte, weil ihr etwas Schreckliches schwante.
Der Groschen fiel erst, nachdem Durant ihren Fuß vom Gas genommen hatte und von der Überholspur auf den Mittelstreifen gewechselt war. Wie viele Originale mochte es nach so vielen Jahren noch geben? Neben ihrem Vater waren Stephan und sie im Besitz einer Ausgabe gewesen. Paps ebenfalls. Und Pastor Aumüller hatte ebenfalls eine.
Während Taunus und Wetterau auf beiden Seiten der Autobahn vorbeijagten, erlangte Julia Durant eine Gewissheit, die sie in Todesangst versetzte. Nicht allein um ihretwillen. Alles schien plötzlich einen Sinn zu ergeben. Und in dieser Sekunde war ihr klar geworden, dass es kein Zurück gab.
Und sie hatte gewusst, was zu tun war.
»Boots, wir müssen aufhören«, sagte sie. »Aber du musst etwas für mich tun. Und du musst dich beeilen.«
Sie ließ ihm ein paar Anweisungen zukommen, legte auf und beschleunigte wieder.
Leer.
Flur, Wohnzimmer, Badezimmer. Keine Spur von Claus. Keine weiteren Hinweise. Keine Wandschmierereien, keine durchwühlten Schränke. Mit pochendem Herzen schritt die Kommissarin Richtung Schlafzimmer. Den leblosen Körper bereits vor ihrem inneren Auge sehend, schob sie die Tür auf. Doch auch das Bett war leer. Es lag genauso da wie am Morgen, halb zerwühlt und nur halbherzig aufgeschlagen. Weder Claus noch sie waren besonders begabt im Bettenmachen, und sie waren sich stets darüber einig gewesen, dass es Wichtigeres im Leben gab.
Ebenso wie in allen anderen Räumen gab es auch bei näherer Betrachtung keine Spur eines Eindringlings. Die kleine Kamera, die Wohnzimmer und Flur fokussierte, entdeckte Durant nicht.
Wie auf Kommando meldete sich ihr Telefon. Diesmal klingelte es nur bei ihr, Hochgräbes Gerät blieb stumm. Die Nummer war eine andere, vermutlich hatte er das Gerät gewechselt, um nicht ortbar zu sein.
»Wo bist du?«, presste sie wütend heraus und erntete ein schallendes Lachen.
»Ich musste doch sichergehen, dass du dich an unsere Spielregeln hältst – Chérie .«
»Spar dir das! Ich weiß …«
Wieder ein Lachen. »Du weißt gar nichts. Und ich rate dir, spiel dich bloß nicht so auf! Dein Arsch gehört mir, genau wie der deines Lovers. Nennt er dich auch Chérie, wenn ihr es miteinander treibt? Oh, ich habe diesen Namen so oft auf den Lippen gehabt, wenn …«
Durants Zeigefinger landete unsanft auf dem Display. Viel lieber hätte sie das Gerät an die Wand geworfen, als würde er darin sitzen, und sie würde ihn mit dieser Geste zerschmettern können. Doch stattdessen unterbrach sie die Verbindung, ein Impuls, gegen den sie nicht angekommen war und den sie schon eine Sekunde danach bereute.
»Was machst du da?«, wimmerte sie tonlos und mit zitternden Händen.
Doch schon erschien die Nummer erneut auf dem Bildschirm.
»Wage es nicht, mich noch einmal zu unterbrechen!«
Julia Durant schwieg. Sie hatte es mit einem Mann zu tun, der es gewohnt war, die Kontrolle zu behalten. Mit einem grimmigen Lächeln drückte die Kommissarin ein zweites Mal auf das rote Auflegesymbol.
Ob sie das Richtige tat? Sie wusste es nicht. Aber sie wusste eines: Schlimmer konnte es kaum kommen. Ein Täter, der durch Ungehorsam aus der Fassung zu bringen war, war ein verletzlicher Gegner. Und ein gefährlicher noch dazu, doch das war nichts Neues.
Durant zählte die Sekunden. Von irgendwoher erklang ein dumpfer Aufschlag. Doch das bedeutete inmitten Frankfurts recht wenig, sie war es gewohnt, Tag und Nacht einer Geräuschkulisse aus teils undefinierbaren Tönen ausgesetzt zu sein. Sie dachte an Frau Holdschick. Es hatte so gut gerochen im Flur. Ob das ein Essen des Pflegedienstes war oder ob sie sich selbst an den Herd gewagt hatte? War sie womöglich gestürzt?
Bevor sie zu Ende denken konnte, flammte die Displaybeleuchtung auf und verriet einen weiteren eingehenden Anruf.
»Wenn …« Es atmete, doch die Kommissarin schnitt ihm das Wort ab: »Wenn ich nicht sofort erfahre, wo wir uns treffen, lege ich wieder auf.«
Stille. Sie überlegte, ob sie ihn auszählen sollte, da meldete sich das Flüstern in seiner gewohnt angespannten Bedächtigkeit: »Ich wollte zuerst prüfen, ob du dich an unsere Vereinbarung hältst. Hier deine nächste Aufgabe. Gehe ins Wohnzimmer, platziere dich zwischen Sofa und Badezimmertür. Jacke und Bluse ausziehen. Die Waffe auf den Couchtisch legen. Die Handys auch. Die Telefonverbindung bleibt aktiv und auf Lautsprecher. Ich warne dich …«
»Ja ja, ist ja schon gut. Bevor ich mich auch nur einen Zentimeter bewege, will ich wissen, was mit Claus ist.«
»Romeo!«, säuselte es höhnisch. »Noch ist er warm. Beeil dich also besser.«
Noch immer zittrig, trat Julia an den vorgeschriebenen Platz. Sie bewegte sich langsam, um Zeit zu gewinnen. Er konnte sie sehen. Der erste Blick galt dem Fenster, doch die milchigen Vorhänge erlaubten keinen Einblick von außen. Zumal es in dieser Richtung kein direktes Nachbarfenster gab, sondern nur die Straße. Noch während sie über die technischen Raffinessen nachdachte, die es gab, Infrarot, Röntgen, Drucksensoren, machten ihre Augen das winzige Objekt aus, das sich im Bücherregal befand. Ganz oben, zwischen zwei Einbänden, kaum zu sehen. Genau dort hätte sie selbst es wohl auch platziert. So gerne sie einen näheren Blick riskiert hätte, sie drehte den Kopf unbeirrt weiter und hoffte, dass er das kurze Aufflammen ihrer Pupillen nicht bemerkt hatte.
»Tick, tack, tick, tack!«, drang die Stimme aus dem Lautsprecher. »Falls ich es noch nicht erwähnt habe: Ich kann dich sehen. Trödel also nicht rum.«
Falls du es noch nicht bemerkt hast: Ich weiß, dachte die Kommissarin grimmig und legte die beiden Telefone auf den Couchtisch. Danach zog sie ihre Bluse ab und nahm die Pistole aus dem nun frei liegenden Holster. Hielt kurz inne, widerstand dem Verlangen, ein Projektil in die Kameralinse zu jagen, und platzierte die Waffe ebenfalls auf dem Tisch. Wie zufällig tänzelte sie dabei und drehte sich, dann begann sie, die Bluse zu öffnen. Den Oberkörper in Richtung Fenster gewandt, er hatte von dieser Stripshow nur das Nötigste verdient.
»Brav«, kommentierte er. »Und jetzt einmal um die eigene Achse drehen.«
Durant gehorchte. Erleichtert, dass sie ein eng anliegendes Unterhemd trug und nicht im BH dastehen musste. Wie zufällig trafen ihre Finger, als sie die Arme vor der Brust kreuzte, das lange verheilte Gewebe oberhalb des Herzens.
War das ein leises Kichern, was dort vom Couchtisch her erklang?
»Fühlst du mich etwa immer noch?«, flüsterte es.
Und tatsächlich spürte Durant einen brennenden Stoß von kaltem Stahl unter ihrer Hand. Sie schmeckte Blut. Es quoll von überallher. Strömte unter ihre Zunge.
Der Atem setzte aus.
Wie nah sie ihm plötzlich war.
Nur ein paar Meter trennten sie voneinander, so nah waren sie sich seit damals nie wieder gewesen. Und in dieser Sekunde schien die Erkenntnis eingeschlagen zu haben wie ein Blitz, der endlich die ersehnte Ableitung gefunden hatte. Der sein Objekt derart heftig durchdrang, dass es jedes Atom zum Schmelzen zu bringen drohte, aber unbarmherzig weiterfuhr, ohne auch nur eine Sekunde zu verweilen. Ein Urknall der Erkenntnis, jedenfalls hoffte er dies.
Zufrieden nahm er das Telefon ganz nah vor den Mund. Tappte mit dem Finger ein letztes Mal über das Tablet, das vor ihm lag, nur um sicherzugehen, dass sich keine unerwünschten Besucher im Anmarsch befanden. Doch da war niemand.
»Bist du bereit für mich? Ich warte.«
»Wo denn, verdammt?« Julia Durant keuchte.
Wie gequält sie aussah. Und so verletzlich, wie sie in ihrem Wohnzimmer stand, die Arme vor den Brüsten verschränkt, als fürchte sie, er würde sich an ihr aufgeilen.
Heimlich richtete er seine Aufmerksamkeit in Richtung seiner Lenden. Tatsächlich regte sich da unten etwas, aber es lag nicht an den Rundungen dieser Kommissarin, nicht an ihrer sinnlichen Weiblichkeit, auch wenn diese noch immer überwältigend war.
Wenn man auf so etwas stand.
Was ihn erregte, war das Gefühl von Macht. Von Allmacht. Viel mächtiger als vor ein paar Tagen, als er über dieses nymphomane Miststück gekommen war. Als er entschieden hatte, Mia Emrich zu begnadigen. Als er sich als Patient bei der Cornelius eingeschlichen hatte, nur um darauf zu lauern, wann er sie kaltmachen konnte.
Er hatte Julia Durant in der Hand. Genau jetzt und genau so, wie er es sich immer ausgemalt hatte. Julia Durant.
Allein dieser Gedanke trieb ihm das heiße Blut in die Weichteile.
Runter und raus.
Das war das Extrakt seiner Worte. Julia Durant verstand es nicht, was das sollte.
Sie hatte soeben die nächsten Anweisungen empfangen, und das Aufeinandertreffen musste nun unmittelbar bevorstehen. Nicht wieder anziehen. Genau so bleiben. Die Waffe auf dem Tisch lassen und die Handys ins Klo werfen. Er hatte eindringlich wiederholt, dass er jeden ihrer Schritte sehen könne und jedes Fehlverhalten fatale Folgen nach sich ziehe. Runter und raus. Was bedeutete das genau? Langsame Schritte. Ohne zu sprechen. Die Wohnungstür schließen. Am Treppenende angekommen in Richtung Eingangstür wenden.
Und dann? Julia Durant hatte soeben die Mitte der Treppe hinter sich gelassen. Betont langsam, um die Zeit zum Nachdenken zu nutzen, was ihr aber nichts brachte. Wie wollte er sie erreichen? Stand er am Ende draußen, und sie würde ihm praktisch in die Arme laufen?
Vom Duft nach Bratensoße getragen, tappte sie weiter. Verharrte auf den Bodenfliesen, mit einem verstohlenen Blick auf die Kellertür. Dann setzte sie den rechten Fuß in Richtung Ausgang, als im selben Augenblick die Tür zur Wohnung von Frau Holdschick aufgerissen wurde.
»Rein!«, stieß er hervor. Sie sah zuerst den Lauf der Waffe, dann erkannte sie das Gesicht. Zumindest glaubte sie, in den gealterten Zügen etwas wiederzuerkennen. Der andere Arm wedelte und drängte sie zur Eile. Eine neue Woge Essensduft überrollte sie.
Scheiße . Er hatte sich direkt unter ihr eingenistet! Der Gedankensturm brach aufs Neue los. Wo war Claus? Wo war die alte Dame?
»Los! Rein hier!«
Julia Durant tat, wie ihr geheißen, und begab sich in die Höhle des Löwen.
Sofort drückte er die Tür wieder zu, zwang sie auf die Knie, und kurz darauf spürte sie seine Hände überall. Handschellen rasteten ein und Tape ratschte. Binnen Sekunden war die Kommissarin gefesselt und geknebelt. Sie war wie gelähmt, doch sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Solange sie nicht wusste, was mit Claus und Frau Holdschick war …
Er befahl ihr aufzustehen und griff ihr unsanft unter die Achseln. Dann stieß er sie in Richtung Wohnzimmer, wo sie in Richtung eines Sessels taumelte. Er drückte sie tief in das ausgesessene Polster. Durant hielt den Atem an, als er ihr das Klebeband um die Unterschenkel wand. Dann erblickte sie Claus, der regungslos auf dem Sofa lag. Seine Mundwinkel waren feucht, die Augenlider zuckten. Er lebte. Auch wenn seine Gesichtsfarbe alles andere als lebendig wirkte.
Ein gequältes Piepen war alles, was sie von sich geben konnte, denn schon reagierte der Mann mit einem schallenden Lachen. »Romeo, ach Romeo«, höhnte er lauthals. Von seinem Flüstern war keine Spur geblieben.
Erst jetzt gelang es der Kommissarin, seine Visage einer längeren Betrachtung zu unterziehen. Die tief liegenden Augen, aus denen das Böse blitzte. Quicklebendig wie eh und je. Alles andere an ihm war alt geworden, doch allein dieser Blick verriet, dass er genauso gefährlich war wie damals. Vielleicht sogar noch mehr.
Sie wusste nicht, wen sie in diesem Augenblick mehr hasste. Das Monster, das ihr da gegenüberstand – ihre personifizierte Nemesis – oder … sich selbst.
Warum war sie nicht viel eher daraufgekommen? Wie hatte sie ihrem Ex-Mann Stephan Derartiges zutrauen können? Warum hatte sie die Zeitungsberichte auf seinem Schreibtisch nicht genauer untersucht? Warum hatte es nicht sofort Klick gemacht? Pastor Durant hatte all diese Artikel zusammengetragen. Alles, was es über sie in den Medien zu lesen gab. Und Julia hatte die fein säuberlich ausgeschnittenen Papiere in einem Karton gestapelt, beinahe so wie das Poesiealbum eines selbstverliebten Teenie-Stars. Julia Durant, die selbstbewusste Schönheit vom Land, die ihre Traumhochzeit mit einem begehrten Junggesellen feierte. Vielleicht hatte sie es deshalb blockiert. Hatte nicht darüber nachdenken wollen, als sie es hatte vor sich liegen sehen. In derselben Wohnung, in der sie all diese Erinnerungen zusammengetragen hatte. Erinnerungen an ein anderes Leben, die sie nach ihrem Weggang verdrängt hatte.
Doch das war nur die eine Seite der Medaille. Neben der Ehefrau gab es auch noch Julia Durant, die toughe Kommissarin, der ein beeindruckender Ermittlungserfolg in der bayerischen Landeshauptstadt gelungen war.
Sascha Thibault. Es war der erste Tatort gewesen, den sie als leitende Ermittlerin der Mordkommission inspiziert hatte. Hans-Sachs-Straße, München. Thibault hatte sein Opfer in einer Szene-Bar angesprochen und auf bestialische Weise ermordet. Weitere Bluttaten folgten. Es hatte Monate gedauert, bis man die Ermittlungen ausreichend ernst nahm und erkannte, dass es sich um einen Serienmörder handelte. Damals tickten die Uhren noch anders, wenn es um Morde in diesem Milieu ging, und auch heute kannte Durant Kollegen, die sich nur nach außen hin tolerant gaben. Die obersten Stellen der Polizei hatten versucht, das Ganze herunterzuspielen, doch die Presse hatte sich wie ein Rudel hungriger Wölfe auf die Sache gestürzt. Thibault war aufgrund der besonderen Schwere seiner Taten zur Höchststrafe verurteilt worden, die, weil er keinerlei Reue zeigte, in Sicherheitsverwahrung übergehen sollte. Nie im Leben hätte sie sich ausgemalt, dass er noch einmal in Freiheit kommen würde. Bis zu ihrem Telefonat mit dem guten alten Boots.
»Du hast mich vergraben und vergessen«, sagte Thibault mit zornfunkelnden Augen. »Ich weiß nicht, wofür ich dich mehr hasse. Ich habe jeden einzelnen gottverdammten Tag an dich denken müssen. Ich habe mir ausgemalt, wie es sein wird, wenn wir uns wieder gegenüberstehen. Und ich hatte eine Menge Zeit, um es mir auszumalen, das kannst du mir glauben.«
Durant zeigte keinerlei Regung. Sie zwang sich, nur selten zu blinzeln und die Stirn nicht zu kräuseln. Kein Zucken mit den Augenbrauen, kein Kampf gegen das Klebeband, das er ihr um den Kopf geschlungen hatte.
Thibault redete sich in Rage. »Du hast keine Ahnung, wie es ist! Ich habe vier verschiedene Gefängnisse erlebt, und jedes davon war auf seine Weise die Hölle. Die Stille, die einen geradezu anschreit. Der Lärm, den die immer wiederkehrenden Alltagsgeräusche verursachen, weil man jeden Ablauf, jeden Ton aus dem Effeff kennt und vorhersagen kann. Das Winseln, das Singen, die Prügeleien, der Arschfick. Alles, was man aus dem Fernsehen kennt. Und dazwischen die Sehnsucht nach den Sonnenstrahlen, die jeden Tag ein paar Minuten zeitversetzt an deinem Fenster vorbeiwandern. Du hast mir mein Leben geraubt!«
Die Kommissarin hatte mittlerweile die Augen geschlossen, als ermüde sie der Monolog. Thibault sprang mit einem Kreischen auf sie zu und riss ihr das Klebeband vom Gesicht. Während Durant noch den Schmerz spürte, als der Kleber gleich mehrere Dutzend Haare mit sich riss, landete auch schon seine Handfläche mit einem Klatschen auf ihrer Wange.
»Hör mir gefälligst zu!«, schäumte er.
Durant hustete benommen. »Mir bleibt ja nichts anderes übrig.«
»Und? Was sagst du dazu?«
»Sie haben jeden einzelnen Tag davon verdient«, antwortete sie, was ihr nichts als ein höhnisches Lachen einbrachte. Thibault zog sich einen Stuhl heran und nahm vor ihr Platz, kaum mehr als eine Armlänge entfernt.
Derweil grub die Kommissarin weiter in ihrer Erinnerung. Thibault hatte ein teuflisches Spiel mit seinen Opfern gespielt, begonnen mit einem Giftcocktail, der nur der Anfang einer Reihe von Perversitäten gewesen war. Ihr Blick flog hinüber in Richtung Sofa. Hochgräbes Brustkorb hob und senkte sich kaum merklich.
»Haben Sie ihn auch vergiftet?«
»Romeo?« Er grinste breit. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Machen Sie mit mir, was Sie wollen«, sagte Durant, »aber lassen Sie ihn da raus.«
»Das hättest du wohl gerne. Ich habe eine bessere Idee. Ich lasse dich hier sitzen, bis dein Liebster seinen letzten Furz gelassen hat. Und du kannst nichts weiter tun, als dazuhocken und die Zeit verrinnen zu sehen. So wie ich es getan habe.«
»So wie Sie es zu Recht getan haben!«
»Ansichtssache. Ich habe die Welt damals von Krebsgeschwüren befreit, von krankem Bodensatz, wobei dies ja ein aussichtsloses Ansinnen war, wenn man sich die Medien heute so ansieht.« Thibault spie vor Ekel aus. »Es gab viele, die auf meiner Seite standen, das weiß ich genau.«
»Und was ist das Ehrbare daran, meine Freunde zu ermorden?«
»Rache. Egoismus.« Thibault verfiel in einen Singsang. »Frau Pfarrerin, ich habe gesündigt. Ich gebe zu, dass ich mein eigenes Verlangen in den Vordergrund gestellt habe.« Er klang nun wieder eiskalt. »Aber ich würde es wieder tun. Wieder und wieder, nur um dein Leben genauso zu zerstören, wie du meines zerstört hast. Damit, Chérie, habe ich mir meine Nächte vertrieben. Dieses Ziel war es, das mich auf meine Entlassung hinarbeiten ließ. Während meiner Haft wurden ein paar nützliche Dinge erfunden. Smartphones, Mikrotechnologie, das Internet. Ich habe dich studiert, denn dich zu finden war nicht schwer. Ich bin seit vierzehn Monaten draußen, und ich habe mir alle Zeit gelassen, um dich so hart wie möglich zu treffen. Begonnen mit Stephan«, er lachte bitter, »oh Gott. Was für ein Drama. Du hättest ihn sehen sollen, wie er winselnd vor mir saß. Jedes einzelne Tonband war eine Qual für ihn, jedes Mal fing er wieder an, sich zu wehren. Dieser Idiot. Wir haben über drei Wochen zusammengelebt, bis ich alles im Kasten hatte, denn ich musste mich ja auf alle Eventualitäten vorbereiten.«
Julia Durant konnte nur an eines denken, nämlich an Claus, aber es gelang ihr auch nicht, Thibaults Schilderung zu unterbrechen. Viel zu viele Fragen waren offen, doch so, wie er sich gab, hatte er tatsächlich jeden Schritt akribisch geplant. Monatelang. Jahrelang. Eine beängstigende Vorstellung.
»Was passiert denn mit mir, wenn Claus stirbt?«
Thibault kicherte erneut und tastete nach der Pistole, die er in seinen Hosenbund gesteckt hatte.
»Oh, das ist ja armselig«, bäumte Durant sich auf. »Ein kurzer Knall, und dann Schluss? Da hätte ich mir aber mehr erhofft!«
Sein Atem ging schneller, und er errötete. »Was denn zum Beispiel? Soll ich dich noch ficken? Glaub mir, ich habe darüber nachgedacht, und manchmal ging mir dabei sogar einer ab. Aber ich habe keine Lust. Ich will mich nicht mit dir vereinen, ich will, dass du kaputtgehst. Und zwar alleine.«
»Also töten Sie uns beide. Nacheinander.«
»Wer weiß. Wäre es dir lieber, du würdest gleichzeitig mit ihm abtreten?« Thibault schien ins Grübeln zu kommen. »In dem Bewusstsein, dass du nichts mehr für ihn tun konntest? Und in der Ungewissheit, ob es tatsächlich einen Himmel gibt?« Er winkte ab.
»Warum denn nicht? Es scheint ja keinen Sinn zu machen, um Claus’ Leben zu flehen. Also könnten wir wenigstens gemeinsam sterben – oder nicht?«
Thibault lachte auf. »Also wirklich wie ein Romeo, was? Und du willst seine Julia sein.«
»Gift ist doch Ihre Spezialität, wenn ich mich recht erinnere.«
Thibault verengte die Augen zu Schlitzen. »Du möchtest freiwillig Gift schlucken?«
Durant hob die Schultern. »Ist Ihre Show. Aber wenn ich sowieso nichts dagegen tun kann, möchte ich wenigstens ein bisschen Pomp. Glauben Sie mir. Ich habe schon so viele Mörder verhaftet: Wenn das Ende nicht spektakulär ist, werden Sie’s ewig bereuen. Da ist sonst mit einem Mal nichts mehr. Leere. Keine Aufgabe mehr. Und die Außenwelt wird es auch nicht kapieren. Wollen Sie etwa als Niemand in die Geschichte eingehen?«
Es war ihr selbst unheimlich, was sie da von sich gab. Aber sie kannte Thibault und seine verdrehte Persönlichkeit. Wusste, wie er tickte, und nutzte ihre Chancen bestmöglich. Zumindest hoffte sie das.
Und tatsächlich schien es zu funktionieren. Hinter den gefährlichen Augen spulte sich ein Film ab, dessen Bilder die Kommissarin zwar nicht sehen konnte, aber die Körpersprache Thibaults deutete darauf hin, dass er in die richtige Richtung ging.
»Wer hat eigentlich diesen leckeren Braten gemacht, nach dem es im ganzen Haus duftet?«, platzte es, scheinbar spontan, aus ihr heraus.
»Wie?« Thibault fing sich wieder. »Ach ja. Die alte Holdschick hat tagelang davon gefaselt, etwas für dich kochen zu wollen.« Er lachte auf, und der diabolische Klang ließ sie die traurige Wahrheit begreifen, noch bevor er hinzufügte: »Sie sitzt jetzt auf ihrer eigenen Duftwolke.«
»Das war unnötig.«
»Es war überfällig! In dieser Wohnung ist mehr als genügend Platz für eine vierköpfige junge Familie.«
Durant verkniff sich einen Kommentar. Stattdessen lenkte sie das Thema zurück: »Geben Sie mir eine Portion davon? Wenn nicht mir, dann Frau Holdschick zuliebe. Sie hat so gerne gekocht.«
»Mit oder ohne Gift?« Er grinste.
Sie zwang sich selbst zu einem Lächeln. »Das will ich gar nicht wissen. Aber wenn ich nicht bald etwas zu essen bekomme, sterbe ich an Unterzucker. Diabetes, das hat Ihnen das Internet sicher auch verraten, oder etwa nicht? Das wäre dann ein ziemlicher Reinfall nach all der Mühe, wenn ich von selbst krepiere.«
Mit einem Murmeln erhob sich Thibault. Er musterte sie. Tastete nach ihren Armen, die hinter dem Rücken lagen, und rieb anschließend über das Klebeband, das um Durants Schenkel geschlungen war. Dann baute er sich wieder vor ihr auf: »Ein Mucks, eine falsche Bewegung, und dein Lover kriegt eine Kugel in die Eier. Dann können wir Wetten abschließen, ob er zuerst an meinem Gift oder an seinem Blutverlust verreckt.«
»Ist ja schon gut. Ich habe doch bis jetzt auch keinen Ärger gemacht.«
Thibault verließ das Zimmer in Richtung Küche, wo er mit dem Geschirr zu klappern begann. Zweimal unterbrach er sich und reckte den Kopf in ihre Richtung.
Diabetes. Diese Info war ihm vollkommen entgangen. Hatte Stephan ihm das etwa bewusst verheimlicht? Oder band die Durant ihm einen Bären auf?
Thibault mahlte mit den Zähnen, als er Bratensoße, erkaltete Klöße und Rotkraut in einen tiefen Teller mischte. Dazu zwei Stücke Fleisch. Er hielt inne, dann griff er ein scharfes Messer und begann, die Scheiben so zu zerlegen, dass sie das Essen mit einem Löffel zu sich nehmen konnte. Alles andere war ein Risiko.
Insgeheim musste er sich eingestehen, dass er sich mehr erhofft hatte. Eine verzweifelte Frau, die um ihren Liebsten winselte und flehte. Die nicht derart gleichgültig mit ihrem eigenen Leben umging. Sie verhielt sich ja beinahe so, als wäre sie längst tot. Sie hatte aufgegeben. Lange bevor es so weit war.
Thibaults Faust ballte sich um den Griff des Messers. Hätte er auf diese Weise aufgegeben, hätte er es nicht bis hierher geschafft. Bis heute, bis zu diesem Showdown, auf den er so lange hingearbeitet hatte. Das Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück.
Sie war eben nicht so stark wie er.
Er dachte an das Gift und lächelte noch breiter.
Sie würde winseln. Und auch flehen.
Julia Durant kannte nur noch einen Gedanken.
Sie musste sich aus ihrer Lage befreien. Doch wie sollte das gehen, wenn dieses Monster alle paar Sekunden hereinschaute? Verzweifelt versuchte sie sich aus den viel zu weichen Polstern nach oben zu stemmen. Es gelang ihr nicht. Auch beim zweiten Versuch stellte sich kein Erfolg ein. Sie musste nach vorn, auf die Knie, doch wenn Thibault das mitbekam, würde er kurzen Prozess mit Claus machen.
Durant setzte ein Stoßgebet ab und dankte dem lieben Gott, dass Claus sich nicht in ihrem Wagen auf dem Grund des Baggerlochs befand. Doch war dieses Schicksal das bessere? Dann dachte sie an Hellmer. An den Porsche.
Als Thibault sich auch nach einer halben Minute nicht blicken ließ und intensiv damit beschäftigt schien, mit irgendeinem Besteck auf Porzellan zu klappern, setzte die Kommissarin alles auf eine Karte.
Sie begann laut zu husten.
Sofort erschien sein Kopf, beäugte sie mit Argwohn und verweilte für ein paar ewig erscheinende Sekunden, in denen sie erneut einen Hustenanfall vortäuschte.
»Etwas zu trinken wäre nett«, keuchte sie. Diesmal klang ihre eigene Stimme wie ein Flüstern.
Kopfschüttelnd beendete Thibault seine Tätigkeit. Danach griff er eines der ausgespülten Senfgläser, von denen die Alte ein halbes Dutzend im Schrank gehortet hatte. Ließ kaltes Leitungswasser hineinlaufen und trug das Glas ins Wohnzimmer.
»Hier. Trink aus.« Er hielt ihr das Glas an den Mund und kippte. Durant schluckte hastig, trotzdem ergoss sich ein Teil auf ihr Unterhemd. Schon wieder musste sie husten.
»Das genügt«, entschied Thibault genervt. Er stellte das Glas auf den Tisch und deutete hinter sich. »Ich komme jetzt mit dem Essen.«
»Danke.«
Vielleicht lag es am Klappern des Tabletts, auf das er den Teller und das Besteck platzierte. Vielleicht war es pure Nachlässigkeit. Doch für jemanden wie Thibault war es ohnehin schwer, einzugestehen, dass er jemanden unterschätzt hatte.
Als er mit dem Essen um die Ecke bog, noch immer darüber sinnierend, ob er Julia Durant die Handschellen lösen oder die Hände nur vor ihrem Oberkörper erneut fesseln sollte, erblickte er nur noch zwei Dinge.
Zuerst kam das Mündungsfeuer, unmittelbar gefolgt von einem Blutnebel, der aus ihm hervorbrach.
Der zuckende Schein des Blaulichts drang durch die offen stehenden Türen bis ins Wohnzimmer. Überall waren Stimmen und hektische Schritte zu hören, doch Julia Durants Aufmerksamkeit galt einzig und allein ihrem Liebsten.
»Claus«, wiederholte sie immer wieder, »hörst du mich?«
Für einen viel zu kurzen Moment hatten sich seine Lider geöffnet, nur einen Spaltbreit, aber was auch immer Thibault ihm verabreicht hatte, es war stärker. Der Brustkorb hob und senkte sich nur noch in Zeitlupe. Durant beugte sich vor, den Daumen oberhalb seines Lids angesetzt, und zog es nach oben. Sein Blick war leer. Doch war da nicht eine Reaktion der Pupillen auf das Licht? Oder bildete sie sich das ein?
»Verzeihung, Sie müssten …«
»Wie?«
Eine Notärztin, für Durants Geschmack viel zu jung, viel zu unerfahren, stand neben ihr und machte Anstalten, sie zur Seite zu schieben.
»Ich gehe hier nicht weg!«, rief Durant.
»Wir können ihm sonst nicht helfen.«
Doris Seidels Gesicht tauchte hinter ihr auf. Sie trat neben Julia, griff ihr sanft, aber bestimmt unter den Arm und zog sie fort. »Du musst sie ihre Arbeit machen lassen, hörst du?«
»Was ist, wenn er stirbt?«, hauchte die Kommissarin.
»Claus ist ein robuster Typ«, erwiderte Doris, auch wenn es viel zu besorgt klang, um glaubhaft zu wirken. »Du kannst ihn sicher begleiten. Aber er muss so schnell es geht in die Klinik.«
»Es ist Gift, hören Sie«, sagte Julia in Richtung der Ärztin. »Ein starkes Mittel, das ihn langsam von innen her auffrisst.« Das, was sie hinterherschob, ging in einem Schluchzen unter: »Er hat nicht mehr viel Zeit.«
Hinter einem Tränenschleier verborgen, sah sie, wie man Claus auf eine Trage bettete und allerlei routinierte Handgriffe vollzog.
Ob sie über das Gift Bescheid wisse, wollte man von ihr wissen.
Und: »Sind Sie mit ihm verwandt?«
Julia Durant schüttelte den Kopf, bevor sie in Tränen ausbrach.
Nein. Nicht einmal das war sie.
Peter Kullmer richtete sich auf. Der Teppichboden war blutgetränkt, doch es sah nach mehr aus, als es war. Die Blutmenge, die der Angeschossene verloren hatte, war nicht lebensbedrohlich. Ebenso wenig wie die Wunde. Julia Durant hatte den Schuss mit gefesselten Händen abgegeben, aus Hellmers Dienstwaffe, die sie, an ihrem linken Fußgelenk verborgen, in die Höhle des Löwen geschmuggelt hatte. Das Projektil war erstaunlich präzise in seinen Oberarm eingedrungen, hatte das Fleisch zerfetzt und vermutlich einen Teil des Knochens gestreift. Der Kommissar versuchte zu begreifen, was das Tablett mit dem noch immer dampfenden Essen für eine Rolle spielte. Der Mann musste in den Raum getreten sein, das Tablett auf den angewinkelten Armen, und in diesem Augenblick hatte Julia den Abzug gedrückt. Sekunden später waren die Beamten mit gezückten Waffen durch die Tür gebrochen.
»Ganz kurz«, bat er die beiden Frauen, die sich ihm näherten. Sie folgten einem Zug von Personen, die Claus Hochgräbe nach draußen trugen. Er sah bedrohlich blass aus, und das machte Kullmer Angst. Hochgräbe war nicht nur ein guter Chef, er spielte auch für Julia eine unersetzliche Rolle. Umso fahriger wirkte sie in dieser Sekunde, als sie vor ihm stehen blieb und sich die Augenwinkel ausrieb.
»Ich möchte bei Claus bleiben«, flüsterte sie.
»Kein Problem. Aber was ist hier passiert?«
»Ich fahre mit ihr«, sagte Doris. »Dann kann sie es mir erzählen.«
Zwei Männer mit einer weiteren Trage schoben sich in den Flur und verfrachteten Thibault darauf. Er stöhnte auf, die Schmerzen seiner notdürftig verarzteten Wunde schienen heftig zu sein. Als sie ihn nach oben hievten, kippte sein Kopf in Durants Richtung.
»Warum hast du mich nicht abgeknallt?«, fragte er, und seine Stimme klang unerwartet kräftig. »Dann wäre es endlich vorbei.«
»Weil du den Tod nicht verdient hast«, erwiderte die Kommissarin grimmig. »Genauso wenig wie Alina oder Tanja oder irgendwer. Du wirst den Rest deines Lebens hinter Gittern sein, und ich bete zu Gott, dass es ein langes Leben sein wird.«