Am 15. Mai um 11 Uhr machten sich an die zwanzigtausend Mitglieder der radikalen Pariser Klubs von der Place de la Bastille zur Nationalversammlung auf. Angeführt wurden sie von Aloysius Huber, dem Präsidenten des Club des Clubs, Dachorganisation der revolutionären Vereinigungen. Es war eine Sympathiekundgebung für Polen, wo kurz zuvor in Posen und auf den Straßen Krakaus die Revolution niedergeschlagen worden war. Huber und die meisten Mitglieder des Präsidiums hatten auf einer friedlichen Demonstration bestanden. Die Exekutivkommission, die neue, von der kürzlich gewählten Nationalversammlung berufene Regierung, kannte die Pläne der Revolutionäre, entschied aber, eine Machtdemonstration und Konfrontation zu vermeiden, wenn auch das Corps législatif, die gesetzgebende Körperschaft, durchaus mit militärischen Mitteln hätte verteidigt werden können. Dieser Zurückhaltung war es sicher zu verdanken, dass der Tag ohne Blutvergießen endete; wie leicht hätte es zu einem Fiasko kommen können. Als die Demonstranten am Palais Bourbon, dem Versammlungsort der Legislative, ankamen, drängten etwa dreitausend Klubmitglieder in den Saal. »Ich hätte niemals gedacht, daß der Zusammenklang menschlicher Stimmen einen so gewaltigen Lärm erzeugen könnte«1, schrieb später ein erstaunter Tocqueville, der dort auf seinem Abgeordnetenstuhl saß. Lamartine schritt auf und ab, während er vergeblich versuchte, mit den Eindringlingen zu verhandeln. Als die Menge nicht mehr zu halten war, marschierte Alexandre Raspail in den Saal. Zuvor hatten die Demonstranten seine zornige Petition eilig angenommen, da Huber gedankenlos die offizielle vergessen hatte. Nun war Raspail in dem Lärm kaum zu verstehen.
Die Situation verschärfte sich, als der bleiche Louis-Auguste Blanqui, der revolutionäre Sozialist, ans Rednerpult trat. Blanqui zählte zu den leidenschaftlichsten republikanischen Verschwörern und war nach dem fehlgeschlagenen Aufstand von 1839 zusammen mit Armand Barbès zum Tode verurteilt worden. Nach einem öffentlichen Aufschrei, angeführt von Lamartine und Victor Hugo, war das Urteil in lebenslange Haft umgewandelt worden. Bei Ausbruch der Revolution stand Blanqui (der bei seinem Tod im Jahr 1881 insgesamt dreiunddreißig Jahre in Gefangenschaft verbracht hatte, was ihm den Spitznamen »l’Enfermé« oder »der Eingekerkerte« einbrachte) in Blois unter Hausarrest. Nach seiner Freilassung war er gleich nach Paris zurückgekehrt und hatte, in der Absicht, einen Aufstand anzuzetteln, der in einer richtigen Revolution münden würde, den Republikanischen Zentralverein ins Leben gerufen. Tocqueville, der ihn hier zum ersten und einzigen Mal sah, schrieb, Blanqui »hatte abgezehrte und zerfurchte Wangen, bleiche Lippen und machte durch seine schmutzige Blässe einen krankhaften, bösartigen und abstoßenden Eindruck. Sein Äußeres war wie von Schimmel überzogen; Wäsche war nicht zu sehen, ein alter schwarzer Mantel umschloß eng seine dünnen und mageren Glieder; er sah aus, als habe er in einer Kloake gelebt und sei von dort hierher gekommen.«2 Angesichts von Blanquis Politik und Charakter – kompromisslos, asketisch, hitzig, manchmal sarkastisch, sozialistisch und revolutionär – überrascht es kaum, wenn Anhänger der Gemäßigten vor ihm zurückschreckten. Allerdings hatte er einen guten Grund für seine finstere Erscheinung: Seine Frau war gestorben, während er im Gefängnis saß, und seitdem kleidete er sich von Kopf bis Fuß in Schwarz. Nicht einmal ein weißes Hemd milderte seine Trauer ab, und selbst die Hände steckten in schwarzen Handschuhen. Blanqui besaß politische Fähigkeiten, die ihm unter den Linken glühende Bewunderer einbrachten: »Seine präzisen, eindringlichen und nachdenklichen Worte … schnitten scharf wie Skalpelle.«3 Die Loyalität, die er unter seinen Anhängern zu wecken vermochte, war im April auf die Probe gestellt worden, als der Journalist Jules Taschereau (einer der Gemäßigten, die im Februar das Bankett aus dem 12. Arrondissement verlegt hatten) ein Dokument veröffentlichte, mit dem er zu beweisen suchte, dass Blanqui im Jahr 1839 seine Genossen betrogen habe. Barbès, der sich während des Aufstandes mit Blanqui zerstritten hatte und den starken Mann hinter der provisorischen Regierung spielte, hatte diesen nur zu gern für schuldig befunden. Letzterer schlug mit einer leidenschaftlichen Verteidigungsschrift zurück, von der hunderttausend Exemplare verkauft wurden: »Ihr greift mich wegen meiner Unbeugsamkeit in Sachen Revolution und meiner unbeirrbaren Hingabe an meine Ideale an«.4 Sein Klub scharte sich um ihn: Rund sechshundert Mitglieder versammelten sich vor seinem Haus und trugen ihn mit Rufen wie »Nieder mit der National!« im Triumphzug zu ihrem Versammlungsort zurück. Die Authentizität von Taschereaus Dokument konnte nie einwandfrei ermittelt werden. Zwar schädigte es Blanquis’ Ruf, die Loyalität des harten Kerns seiner Anhänger konnte es aber nicht erschüttern. Solcherart gerüstet, konnte er seinen Gegnern weiterhin Angst einjagen.
Jetzt, am 15. Mai, forderte er die Wiederherstellung Polens, doch als er seine Rede gehalten hatte, wurde er, Augenzeugenberichten zufolge, von »Männern mit grimmigen Gesichtern umgeben«, die ihre Fäuste hoben und schrien: »Rouen! Rouen! Sag was zu Rouen!«5 – womit sie auf ein Massaker anspielten, das im April in der normannischen Stadt an Arbeitern verübt worden war. Das Chaos steigerte sich zu wahrer Anarchie, als verschiedene Redner, darunter Barbès, Forderungen stellten: einen Krieg für Polen; die Ächtung von »Vaterlandsverrätern«; die Entlassung der neuen konservativen Minister und die Schaffung eines Gremiums zur Beaufsichtigung der neuen Regierung. Als schließlich die Nationalgarde eintraf, um den Saal zu räumen, drohte ein Demonstrant spontan, den Präsidenten der Nationalversammlung zu töten, würde sich das Militär nicht zurückziehen. Im Eifer des Gefechts verlor Huber seinen kühlen Kopf und vergaß alle Bemühungen um eine friedliche Kundgebung. Er erhob seine Faust in Richtung Präsident und schrie, die Nationalversammlung hätte die Menschen betrogen und sei nun »aufgelöst«. Den Demonstranten aber eröffnete sich damit die Möglichkeit, eine neue Regierung auszurufen, die aus der republikanischen Linken, darunter Barbès, Louis Blanc, Ledru-Rollin, Caussidière und Albert, bestand. Nachdem der Saal durch die Nationalgarde geräumt worden war, begaben sich drei- bis vierhundert Menschen unter der Führung von Barbès zum Rathaus und begannen, Verordnungen zu erlassen. Als schließlich die Nationalgarde auch hier eintraf, erklärte Barbès, er sei zu beschäftigt, um sich festnehmen zu lassen, denn er sei jetzt Regierungsminister. Davon unbeeindruckt, führten ihn die Soldaten ab und brachten ihn zum Schloss Vincennes, wo er zusammen mit Albert, Raspail und Huber inhaftiert wurde. Blanqui schaffte es, der Polizei zu entkommen, und blieb bis zum 26. Mai auf freiem Fuß. Die journée vom 15. Mai war vorbei: Was als geordnete Demonstration begann, hatte sich fast zu einem Aufstand entwickelt und wäre womöglich der unbeholfene Versuch eines coup d’état gewesen. Das Ganze endete jedoch in einer Farce, die allerdings tragische Auswirkungen auf die Zweite Republik insgesamt haben sollte.6
Gibt es einen Tag, der europaweit als Wendepunkt für das Jahr 1848 gelten kann, dann war dies der 15. Mai. Neben der »roten« Welle in Paris wurde an jenem Tag in Wien die Sturmpetition überbracht; in beiden Fällen versuchten die Radikalen, die Revolution stärker nach links zu drängen, forderten aber lediglich den konservativen Gegenschlag heraus. Und auch das andere Ereignis des Tages – die Gegenrevolution in Neapel – war aus Sorge vor einer Radikalisierung entstanden. Hinter dieser Sorge verbargen sich tief verwurzelte Ängste davor, dass die Revolution in Terror und soziale Unruhen abgleiten könnte. Während der Märztage in Wien hatten Arbeiter Fabriken niedergebrannt und Geschäfte geplündert und auch in Prag wurden tschechische Liberale von der Erinnerung an die Arbeiteraufstände des Jahres 1844 heimgesucht, bei denen die Obrigkeit eine Woche lang ganze Viertel verloren hatte. Dabei waren die politisch militanten Arbeiter Europas im Allgemeinen eher die gelernten Arbeiter aus den Handwerksbetrieben und nicht etwa die Proletarier aus den Fabriken oder Eisenbahnunternehmen. Erstere waren belesener und besaßen ihre eigenen Berufsverbände, dazu Traditionen sozialen und politischen Handelns. Ihre Unabhängigkeit jedoch war durch die Industrialisierung, das Fabrikwesen und modernere und kostengünstigere Produktionsformen bedroht. 1848 sollten sich nun die Forderungen der Handwerker nach Schutz vor dem harten Wettbewerb mit den utopischen Ideen sozialistischer Theorien verbinden. In Frankreich waren die Städte wie Paris, Lyon, Rouen und Limoges voll von derart politisch denkenden Arbeitern, aber auch in Deutschland gab es sie, vor allem in Sachsen, Württemberg, Preußen, Frankfurt und im Rheinland. In italienischen Städten dagegen fielen bei Handwerkern und Facharbeitern nicht so sehr die neuen sozialistischen Theorien als vielmehr Mazzinis republikanische Propaganda auf fruchtbaren Boden. In Wien schließlich hatten die Arbeiter kein eigenes politisches Programm entworfen, doch indem sie sich der Führung von Studenten und Journalisten anvertrauten, bildeten sie die proletarische Schlagkraft hinter der radikalen Mittelstandsbewegung.
Die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse und die radikale Linke schienen nicht nur die Adligen und das gut betuchte Großbürgertum zu bedrohen, sondern jeden, der Besitz vorzuweisen hatte, darunter auch die landbesitzenden Bauern und die vermögenderen Handwerker. Tocqueville, der Mitte März in die heimatliche Normandie zurückgekehrt war, um dort Wahlkampf für die verfassunggebende Versammlung zu machen, stellte in Bezug auf seine ländlichen Wähler fest: »Die Angst, die sich zunächst nur der oberen Gesellschaftsklassen bemächtigt hatte, ergriff auch das Volk und ein allgemeiner Schrecken verbreitete sich im ganzen Lande.«7 Das Schreckgespenst einer Revolution weckte den angestammten Konservatismus jener, die noch in der einen oder anderen Form von den Februar- und Märzrevolutionen profitiert hatten, für die jetzt aber die Zeit der Stabilisierung gekommen war. Doch letztlich sollte es sich als unmöglich erweisen, die politischen Errungenschaften der 1848er-Revolution zu bewahren und gleichzeitig wieder »Ordnung« herzustellen. Die Panik (für manche Gegenden ist dieser Ausdruck nicht übertrieben) vor weiterer revolutionärer Gewalt, sozialem Umsturz und dem »Sozialismus« erwies sich stärker als die Bindung an die liberalen Erfolge des Frühjahrs. Konfrontiert mit der Wahl zwischen neuer politischer Freiheit oder damit, Leben und Besitz beziehungsweise ihr Gemeinwesen an »Anarchie« und »Kommunismus« zu verlieren, entschieden sich die meisten der Sicherheit zuliebe, ihre Freiheit zu opfern. Deshalb spielten die Ängste, die der Aktivismus des linken Flügels schürte, den Konservativen in die Hände. In ihrem Bemühen, eine zweite Revolution zu verhindern, gaben Liberale, Gemäßigte und Unabhängige viel von der Mitte preis, indem sie zu autoritäreren Mitteln griffen. Der »glutrote Sommer« spaltete die Revolution in links und rechts und verursachte einen unwiederbringlichen Bruch, der die Konservativen in die Lage versetzte, zurückzuschlagen.
I
In Paris hatten die gemäßigten Republikaner bereitwillig anerkannt, dass die Februarrevolution eine Massenbasis besaß. Sie gratulierten sich und den Pariser Arbeitern dazu, die Ordnung in der Stadt aufrechterhalten zu haben. Trotzdem schäumte immer wieder sozialistisches Gedankengut an die Oberfläche. Arbeiter gründeten politische Klubs, denen radikale Republikaner und Sozialisten vorstanden. Diese breite Bewegung war entschlossen, es nicht zur Wiederholung der 1830er-Revolution kommen zu lassen, von der sie nicht profitiert hatten. Folglich verzeichneten die Klubs, deren Ziel es war, den Verlauf der Revolution zu beeinflussen, starken Zulauf unter den Arbeitern. Allein in Paris zählte man im März und April etwa zweihundert solch »volksnaher« Vereinigungen,8 in denen Arbeiter über die »demokratische und soziale Republik« diskutierten – eine neue Regierungsform, die ihnen nicht nur politische Freiheiten gewähren, sondern auch eine aktive Rolle bei der Neuordnung der Gesellschaft zuteilen würde, sodass Armut und die harte Wirklichkeit eines Lebens in der Arbeiterklasse ein Ende hätten. Aus diesem Grund nahm die republikanische Linke schnell die Bezeichnung »demokratische Sozialisten« – démoc-socs – für sich in Anspruch. Am 25. Februar wurde in einer Petition an die kommissarische Regierung »das Recht auf Arbeit« verlangt, »eine garantierte Mindestversorgung für den Arbeiter und seine Familie im Krankheitsfall« und die »Organisation von Arbeit«,9 womit im Allgemeinen eine vom Staat subventionierte Reform der Arbeitsbedingungen, der Löhne und der Beziehungen zur Industrie sowie die Gründung von Produktionsgenossenschaften gemeint war. Den Liberalen des 19. Jahrhunderts, durchdrungen wie sie waren von der Wirtschaftslehre des Laisser-faire, schienen diese Forderungen gefährlich sozialistisch und ökonomisch kontraproduktiv. Der Besitzer der gemäßigten Zeitung Le Constitutionnel erinnert sich: »An dem Tag, der auf die Februar-Revolution folgte, zitterte der Bourgeois von Paris um seinen Kopf, und sobald er sicher war, ihn zu behalten, zitterte er um seine Geldbörse.«10
Die kommissarische Regierung hatte Lösungskonzepte verabschiedet, mit deren Hilfe die verzweifelte wirtschaftliche Situation der Arbeiter gemildert werden sollte, aber die Ergebnisse erwiesen sich als ebenso ungeeignet, das Elend abzumildern, wie, die ehrgeizigeren Erwartungen der Linken zu befriedigen. Der Beschluss, der schließlich am meisten Verärgerung auslösen sollte, obwohl er zunächst gar kein Streitpunkt war, war der Beschluss vom 25. Februar zur Gründung von Nationalwerkstätten. Er versprach »das Recht auf Arbeit für alle Bürger«, indem den Bedürftigen Arbeitsplätze bei (oft mühsamen) öffentlichen Bauvorhaben zur Verfügung gestellt werden sollten. Für eine Regierung, deren Zusammensetzung weder eine radikale sozialistische Antwort auf das Problem der Arbeitslosigkeit erlaubte, noch das freie Spiel des Marktes zugestehen konnte, war dies eine naheliegende Lösung. In Erwiderung auf die Arbeiterproteste am 28. Februar schuf die Regierung zudem im ehemaligen Plenarsaal der Pairs im Palais du Luxembourg eine Kommission für die Belange der Arbeiter unter Vorsitz von Blanc und Albert. Die »Luxembourg-Kommission«, die sich aus Delegationen verschiedener Branchen zusammensetzte, sollte sich mit den Belangen der Arbeiter und Handwerker befassen, womit sie zu deren Forum und Sammelpunkt wurde. Die meisten ihrer Forderungen waren weniger sozialistisch, vielmehr spiegelten sie die vertrauten Anliegen von Arbeitern wider, die von der Geschwindigkeit sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen bedrängt wurden: höhere Löhne, Mindestpreise für Waren, bessere Arbeitsbedingungen, das Recht, Gewerkschaften zu gründen, die Schaffung eines Schiedswesens für gewerbliche Beziehungen, die Aufhebung der marchandage (oder Subunternehmertums, das ein Instrument der Ausbeutung war, da der Subunternehmer durch niedrigere Vergütung seiner Arbeiter seinen Gewinn maximierte), die Einschränkung des Maschineneinsatzes und der Konkurrenz durch Frauen und ungelernte Arbeiter (deren Löhne niedriger waren), die Schaffung von Nationalwerkstätten für alle Berufe sowie staatliche Unterstützung der Industrie. Am ersten Versammlungstag der Kommission verbot diese – unter Zustimmung der Arbeitgeber – die marchandage und verkürzte den Arbeitstag von durchschnittlich fünfzehn Stunden auf zehn Stunden in Paris und elf in den Provinzen. Außerdem wurde ein Schiedsausschuss aus zehn Arbeitnehmern und zehn Arbeitgebern eingerichtet, der sich mit gewerblichen Konflikten befassen sollte.
Was das Regieren in dieser Zeit ungleich schwerer machte, war eine äußerst schwierige Haushaltslage mit katastrophalen Auswirkungen, was die Steuereinnahmen betraf. Das neue Regime war entschlossen, dem Defizit zugunsten der finanziellen Stabilität Rechnung zu tragen. Schnell beglich es die geschuldeten Zinsen, konnte dies aber nur mittels einer Erhöhung der direkten Steuern um 45 Prozent bewerkstelligen – was sofort als »45-Centimes-Steuer« bezeichnet wurde. Dadurch wurde ein großer Teil der vermögenden Bevölkerung verprellt, der in der Wirtschaftskrise ohnehin zu kämpfen hatte. Während die Regierung triftige finanzpolitische Gründe für den Steuerzuschlag hatte, schien es den Betroffenen, als müssten sie für die Nationalwerkstätten aufkommen. Im Verein mit der Angst vor einem Aufstand wurden durch diesen Unmut die Fronten für einen Zusammenstoß zwischen den Radikalen und den Gemäßigten abgesteckt.
Der Pariser Aufstand vom 15. Mai indessen wirkte als Katalysator einer Radikalisierung. Zwar waren die republikanischen Sympathien für Polen (»das Frankreich des Nordens«) aufrichtig, zugleich aber boten sie eine Gelegenheit, der revolutionären Linken neues Leben einzuhauchen. Was die démoc-socs brauchten, war Adrenalin, denn bei den Wahlen am 23. April hatten sie eine herbe Niederlage einstecken müssen. Von 900 Sitzen waren gerade einmal 150 linksgerichtet. Gemäßigte Republikaner bildeten nun einen Block von etwa 500 Sitzen; die Rechte, die sich aus Legitimisten (Royalisten, die die alte Dynastie der Bourbonen unterstützten) und Orléanisten zusammensetzte, zählte 250 Sitze. Weil überhaupt nur Männer wahlberechtigt waren, bestand die überwältigende Mehrheit der Wähler aus Bauern. Die Ergebnisse spiegelten somit den anhaltenden Einfluss der ländlichen Eliten wider. So geleitete Tocqueville am Wahltag rund 170 »seiner« in der Normandie lebenden Dorfbewohner zu den Urnen. Bescheiden hielt er fest: »Ich habe Grund zur Annahme, daß sie fast alle den gleichen Kandidaten wählten.«11 Viele Bauern unterstützten ihre Honoratioren, aber ihr Votum ging über einfache Ehrerbietung hinaus, es war Ausdruck des Unmuts über die »45-Centimes-Steuer«. Eine Zeitung erklärte, das Landvolk sei »es müde, faule Leute zu ernähren …, die … aus dem Umgehen von Arbeit ein Geschäft machen«.12 Darüber hinaus zeigte die Abstimmung die allgemeine Angst vor dem Chaos, die die Männer naturgemäß dazu verleitete, gemäßigte oder konservative Abgeordnete zu wählen und nicht solche, die für noch mehr Unruhe standen. Somit war es bezeichnend, dass die radikalen Republikaner erst jetzt versuchten, die breitere Bevölkerung zu erreichen – dass die Wahlen schon zwei Monate nach der Februarrevolution abgehalten wurden, bedeutete nur, dass ihnen wenig Zeit blieb, Wechselwähler zu gewinnen.
Die Wahlergebnisse versetzten dem linken Flügel einen schweren Schlag. Hinzu kam, dass die Arbeitslosen der Städte allen Grund hatten, um das Weiterbestehen der Nationalwerkstätten zu fürchten. Als sich nun herauskristallisierte, dass in Limoges die Konservativen die Wahl für sich entscheiden würden, stürmten Arbeiter die Präfektur: Bewaffnet mit Hacken, Spießen, Stöcken und Stangen fegten sie die Nationalgarde beiseite und zerrissen die Unterlagen für die Stimmenauszählung. Ende April hatten die Arbeiter zwei Wochen lang die Stadt unter Kontrolle. Mit Äxten und Schlagstöcken bewaffnet, patrouillierten sie in Gruppen durch die Straßen und bewachten die strategisch wichtigen Punkte.13 Schließlich beruhigten sich die Gemüter, und die Rebellen gaben der rechtmäßigen Obrigkeit die Herrschaft zurück. In Rouen gestaltete sich die Situation weitaus schwieriger. Die in der Normandie gelegene Textilstadt litt besonders schwer unter Arbeitslosigkeit, und die Arbeiter demonstrierten lautstark gegen die Wahlergebnisse vom 26. April. Ihnen stellte sich die Nationalgarde entgegen, deren Kavallerie in die Menge sprengte. In dem Handgemenge wurde ein Demonstrant tödlich verletzt und dadurch ein regelrechter Aufstand ausgelöst. Arbeiter rissen Pflastersteine heraus, um damit Barrikaden zu bauen, bewaffneten sich mit Eisenstangen und Werkzeugen. Am nächsten Tag fuhr das Militär Artillerie auf und sprengte die Verteidigungseinrichtungen, was dreiundzwanzig Menschenleben kostete.
Die Ereignisse in den Provinzen sollten schließlich in Paris zum Aufstand führen. Blanquis Republikanischer Zentralverein verurteilte das Gemetzel als »Bartholomäus-Massaker an Arbeitern«. Die Tatsache, dass der Beamte, der die Vorgänge untersuchen sollte, ebenjener Staatsanwalt war, der 1839 Blanquis Todesurteil erwirkt hatte, war nicht eben dienlich. Die Gesellschaft für Menschenrechte warnte ihre Mitglieder, dass »morgen Paris an der Reihe ist, wenn heute die Reaktionäre in Rouen zu den Waffen greifen«.14 In dieser aufgeheizten Stimmung trat am 4. Mai zum ersten Mal die gemäßigt ausgerichtete Nationalversammlung zusammen.
Was zu der Demonstration elf Tage später führte, ob es die aufgeheizte Atmosphäre nach den Wahlen war, ist nicht mehr klar zu ermitteln. Blanqui war von Anfang an dagegen, weil er glaubte, die früheren Kundgebungen hätten die öffentliche Meinung zum Nachteil beeinflusst und eine erneute Demonstration der Stärke würde potenzielle Sympathisanten eher abschrecken.15 Keiner der Hauptorganisatoren schien zunächst einen Aufstand geplant zu haben. Joseph Sobrier, der Stellvertreter des sozialistischen Polizeipräfekten Caussidière, erklärte dem Sozialisten Victor Considérant am 12. Mai, dass die gesetzgebende Körperschaft es sich nicht leisten könne, die »öffentliche Meinung« (gemeint waren die Demonstranten) zu verletzen. Denn »ihre Würde erfordere es zwingend, nicht den Eindruck zu erwecken, als würde man dem Druck der Leute nachgeben«. Stattdessen müssten sie die Einheit mit ihnen darstellen wie in einer »feierlichen Abordnung aller Völker in einem spontanen und glorreichen Augenblick des Patriotismus und dem Sieg der Demokratie«.16 Mit anderen Worten: Die gemäßigten Republikaner sollten moralisch unter Druck gesetzt werden, damit sie sich mit den Radikalen vereinten und ihre Forderungen respektieren und nicht den autoritären Schmeicheleien der Konservativen erliegen sollten.
Die verheerende Wendung, die die Ereignisse am 15. Mai jedoch nahmen, versetzte den démoc-socs einen schweren Schlag. Ihre bekanntesten Führer wurden verhaftet, und Caussidière – der Einzige, der seit den Aprilwahlen noch an einer Machtposition festhalten konnte – verlor seine Stelle bei der Polizeipräfektur, da seine Volksgarde nichts gegen die Stürmung der Nationalversammlung unternommen hatte. Seine Männer, die Caussidière bis zum Letzten ergeben waren, verbarrikadierten sich in der Präfektur, gaben aber nach einer kurzen Belagerung unter dem Oberbefehl von General Bedeau auf. Das Verhalten der Radikalen erlaubte es den Konservativen Misstrauen zu schüren, sogar gegenüber dem gemäßigten Flügel der Réforme-Richtung, der sich nicht an dem Aufruhr beteiligt hatte und demokratisch gesinnt war. Blanc und Ledru-Rollin, die weder mit der Planung noch mit der Durchführung des Aufruhrs zu tun hatten, gerieten sofort unter Druck. Ersterer konnte sich nur knapp der Festnahme entziehen, obwohl er am 15. Mai von Demonstranten grob behandelt worden war; er wurde vor einem parlamentarischen Ausschuss angeklagt, überstand aber die Schlussabstimmung in der Nationalversammlung. Ledru-Rollins talentierte Assistentin, die Zigarre rauchende, Hosen tragende Feministin George Sand, die während seiner Zeit als Innenminister bei der Herausgabe seines Bulletin de la République geholfen hatte, war so enttäuscht, dass sie Paris verließ und Zuflucht auf dem Land suchte. Die Mitte zerbröckelte unter den Füßen jener Republikaner, die eine friedliche Sozialreform anstrebten – ein Kompromiss zwischen »Ordnung« und »sozialer Republik« wurde immer unwahrscheinlicher, und das war gefährlich. Am 5. Juni verabschiedete die Nationalversammlung ein Gesetz, das ein hartes Vorgehen gegen Versammlungen erlaubte. Die politischen Klubs dümpelten noch vor sich hin, aber die Verhaftungen hatten sie ihrer prominentesten Führer beraubt: die revolutionäre Linke war faktisch »enthauptet« worden.
Im Anschluss sollte es zur größten Tragödie der Französischen Revolution von 1848 kommen. Als die Exekutivkammer die Luxembourg-Kommission auflöste, die angeblich »das Gift ihrer Theorien«17 unter den Arbeitslosen der Nationalwerkstätten »versprüht« hatte, sollte der Weg beginnen, der schließlich in der Agonie der Junitage mündete. Doch zunächst traf man Vorbereitungen zur Stilllegung der Nationalwerkstätten: Ab dem 20. Mai wurden sie einer Überprüfung unterzogen. Ein Untersuchungsausschuss stellte fest, dass sie unglaubliche 115 000 Menschen beschäftigten, und erklärte, sie wären eine Bedrohung für die soziale Ordnung – eine Behauptung, der durch die Tatsache Vorschub geleistet wurde, dass am 15. Mai drei Viertel der Demonstranten Arbeiter der Nationalwerkstätten waren. Der königstreue Comte de Falloux, Mitglied des Ausschusses, folgerte daraus, dass die Nationalwerkstätten »aus wirtschaftlicher Sicht nichts weiter als ein Dauerstreik« seien, »der am Tag 170 000 Francs kostet … aus politischer Sicht eine Quelle drohenden Aufruhrs«.18 Am 27. Mai wurde ihr Leiter Émile Thomas entlassen, was weithin als erster Schritt zu ihrer Schließung angesehen wurde. Die Gemäßigten schienen sich auf eine endgültige Abrechnung mit der radikalen Linken einzustellen. Der neue Polizeipräfekt berichtete, dass »alle Bürger, die gewerbliche oder kommerzielle Interessen verfolgen, lieber eine gewalttätige Auseinandersetzung wollten, bevor sich die Sache noch länger hinziehe … Man sagt, die Regierung hätte angesichts all der mannigfaltigen Missstände, die sich durch die Nationalwerkstätten ergeben, entschiedene Maßnahmen ergreifen müssen.«19 Am 20. Juni unternahm die Nationalversammlung den erwarteten, doch gefürchteten Schritt: Sie schloss die Nationalwerkstätten und ordnete an, dass die Arbeiter entweder zur Armee eingezogen oder zum Entwässern der Sümpfe in die Sologne geschickt werden sollten.
Die Antwort der Arbeitslosen kam schnell: »Wer, wenn nicht der Staat«, schrieben die Vorarbeiter der Werkstätten, »wird uns Arbeit geben in einer Zeit, in der die Wirtschaft überall ihre Werkstätten, Geschäfte und Fabriken geschlossen hat?«20 Nacht für Nacht kam es auf den Boulevards zu Demonstrationen, bei denen nicht nur das »Recht auf Arbeit« gefordert wurde, sondern auch eine demokratische und soziale Republik. Auch ein obskurer Louis-Napoleon Bonaparte wurde angerufen. Die Proteste gewannen bis zum Donnerstag, dem 22. Juni, an Dynamik, als zwei Kolonnen mit Demonstranten – insgesamt achthundert Menschen – durch Paris marschierten. Man schrie, dass man sich nicht in die Sologne schicken lassen und stattdessen die Waffen gegen die Nationalversammlung erheben würde. Aus den Schlachtrufen ging deutlich hervor, dass die Arbeiter auf die Unterstützung der Mobilgarde (garde mobile) setzten, die – zum Teil als Gegengewicht zu Caussidières gut gedrillter Polizeitruppe – kurz nach der Februarrevolution aus arbeitslosen jungen Männern gebildet worden war. Außerdem waren Rufe wie »Auf ewig Napoleon! Wir werden nicht gehen!« zu hören. Am späten Mittag zerstreuten sich die beiden Menschenmengen, doch schon um 18 Uhr wollte man sich erneut auf dem Platz vor dem Panthéon treffen. Zur verabredeten Zeit füllte sich der Platz innerhalb einer Stunde, bis er brechend voll war mit rund fünftausend aufgebrachten Arbeitern, die sich einmal mehr in zwei Kolonnen in Bewegung setzten, um sich in den Arbeitervorstädten Faubourg Saint-Michel im Süden und Faubourg Saint-Antoine östlich des Flusses zu sammeln. Um 21 Uhr schätzte die Polizei die zweite Kolonne auf acht- bis zehntausend Leute. Diese riesige Menge traf sich schließlich erneut beim Panthéon. Flauberts Freund Maxime du Camp war in jener Nacht gerade auf dem Heimweg, als er ein unheilvolles Geräusch, »in der Dunkelheit, aus den Tiefen der Rue Saint-Jacques« wahrnahm:
»Es war eine Art erstickter Gesang, in dem unaufhörlich dieselben düsteren, tiefen, unvergleichlich traurigen Töne wiederholt wurden. Verängstigte Leute kamen aus ihren Häusern und versuchten wie ich, mit Blicken die Dunkelheit zu durchdringen, die das untere Ende der Straße umgab, von wo das seltsame Murmeln herkam. Bald legte sich unsere Ungewissheit. Ein Trupp von Männern – mindestens zweitausend – marschierte in Dreierreihen heran und erklomm die steilen Kurven der Rue Saint-Jacques. Als sie vorbeikamen, schlossen alle Geschäfte und sorgenvolle Gesichter waren in den Fenstern zu sehen; sie beachteten sie nicht. Geordnet marschierten sie vorbei, ein wenig gebeugt, unbewaffnet. Ohne Geschrei oder Gezeter wiederholten alle nur denselben Satz: ›Brot oder Blei! Brot oder Blei!‹ Es war unheimlich und richtig beängstigend.«21
Die Angst vor einer Revolution hielt die Stadt gefangen. Eine Menschenmenge versammelte sich unter der Kuppel des Panthéons, die im Dunkeln lag, und hörte den Abgesandten der Nationalwerkstätten zu. Darunter befand sich ein Louis Pujol, der sie aufforderte, sich auf den nächsten Tag vorzubereiten. Um 23 Uhr hatten sich die Arbeiter zerstreut – allerdings nur, um Kraft für den bevorstehenden Zusammenstoß zu schöpfen.22
Die Obrigkeit war sich sehr wohl bewusst, dass die Proteste Fahrt aufnahmen, unternahm aber nichts. Caussidière ging so weit, zu fragen: »Wollte man vielleicht die Emeute wachsen lassen, um die insurgirten Arbeiter mit Einem Schlage zu vernichten?«23 Kein Geringerer als Karl Marx, der kurz nach den Ereignissen alles festhielt, behauptete, die Nationalversammlung sei nach dem Aufstand vom 15. Mai zu einer endgültigen Lösung entschlossen gewesen: »Il faut en finir! Diese Situation muß endigen! In diesem Schrei machte die Nationalversammlung ihrem Entschlusse Luft, das Proletariat zum entscheidenden Kampfe zu zwingen.«24 So wie es aussah, war die Verordnung zur Auflösung der Nationalwerkstätten überhastet erlassen worden: Selbst die liberale königstreue Zeitung Le Constitutionnel – ansonsten keine große Befürworterin der Nationalwerkstätten – bekundete am 23. Juni unverblümt, dass »man größere Anstrengungen hätte unternehmen können … um die öffentliche Meinung auf diese Ankündigung vorzubereiten; man hätte mehr Umsicht walten lassen können«. Sie kritisierte die Regierung insbesondere dafür, die Verordnung erlassen zu haben, ohne die Betroffenen zu beruhigen.25
Es ist richtig, dass der Aufstand Zeit und Raum hatte, sich zu entwickeln, wie schon Caussidière und Marx meinten. Doch mit dem Wunsch, es möge zu einer gewaltsamen Konfrontation mit der Linken kommen, hatte er nichts zu tun. Auch wenn es ganz gewiss viele Konservative gab, die nur allzu gern alte Rechnungen beglichen hätten, so versuchte der freimütigste aller Gegner der Nationalwerkstätten, der Comte de Falloux, angesichts der zunehmenden Radikalisierung eilig ein Paket mit Reformen vom Parlament verabschieden zu lassen. Ein Mann, der auf eine Konfrontation versessen ist, handelt wohl kaum so.26 Vielmehr war der Raum, der dem Aufruhr anfänglich gegeben wurde, der Preis für die Art und Weise, wie die Obrigkeit mit den zu erwartenden Protesten umging. Die Lehre vom Februar 1848 war nämlich, dass Polizeitruppen oder die Bürgerwehr – aufgelöst in kleine Einheiten, um auf den Straßen für Ordnung zu sorgen und die Errichtung von Barrikaden zu verhindern – mühelos von den Aufständischen eingekreist und entwaffnet werden konnten. Aus diesem Grund wollte Kriegsminister General Louis Eugène Cavaignac, der am Mittag des 22. Juni die Pariser Militärgarnison in Alarmbereitschaft versetzt hatte, jeder Erhebung entgegentreten, indem er seine Kräfte zu drei schlagkräftigen Kolonnen zusammenzog, jede bestehend aus Infanterie, Artillerie, Nationalgardisten und Mobilgarde. Diese sollten sich gewaltsam den Weg ins Herz des Aufstandes bahnen. Aus militärischer Sicht mochte das sinnvoll sein, aber wie Alexander Herzen später unglücklich feststellte: »Zu diesem Zeitpunkt hätte man noch alles verhindern können, damals konnte man noch die Republik retten, die Freiheit ganz Europas retten, damals konnte man noch Frieden schließen. Die dumme, ungeschickte Regierung war nicht imstande, es zu tun«.27
Am frühen Morgen des 23. Juni marschierten sieben- bis achttausend Arbeiter ungehindert zur Place de la Bastille, wo Pujol, ergriffen vom Symbolcharakter des Ortes, die Arbeiter bat, die Häupter zu entblößen und »am Grab des ersten Märtyrers der Freiheit niederzuknien«. Seine strenge Stimme tönte über die Stille hinweg: »Die Revolution fängt aufs Neue an«, sprach er zu den gesenkten Köpfen. »Freunde, unsere Sache ist die Sache unserer Väter. Auf ihre Fahnen hatten sie die Worte geschrieben: Freiheit oder Tod. – Freunde! Freiheit oder Tod!«28 Die Menge erhob sich und donnernd erschallte: »Freiheit oder Tod!« Feierlich brachte Pujol sie dazu, mit dem Bau von Barrikaden zu beginnen. »Wie heute sehe ich die ernst dreinblickenden Gestalten vor mir, die Steine schleppten; Frauen und Kinder halfen ihnen«, schrieb später Herzen. Er kam an ein paar Arbeitern vorbei, die einstimmten, als ein Student die »Marseillaise« sang: »Der Chor dieses gewaltigen Liedes, der hinter den Steinen der Barrikaden hervorklang, griff ans Herz«, doch gleichzeitig konnte der russische Sozialist auch das Unheil verkündende Gerassel der Artillerie hören, die über den Fluss setzte. Er sah, wie General Bedeau die »feindliche Stellung« mit dem Feldstecher absuchte.29
Am Abend war fast der gesamte Pariser Osten unter Kontrolle der Aufständischen. Man schätzte ihre Zahl auf 40 000 bis 50 000, während die regulären Truppen 25 000 und die Mobilgarde 15 000 Mann stark waren. Bei Letzteren waren viele sehr jung – manche nicht älter als sechzehn. Da sie sich aus dem gleichen Heer arbeitsloser Männer rekrutierten wie die Aufständischen, war nicht klar, ob auf sie Verlass wäre. Die Nationalgarde indessen, die man in der Zweiten Republik demokratisiert hatte, wies beeindruckende 237 000 Mann auf, doch die unsicheren einfachen Soldaten erwiesen sich beim Ruf zu den Waffen als wenig tapfer.30 Einer der wenigen, die sich zu seinem Bataillon begaben, war Maxime du Camp. Viele seiner Kameraden »übertrieben es mit der Zurückhaltung«, wie er Jahre später freundlich formulierte.31 Am ehesten folgten die Angehörigen der mittelständischen Einheiten (die tendenziell in den westlichsten Distrikten der Stadt stationiert waren) dem Schlag der Trommeln. Die Einheiten aus den inneren Bezirken, unter deren Einwohnern es viele Handwerksmeister und Ladenbesitzer gab, wurden durch »übertriebene Zurückhaltung« ernsthaft ausgedünnt. Ihre Kampfunwilligkeit war kein Zeichen von Feigheit, sondern Ausdruck ihrer sozialen Position: Das Kleinbürgertum war von der Wirtschaftskrise stark betroffen, und obwohl es ein Interesse an Recht und Ordnung hatte, wollte es keineswegs in einen Kampf gegen Leute verstrickt werden, die oft genug Kunden, Angestellte oder Nachbarn waren. Von den 64 000 Mitgliedern der Nationalgarde aus den inneren Arrondissements rückten nur 4000 aus. Inzwischen waren Tausende von Männern der östlichen Distrikte zu den Widerständlern übergelaufen. Von den 7000 Nationalgardisten Bellevues schlossen sich 3000 dem Aufstand an. Die Waage neigte sich somit nicht unbedingt auf die Seite der Regierung.
Und immer noch wurden letzte Anstrengungen zu einer Schlichtung unternommen: François Arago stand auf der Rue Soufflor, nahe dem Panthéon, vor der Barrikade und versuchte die Aufständischen zum Rückzug zu bewegen. Die verbitterte Antwort zeigte, dass die Barrikaden nicht nur der militärischen Befestigung dienten, sondern eine gesellschaftliche Spaltung innerhalb der republikanischen Bewegung selbst symbolisierten: »Monsieur Arago, bei aller Hochachtung für sie, sie haben nicht das Recht, uns Vorhaltungen zu machen. Sie haben noch nie gehungert. Sie wissen nicht, was Armut ist.«32 Niedergeschlagen und überzeugt davon, dass »Gewalt die Entscheidung treffen muss«, zog sich Arago schließlich zurück.
Die ersten Toten waren am 23. Juni zu beklagen, als die Barrikade an der Porte Saint-Denise von Nationalgardisten angegriffen wurde. Es wird kolportiert, dass zwei wunderschöne Prostituierte die Röcke hoben, die Truppen mit Obszönitäten aufreizten und sie zum Feuern herausforderten: Sofort fielen sie im Kugelhagel.33 Die Nationalgardisten schafften es, die Verteidigungsanlagen zu überwinden, doch verloren sie in heftigen Kämpfen dreißig Männer.
Am Ende gewann die Regierung die Oberhand, weil sie die überlegenen Feuerwaffen besaß. Als sich Lamartine in der Abenddämmerung dem Kampf anschloss, sah er, wie die Kanone, von Cavaignac gezündet, die Befestigung im nordöstlich gelegenen Faubourgh du Temple dem Erdboden gleichmachte. »Vierhundert tapfere Männer, die – tot oder verstümmelt – das Faubourgh übersäten«, zählte er. Es war ein Gemetzel. Cavaignac selbst überwachte den erfolgreichen Angriff auf eine besonders standfeste Barrikade in der Rue Saint-Maur. In seiner Abwesenheit hatte kein anderer als Ledru-Rollin – kein Sozialist, aber eindeutig ein Republikaner des linken Flügels – in dessen Namen in die Provinzen telegrafiert und diese um Unterstützung durch ihre Nationalgarde-Einheiten gebeten. Dies zeigt, wie tief sich der Graben bei den Republikanern in jenen Junitagen auftat und wie entfremdet die Aufständischen selbst von jenen waren, die vielleicht Verständnis für ihr Elend gehabt hätten. Auf Ledru-Rollins Aufruf hin erfolgte jedenfalls eine unverzügliche und enthusiastische Antwort. Die Gelegenheit zur Schlichtung – sofern es je eine gegeben hat – war äußerst schnell vertan. Als die Sozialisten Louis Blanc und Victor Considérant vorschlugen, die Rebellen um Niederlegung der Waffen zu bitten, wurden sie sofort von einem Deputierten zum Schweigen gebracht: »Man redet nicht vernünftig mit Aufrührern, man vernichtet sie!«34 In jener Nacht schliefen viele Abgeordnete unruhig im Parlamentsgebäude, wo auch Cavaignac sein Hauptquartier aufschlug.
M. Thibaults bemerkenswerte Daguerreotypie der Barrikaden auf der Rue Saint-Maur in Paris, kurz nach dem Angriff durch Regierungstruppen im Juni 1848. (Bridgeman Art Gallery)
Als um 8 Uhr die Nationalversammlung erneut zusammentrat, plädierte so mancher der übernächtigten und aufgewühlten Politiker für den Rückzug der gesetzgebenden Versammlung in das Vorstadtpalais Saint-Cloud. Weniger Mutige regten sogar die Flucht nach Bourges an. Außenminister Jules Bastide gestand dem britischen Botschafter, dem Marquis of Normanby, dass kein Mitglied der Regierung sicher sein könne, das Ende dieses Tages zu erleben. Tocqueville kritzelte hastig eine Nachricht an seine Frau, in der er ihr riet, die Stadt zu verlassen.35 In dieser Stimmung, die an Panik grenzte, waren viele Abgeordnete – Republikaner wie Monarchisten – der Meinung, dass nur noch eine starke Regierung die Krise meistern könne. Der naheliegende Kandidat war Cavaignac – ein erfahrener Soldat mit tadellosen republikanischen Referenzen à la National; seine gemäßigten Kameraden sahen in ihm den Retter, der die Republik vor der doppelköpfigen Schlange der Revolution und der Königstreue beschützen würde.
Selbst die monarchistischen Abgeordneten, die sich in ihrem Klub in der Rue des Poitiers versammelt hatten, setzten auf den General – vielleicht sahen sie ja in einer autoritären Regierung das Vorspiel zur Zerschlagung der Zweiten Republik und den ersten Schritt in Richtung Restaurierung der Monarchie. Um 10 Uhr gab die Versammlung – nach nur fünfundzwanzigminütiger Debatte – die Exekutivgewalt an Cavaignac. Dies bedeutete, dass er die uneingeschränkte militärische Oberherrschaft in der Hauptstadt innehatte, faktisch aber auch Diktator von Frankreich war. Weil die Revolte schon seine Kräfte band, behielt er die Minister, löste aber die Exekutivkammer auf und erklärte den Ausnahmezustand für Paris. Maxime du Camp erinnerte sich des tiefen Eindrucks, den letzteres Dekret hinterließ: »Uns wurde bewusst, dass wir im Begriff standen, eine ernste und entschiedene Richtung einzuschlagen.« Die Pariser Boulevards, auf denen normalerweise dichtes Gedränge herrschte, glichen nun »einer Wüste« … aus der hier und da ein paar streunende Hunde das Weite suchten, so als machte ihnen die große Einsamkeit Angst«.36
Mit Unterstützung der Kanonen legten die Regierungstruppen die Barrikaden in Schutt und Asche. In dem nördlich gelegenen Faubourg Poissonnière wurde du Camps Nationalgardeeinheit in einem Hagel aus Metall gegen eine Barrikade gewirbelt: »Um uns herum ging mit einem schrillen Geräusch ein Teppich von Geschossen nieder, und ich entsinne mich, dass ich stehen blieb und zu Boden blickte … die Pflastersteine wiesen glitzernde, blaue Metallflecken auf, Bleispuren, die sie touchiert hatten, während sie neuen Schwung nahmen.« In diesem Hornissennest fuhr du Camp zusammen wegen »eines heftigen Aufpralls auf meinem Bein, so als wäre ich mit einem dicken Fischbeinknochen geschlagen worden«. Sein Unterschenkel war zersplittert, und sein Stiefel füllte sich mit Blut. Mit meisterhafter Untertreibung erinnert er sich, dass er sich daraufhin »melancholisch« gefühlt habe.37
Tote bei einer Barrikade in den Junitagen 1848. Gemälde von Louis Adolphe Hervier. (Bridgeman Art Gallery)«
Sich aus der Sicht der Aufständischen ein Bild von den Kämpfen zu machen, ist etwas schwieriger. Zum einen wurden viele von ihnen getötet – sowohl während der Gefechte als auch während der nachfolgenden Repressalien –, andere taten alles, um der anschließenden Vergeltung zu entkommen und verhielten sich ruhig, nachdem ihnen die Flucht gelungen war. Die Stimmen jener, die Gehör fanden, entstammen vor allem den richterlichen Verhörzellen, eine wenig verständnisvolle Umgebung. Es überrascht daher nicht, dass die meisten gefangen genommenen Aufständischen sich zurückhaltend über ihre politische Überzeugung äußerten und die Rolle, die sie bei dem Aufstand spielten. Ein Angeklagter behauptete, er sei erst mit Alkohol abgefüllt und dann von den Aufständischen zu den Barrikaden geführt worden, wo man ihm befohlen habe zu schießen: »Zum Teufel«, habe er geantwortet, »auf wen?« Auf die Frage, warum er letztlich auf die Soldaten der Obrigkeit geschossen habe, gab er vor: »Ich habe mich mitreißen lassen wie viele andere auch. Die, die nicht mitgezogen haben, wurden als Faulenzer tituliert und schikaniert … Ein Mann vom Land wie ich, der noch nie von solchem Zeug, von dem die geredet haben, gehört hat, der nie etwas gesehen hat und der weder lesen noch schreiben kann – ein Mann wie ich wird leicht in die Irre geführt.«38
Natürlich ist es durchaus möglich, dass Aufständische gezwungen oder getäuscht wurden, dennoch sind solche Aussagen mit Vorsicht zu genießen. Immerhin sahen sich diese Gefangenen mit der Möglichkeit von Tod, Deportation oder Arretierung konfrontiert – Grund genug, das eigene Engagement herunterzuspielen. Die Anführer der Revolte hingegen boten unerschrocken politische Gründe für deren Ausbruch. Einer von ihnen, er war wegen seiner politischen Aktivitäten unter der Julimonarchie inhaftiert worden, erklärte seinen Vernehmern unverblümt, was er unter »sozialer Republik« verstand: »Ich meine eine Republik mit sozialen Reformen … kostenlosem Pflichtunterricht und der Organisation der Arbeit in Genossenschaften; … der Arbeiter soll die Frucht seiner Arbeit erhalten, einen Anteil von dem, was ihm jetzt von dem Mann genommen wird, der das Kapital zur Verfügung stellt.«39 Auch den einfachen Anhängern fehlte es nicht an politischem Einfluss. Nach dem 15. Mai waren Delegationen der abgesetzten Luxembourg-Kommission mit den gewählten Vertretern der Nationalwerkstätten in Verbindung getreten, und mit dem Ruf nach einer »demokratischen und sozialen Republik« hielten sie, zusammen mit den Klubs, an einer weit verbreiteten Ideologie fest40 – allerdings war die Bedeutung dieses Begriffs unter der Masse der Aufständischen nicht eindeutig. Denn darüber hinaus schrien viele noch immer nach Louis-Napoleon Bonaparte, Napoleons schillerndem Erben, der am 4. Juni in die Nationalversammlung gewählt worden war und von so manchem als Anwalt des Volkes betrachtet wurde.
Die Aufständischen waren sich der republikanischen und sozialistischen Rhetorik sehr wohl bewusst, häufig aber setzten sie sie recht frei ein, um ihrem tiefen Unbehagen Luft zu machen. Deutlich wurde dies beim Verhör des arbeitslosen Hutmachers Louis Bocquet, der seinen Lebensunterhalt in den Nationalwerkstätten verdient hatte. Er war verhaftet worden, während er säbelschwingend auf einer Barrikade nahe dem Pont Saint-Michel stand (und damit gefährlich nahe am Palais de Justice, was vermutlich den Eifer erklärt, mit dem der Vertreter der Anklage ihn befragte). Zwar gab er lediglich zu, nur einmal einen politischen Klub besucht zu haben, machte aber kein Hehl daraus, dass er und andere geplant hatten, »die Barrikaden zu errichten und zu verteidigen, um [parlamentarische] Abgeordnete zu ernennen, die vielleicht großzügiger gewesen wären oder ihre Aufgabe besser erledigt hätten«. Weil er schon so viel gestanden hatte – was in den Augen des Anklägers sicher ausreichte, um ihn schuldig zu sprechen –, wäre zu erwarten gewesen, dass er anschließend trotzig auf seine démoc-socs-Motive zu sprechen gekommen wäre, doch er gab kaum mehr zu, als dass »unsere Rechte unterdrückt wurden«. Als er bedrängt wurde, schien es Bocquets Hauptanliegen gewesen zu sein, dass »die Arbeiter Paris nicht verlassen sollten und eines der Ergebnisse dieses Vorsatzes war … dass ich alles in meiner Macht Stehende getan habe, um sie davon abzuhalten«.41 Für viele Arbeiter stellten die Nationalwerkstätten eine der Errungenschaften der Februarrevolution dar, und diese wurden ihnen entrissen: Das und keine voll entwickelte démoc-socs-Ideologie war es, die dem Aufstand seine eher grobe politische Stoßrichtung verlieh. In seinen Memoiren traf denn auch Caussidière den Nagel auf den Kopf, als er die Junitage einen »Aufstand der Verzweiflung« nannte.42 Die Rebellen rekrutierten sich nicht nur aus den Arbeitern der aufgelösten Nationalwerkstätten, sondern auch aus den Fünfzig- oder Sechzigtausend, die nach Paris gekommen waren, um ein Handwerk zu erlernen oder im Falle eines Scheiterns Unterstützung in den Nationalwerkstätten zu suchen, die aber – zum einen wegen des wirtschaftlichen Abschwungs, zum anderen, weil keine Zuwanderer aus den Provinzen mehr zugelassen werden durften – nirgends untergekommen waren. Ihre Beteiligung am Aufstand war Ausdruck der Verzweiflung und Verbitterung. Die große Zahl dieser Ärmsten und Benachteiligten unter den Aufständischen erklärt auch, warum die Inhaftierten Adressen in den schlimmsten Elendsvierteln angaben. Zu diesem trostlosen Bild kam die Tatsache hinzu, dass viele Beteiligte verheiratete, ältere Arbeiter mit Kindern waren, deren Familien extrem gelitten hätten, wenn sie einen Ehemann oder Vater dem Tod, der Gefangenschaft oder dem Exil hätten opfern müssen. Ihre Anwesenheit auf den Barrikaden war ein Hinweis auf das Ausmaß ihrer Verzweiflung.43
Dafür spricht auch, dass die Aufständischen keine politischen Führer aus den Reihen der Sympathisanten der Zweiten Republik rekrutierten. Weder die Klubs (die seit dem 15. Mai unter Druck standen) noch die parlamentarische Führung der republikanischen Linken (von der viele bereits verhaftet oder eingeschüchtert waren) stellten sich an die Spitze des Aufstandes. Auch wenn es ein paar wohlwollende Töne vonseiten der radikalen Politiker gab, so war keiner, der dem Machtzentrum nahestand oder sich in vorderster Front der radikalen revolutionären Bewegung befand, bereit, ernsthafte Schritte im Namen der Aufständischen zu unternehmen. Ganz im Gegenteil: Am 23. Juni noch mahnte Louis Blanc zur Zurückhaltung: »die Gegenrevolution hat darauf gebrannt, eine Gelegenheit zur Zerschlagung [der Zweiten Republik] zu finden … die Niederlage ist so gut wie sicher; nichts deutet auf einen Erfolg«.44 Später erklärte er, dass die politischen Klubs in heillose Verwirrung geraten seien und unter den sozialistischen Zeitungsorganen »eine quälende Unsicherheit herrschte«.45 Tatsache war, dass es die meisten Linken kalt erwischte. Zu ihnen gehörte Pierre-Joseph Proudhon, einer der größten anarchistischen Denker (und späterer Freund und Mitstreiter Herzens), der eben vor allem dank der Stimmen der Pariser Arbeiterschaft in die Nationalversammlung gewählt worden war (in derselben Nachwahl, in der auch Louis-Napoleon Bonaparte und Victor Hugo ihre Sitze errangen). Die Junitage, denen er fernblieb, zeigten, wie wenig Berührung Proudhon mit seinen Wählern hatte. »Nein, Monsieur Sénard«, erklärte er später offen dem Präsidenten der Nationalversammlung, »ich war im Juni kein Feigling, wie sie mich vor der Versammlung beleidigten, ich war wie sie und so viele andere ein Idiot.«46 Vermutlich sprach Blanc den meisten sozialistischen Politikern aus dem Herzen, als er schrieb: »Ich war bestürzt. Auf welche Seite sollte ich mich stellen? Ich hielt es für das Beste in die Versammlung zu gehen, wo ich wenigstens einigermaßen nützlich sein konnte, indem ich mich gewaltsamen Maßnahmen, die ihrer Natur nach die Situation verschlimmern oder komplizieren würden, entgegenstellte.«47 Weiter vor wagte sich kaum ein sozialistischer Politiker.
Die Kämpfe zogen sich hin bis in den Nachmittag des 25. Juni. An jenem Tag wurde Monseigneur Affre, der Erzbischof von Paris, der zu vermitteln versuchte, tragisches Opfer. Mutig stand er vor den Barrikaden, die den Eingang zur Rue du Faubourg Saint-Antoine blockierten, und hielt Exemplare eines Schlichtungsaufrufs umklammert, den Cavaignac am Morgen auf Drängen Caussidières und Sénards in der Nationalversammlung verfasst hatte. Während Affre sprach, wurde unerklärlicherweise gefeuert, und eine Kugel vonseiten der Regierung zerfetzte seinen Körper. »Möge mein Blut das letzte sein, dass vergossen wird«, lauteten die Worte des Sterbenden, bevor er als Märtyrer und Opfer der Grausamkeit der Revolution in die konservative Ikonographie einging. Und ohne Frage gab es Gräuel: Während General Jean de Bréa in Verhandlungen versuchte, den letzten Widerstand, der sich auf eine eindrucksvolle Barrikade auf der Place d’Italie konzentrierte, zu beseitigen, wurde er ergriffen und von den Aufständischen gefangen genommen. Auf die Frage, wie mit dieser besonderen Krise umzugehen sei, kam die schaurige Antwort von Cavaignac: »Die Republik kann nicht um des Lebens eines leichtsinnigen Generals willen geopfert werden.«48 Als die Barrikade gestürmt wurde, war Bréas Leben nicht mehr zu retten: Die Rebellen hatten Gerüchte gehört (die nur zu wahr waren), nach denen die mobile Garde Gefangene exekutieren würde, und hatten zur Vergeltung den General und seinen Adjutanten bereits erschossen.
Die Presse vervielfachte noch Ausmaß und Schrecken solcher Gräueltaten. Der liberale, monarchistische Constitutionnel berichtete seinen Lesern, dass:
»die [Aufständischen] ihre Gefangenen lieber feige ermordeten, indem sie ihnen die Köpfe vom Rumpf trennten, als sie freizulassen, … sie Gefangene gehängt, vier Offiziere der mobilen Garde mit einem Hackbeil auf einem Klotz geköpft und einen anderen in zwei Teile gesägt haben und mehrere Soldaten dieser Einheit lebend verbrennen wollten … Leichen wurden entweiht. Schon richtig, dass man sie nicht direkt aufgegessen hat; aber nur Geduld, das kommt noch, wenn sie weiterhin auf die Sozialisten hören.«49
Provinzzeitungen, die ihre Informationen vor allem aus Pariser Flugblättern zogen, druckten diese Geschichten als Tatsachen ab. Dass solche Erzählungen weithin Glauben fanden, ist ein Zeichen für die Kluft, die sich in der französischen Gesellschaft aufgetan hatte: zwischen Reichen und Armen, Gemäßigten und Liberalen, Parisern und Provinzbewohnern. Es war nur ein kleiner Schritt von der Dämonisierung der Aufständischen hin zu dem Schluss, dass die Straßenkämpfe nichts anderes als ein Kampf zwischen »Anarchie« und »Zivilisation« seien. Am 29. Juni traf Le National sein Urteil: »Auf der einen Seite stehen Ordnung, Freiheit, Zivilisation, die ehrbare Republik, Frankreich; und auf der anderen Barbaren, Kriminelle, die aus ihren Verstecken hervorkommen, um zu töten und zu plündern«.50
Die Aufständischen begingen in der Tat Gräueltaten, doch die Soldaten der Regierung töteten gleichermaßen kaltblütig oder weil (so der offizielle Sprachgebrauch) die Gefangenen »einen Fluchtversuch unternahmen«.51 Die Zahl dieser im Schnellverfahren Hingerichteten beläuft sich nach Schätzungen der Konservativen auf 150 und nach Schätzungen der Sozialisten auf 3000 Menschen (nach Karl Marx), die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte. Die meisten dieser Morde gingen eher auf Racheakte seitens der Bürgermilizen, der Mobil- und der Nationalgarde als der Armee zurück, deren Offiziere ihr Möglichstes zum Schutz der Gefangenen taten. Anders als die Massenhinrichtungen, die dem Pariser Kommunardenaufstand 1871 folgten, scheinen sie kein Teil der offiziellen Politik gewesen zu sein. Vielmehr habe laut Marx »die Bourgeoisie für die ausgestandene Todesangst sich in unerhörter Brutalität entschädigt«.52 Eine von Flauberts Figuren, der alte Monsieur Roque, der freiwillig bei der Nationalgarde dient, genießt es, vor dem Gefängnis, das sich unterhalb der zum Fluss hin liegenden Tuilerienterrasse befindet, Posten zu stehen. Die Gefangenen, »im Unrat zusammengepfercht, ein wirres Durcheinander, schwarz von Pulver und geronnenem Blut, vom Fieber geschüttelt und vor Wut schreiend«, betteln um Brot. Als Antwort darauf feuert Roque seine Muskete mitten in die rasende Menschenmasse.53
Mindestens 1500 Arbeiter waren nun getötet und etwa 11 727 weitere gefangen genommen worden. In eilig improvisierten Gefängnissen warteten sie auf Abtransport oder Inhaftierung. Rund 6000 wurden innerhalb von ein paar Tagen, andere innerhalb der nächsten Jahre schrittweise freigelassen, und 468 schließlich nach Algerien deportiert. Die Hospitäler von Paris nahmen 2529 Verletzte auf, doch vermutlich gab es erheblich mehr Männer und Frauen, die aus Angst vor Inhaftierung versuchten, ihre Wunden zu Hause zu versorgen. Aufseiten der Regierung hatten die Armee, die Nationalgarde und die Mobilgarde über neunhundert Männer verloren. Für die Linken indessen stellten die Junitage den »Sieg der Reaktion« dar. Caussidière reagierte gereizt auf die mit »Theater-Emphase« in der Nationalversammlung feiernden Gemäßigten, »während man die Todten in dem durch die Kugeln und Kartätschen verwüsteten Faubourg St. Antoine aufsuchte«.54 Der Aufstand gab der Linken ihre Märtyrer. Am Abend des 26. Juni »hörten« Herzen und seine Freunde
»Salven in geringen Abständen … Wir alle blickten einander an, alle hatten grüne Gesichter … ›Das sind doch Erschießungen‹, sagten wir wie mit einer Stimme und wandten uns voneinander ab. Ich preßte die Stirn an die Fensterscheibe. Für solche Minuten haßt man zehn Jahre lang, denkt man sein ganzes Leben nur an Rache. Wehe dem, der solche Minuten verzeiht!«55
In diesem Klima war es für Zuschauer, manche besorgt, andere hoffnungsfroh, ausgemachte Sache, die Junitage als Klassenkonflikt zu sehen. Tocqueville schrieb später:
»Ich hatte schon vorher angenommen, daß die ganze Arbeiterklasse, sei es mit der Waffe in der Hand, sei es mit dem Herzen, an dem Kampfe teilnahm; dies wurde mir jetzt bestätigt. Der Geist des Aufruhrs durchströmte diese Volksschicht insgesamt und jeden einzelnen, der ihr angehörte, von Kopf bis Fuß wie das Blut den ganzen Körper. … wir fühlten ihn überall um, über und unter uns und sogar in unserem eigenen Heim. Hier, wo wir wirklich glauben konnten, allein die Herren zu sein, wimmelte es von häuslichen Feinden. Die Atmosphäre des Bürgerkrieges lag über ganz Paris«.56
Seiner Meinung nach war der Juniaufstand anders als alle anderen Erhebungen seit 1798, denn »sein Ziel war die Änderung nicht der Regierungsform, sondern der Gesellschaftsordnung. Es war nicht im eigentlichen Sinne […] ein politischer, sondern ein Klassenkampf, eine Art Sklavenaufstand.«57 Von der anderen Seite her stimmte Marx natürlich zu, dass sich die Junitage zu einem Klassenkampf entwickelt hatten: Es war eine »ungeheure Insurrektion, worin die erste große Schlacht geliefert wurde zwischen den beiden Klassen, welche die moderne Gesellschaft spalten. Es war der Kampf um die Erhaltung oder Vernichtung der bürgerlichen Ordnung.«58 Es ist richtig, dass eine der wichtigsten Folgen der Junitage die Verschärfung von Gegensätzen war, doch das betraf nicht unbedingt den Gegensatz zwischen den streng getrennten Klassen der »Proletarier« und der »Bourgeoisie«. Die Aufständischen waren in erster Linie Handwerker in mittelständischen Betrieben wie Schneidereien, Schuhmachereien, Möbelschreinereien und Metallwerkstätten. Es gab auch Büroangestellte und Ladenbesitzer – einen unteren Mittelstand, der etwa 10 Prozent der Arretierten ausmachte. Zudem kämpften unzählige ungelernte Arbeiter und Bauarbeiter sowie Arbeiter aus modernen Fabriken, etwa den Eisenbahnwerken. Die breite Basis der Revolte verdeutlicht vor allem das Ausmaß des wirtschaftlichen Elends, von dem während der Krise Mitte des Jahrhundertes so viele Menschen betroffen waren.59
Auf der anderen Seite waren unter den Truppen, die ein Cavaignac in der Nationalgarde aufstellte, ebenso gut situierte »Bourgeois« aus den wohlhabenden westlichen Bezirken wie Ladenbesitzer und Arbeiter, die glaubten, ihre Nachbarschaft vor »Anarchie« schützen zu müssen. Und obwohl sich die Mobilgarde aus denselben arbeitslosen Massen rekrutierte wie die Aufständischen, verhielt sie sich nicht so wie man hätte meinen können, sondern kämpfte energisch für die Regierung. Auch die Arbeiter in anderen Städten regten sich – in Lyon kam es zu Gewalttaten, in anderen Industriestädten, etwa Limoges, zu Spannungen –, doch die ländliche Bevölkerung unterstützte im Allgemeinen die Regierung und hielt Gottesdienste zum Gedenken an die Soldaten, die bei der »Verteidigung der Republik« gefallen waren. In manchen kleineren Städten kursierten Gerüchte, dass die Pariser Aufständischen auf dem Land plünderten. Daher handelte es sich weniger um einen Kampf zwischen Bürgern und Arbeitern als vielmehr um die Feindseligkeit zwischen städtischen Arbeitern und einem breiten Querschnitt der französischen Bevölkerung. Während die Klassenkampf-Rhetorik des 19. Jahrhunderts die komplexen Zusammenhänge eher verdeckte, waren Antipathie und soziale Ängste nur allzu real. Alle Franzosen, die meinten, etwas zu verlieren zu haben, schockierte die Aussicht auf sozialen Abstieg. Die weit verbreitete Angst vor dem, was die Pariser Aufständischen vielleicht im Schilde führten, rief in der Provinz eine dramatische Reaktion hervor. Cavaignacs Ruf nach Hilfe vom 23. Juni wurde in der Provinz mit Begeisterung erhört: Am Ende machten sich einige 100 000 Freiwillige auf den Weg in die Hauptstadt, die meisten davon zu spät, um noch an den Kämpfen teilzunehmen, doch schon per Eisenbahn – es war das erste Mal, dass man sie in Frankreich für militärische Zwecke nutzte.
Verbitterung und Wut, das Erbe der Junitage, sollte die Anhänger der Zweiten Republik für immer in Linke und Gemäßigte spalten. Zu den Ersteren zählten Blanc und Caussidière, die – politisch isoliert und in der Nationalversammlung jetzt Angriffen ausgesetzt – es vorzogen, nach London ins Exil zu gehen. »Je mehr ich von den Repräsentanten des Volkes sehe«, soll Lamartine gesagt haben, »desto lieber habe ich meine Hunde.« Paris befand sich noch bis Oktober im Ausnahmezustand, sodass 50 000 bewaffnete Männer durch die Straßen zogen oder in Baracken warteten. Im August erzwang ein neues Gesetz die Einstellung von mehreren Zeitungen, indem es die verhasste Stempelsteuer wieder einführte und die Bezahlung einer Kaution als Sicherheit vor Strafverfolgung verlangte. Die Polarisierung zwischen links und rechts sollte einen tiefen Spalt offenbaren, in den Louis-Napoleon Bonaparte trat, die Nemesis der Zweiten Republik.
II
Viele Beobachter werteten die Pariser Junitage als entscheidendes Moment für Europa. Wenn Paris mit seiner großen revolutionären Tradition in die Knie gezwungen werden konnte, dann war dies auch in Mailand, Venedig, Wien, Budapest und Berlin möglich. Der junge deutsche Journalist Ludwig Bamberger, Verfechter der Demokratie, saß mit Kollegen in einem Frankfurter Garten, nachdem er die Nachrichten von dem Aufstand vernommen hatte: »Wir fühlten, daß dort eine Entscheidung fallen werde, die verhängnisvoll eingreifen müsse in die Geschicke der französischen Revolution und damit in die ganze europäische Lage. Wir hatten ein deutliches Vorgefühl davon, daß hier ein Wendepunkt eingetreten sei für den ganzen Inhalt zukünftiger politischer Bewegungen.«60 Bambergers deutsche Zeitgenossen Karl Marx und Friedrich Engels waren ebenfalls der Meinung, dass die Junitage einen Wendepunkt darstellten: »sofort erhoben in ganz Europa«, schrieb Engels, »die neuen und alten Konservativen und Konterrevolutionäre das Haupt mit einer Frechheit, die zeigte, wie gut sie die Bedeutung der Ereignisse verstanden«.61 Bamberger, der kein Sozialist war, sah die große Schwäche der Pariser Arbeiter darin, dass sie wussten, was sie wollten (soziale Gerechtigkeit), aber keine Möglichkeit besaßen, dies zu verwirklichen. Ein Prinzip, so argumentierte er, kann »richtig« sein, wenn es moralisch integer und praktisch umsetzbar ist. Zu diesem Zeitpunkt hatten Marx und Engels bereits einen Schritt nach vorne getan, um dem »Proletariat« eine rationale und klare Zukunftsprognose zu liefern. Auf Marx’ Drängen hin erhielt eine sozialistische Untergrundorganisation, die Anhänger in Frankreich, der Schweiz und Deutschland hatte, den Namen »Kommunistischer Bund«. Sein Motto war international ausgerichtet – »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« – und stand überall. Marx erklärte die Ziele: »Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufgebung der alten, auf Klassengegensätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum.«62 Das Kommunistische Manifest, verfasst von Marx und Engels, erschien Anfang 1848, und prophezeite einen Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als treibender Kraft, die die moderne Gesellschaft durch die Feuerprobe der Revolution leiten werde. Dieser Kampf führe zur »Diktatur des Proletariats«, die wiederum eine egalitäre Gesellschaft forme. Diese Theorie basierte auf der Annahme, dass ein klassenbewusstes, zukunftsorientiertes und solidarisches Proletariat existierte, das die Aufgabe übernähme, den bürgerlichen Kapitalismus in der nächsten Revolution zu zerstören. Genau das machte auf lange Zeit gesehen die Stärke und auf kurze Zeit gesehen die 1848 gezeigte Schwäche des Kommunistischen Manifests aus. Die Argumentation entfaltete eine derart große Wirkung, weil sie eine Zukunftsvision entwickelte, die die Krankheiten und Ungleichheiten der industriellen Gesellschaft als Teil eines historischen Prozesses verstand, der auf den Sozialismus hinführt. Dieser Prozess werde schmerzvoll, aber notwendig sein, denn das Proletariat gehe bei der Endabrechnung als strahlender Sieger aus der unvermeidlichen Revolution hervor. Aus diesem Grund stehe die Geschichte auf der Seite der Arbeiterklasse. Das Kommunistische Manifest bot weniger eine Analyse der Gesellschaft von 1848 als eine Analyse der künftigen Entwicklungen. Doch 1848 war die Industrialisierung, die zur Entstehung eines Proletariats führte, noch weit von ihrem Höhepunkt entfernt, und das war einer der Gründe, warum der Kommunistische Bund in Deutschland oder sogar in Frankreich so wenig Einfluss besaß. Dort gab es kein solidarisches und klassenbewusstes Proletariat mit politischem Sachverstand, um die neue Revolution auch durchzuführen. Deutsche und französische Arbeiter waren keine Hilfsarbeiter in Fabriken, sie waren gelernte Arbeiter und Handwerker in kleinen Werkstätten – und dabei wollten sie es belassen. Sie waren qualifiziert und hofften auf Unabhängigkeit, und sie kämpften mit Klauen und Zähnen gegen die Industrialisierung. Sie wollten nicht Teil des Industrieproletariats werden, jener wachsenden Masse von ungelernten oder angelernten Arbeitern, deren einziges verkäufliches Wirtschaftsgut ihre Arbeit im Dienst der unbarmherzigen Fabrikmaschine oder Dampfmaschine war. Die Handwerker wollten ihre Interessen nicht in einem Klassenkrieg verteidigen, sondern mittels traditioneller Methoden wie Zünften und Arbeiterbruderschaften, die seit jeher Handwerksnormen aufrechterhielten, über Handelszulassungen bestimmten und unter den Mitgliedern ein Gefühl von Solidarität schufen. Folglich fanden gebildete und belesene Arbeiter wenig im Kommunistischen Manifest, das unter den gegebenen Zuständen von unmittelbarer Bedeutung für sie gewesen wäre.
Einer von Marx’ Mitstreitern, Stephan Born, hatte Verständnis dafür, da er selbst als Schriftsetzer in einem Berliner Verlag gearbeitet hatte. Als gewählter Vorsitzender des Komitees der Berliner Buchdruckergehilfen organisierte er einen erfolgreichen Streik für bessere Löhne und kürzere Arbeitszeiten, und sein Beispiel fand überall in Deutschland Nachahmung. Als er die deutschen Arbeiter organisieren sollte, entledigte er sich der Klassenkampfrhetorik und wandte sich deren unmittelbaren Belangen zu. Bei einer anschließenden Begegnung mit seinen intellektuellen Meistern Marx und Engels, fühlte er sich unwohl: »Man hätte mich ausgelacht oder bemitleidet, hätte ich mich als Kommunist gegeben. Das war ich auch nicht mehr.«63
Wohl hatte der kommunistische Bund Anhänger in Deutschland, insbesondere im Rheinland, wohin Marx 1848 von seinem Londoner Exil aus zog. Er ließ sich in Köln nieder, wo er und Engels die Neue Rheinische Zeitung herausgaben. Außer diesem Organ besaß der Bund der Kommunisten schlagkräftige Ortsgruppen in Hamburg, Breslau und Nürnberg; seine Vertreter waren 1849 in ganz Deutschland aktiv und verteilten Propagandaschriften, die das Zentralkomitee in London verfasst hatte. 1848 aber stellten die meisten Kommunisten fest, dass sie ihre Programme abschwächen mussten, um die Mehrheit der deutschen Arbeiter zu erreichen. Einer von ihnen, Wilhelm Weitling, musste im Sommer 1848 gezwungenermaßen erfahren, dass auf dem Deutschen Arbeiterkongress in Berlin seine radikaleren Forderungen abgelehnt wurden, worauf er geflissentlich Gespräche über den Klassenkampf vermied. Marx und Engels begriffen äußerst schnell, dass das leidenschaftliche Kommunistische Manifest nicht auf die deutschen Zeitgenossen angewandt werden könne: Die »Forderungen der Kommunistischen Partei Deutschlands«, die Ende März in Paris erschienen, blieben weit hinter den extremen Gleichheitsvorstellungen, die man für die Zukunft ins Auge fasste, zurück. Stattdessen verlangten sie unter anderem »ein Mittel zur Organisation der Arbeit«, Nationalwerkstätten, die Abschaffung der verbliebenen Feudallasten für die Bauern und eine progressive Einkommensbesteuerung. Andererseits spiegelte das Programm die Forderungen der deutschen Demokraten wider: Deutschland sollte zu einer geeinten Republik mit allgemeinem Wahlrecht für die Männer, einer allgemeinen Volksbewaffnung, der Trennung von Kirche und Staat sowie einer allgemeinen und unentgeltlichen Volkserziehung werden.64 Doch selbst dieses abgeschwächte soziale Programm ging den deutschen Handwerkern und gelernten Arbeitern zu weit. Marx’ Versuch, eine Dachorganisation für alle im Entstehen begriffenen Arbeitervereinigungen zu schaffen, wurde im April zurückgewiesen; daraufhin wechselten er und Engels ihren Schwerpunkt und konzentrierten sich auf die Unterstützung der deutschen republikanischen Bewegung.
Dass es nicht leicht war, die wesentlichen wirtschaftlichen Belange der Arbeiter mit dem politischen Kampf der Demokraten zu verbinden, musste Marx feststellen, als er versuchte, den Kölner Arbeiterverein umzugestalten. Der Sozialist Andreas Gottschalk, Gründer und erster Vorsitzender dieser Organisation, die im Sommer 8000 Mitglieder zählte, wollte die Arbeiter von der politischen Aktion weg, hin zu einer stärkeren Konzentration auf die prosaischeren Probleme der sozialen Lage und der Arbeitsbedingungen lenken. Er war der Meinung, Hauptanliegen des Vereins sei die Erhöhung des moralischen Drucks auf das Bürgertum und zwar in erster Linie mittels seiner Zeitung. Letztlich glaubte er, dass das Chaos, das durch die Wirtschaftskrise entstand, die Arbeitgeber derart verunsichern würde, dass sie die Arbeitsbereitschaft so vieler erwerbsloser Menschen anerkennen, sich auf die Seite der Arbeiter stellen und in einer friedlichen Umwandlung erkennen würden, welch weise Einrichtung eine sozialistische Gesellschaft sei. Jonathan Sperber, Historiker der demokratischen Bewegung im Rheinland, behauptete, dass Gottschalks Bemühungen, ein politisch passives Klassenbewusstsein zu schaffen, unter den ärmsten Arbeitern eine besondere Anziehungskraft besaß, waren sie doch »durch jahrzehntelange Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung darauf trainiert, von der Wohlfahrt zu leben«.65 Marx schloss sich zunächst der stärker politisch ausgerichteten Kölner Demokratischen Gesellschaft an. Anders als Gottschalks Organisation, die Handwerksgesellen und Arbeiter anlockte, rekrutierte diese Gesellschaft ihre Mitglieder hauptsächlich aus den Reihen der gebildeteren Handwerksmeister und Arbeiter. Der Unterschied zwischen den beiden Organisationen veranlasste Marx und die Demokraten dazu, Gottschalk als Handlanger der Reaktion anzuklagen, »er sei erkauft und bestochen worden von der Regierung und den Bourgeois zu dem Zwecke, die Arbeiter so lange mit schönen Worten herumzuführen, bis die Reaktion wieder sich bekräftigt habe«.66 Die Obrigkeit selbst war anderer Meinung: Sie inhaftierte Gottschalk Anfang Juli und erlaubte Marx und seinen Mitarbeitern, den Verein zu übernehmen und ihn in ein Instrument umzuwandeln, durch das die Massen armer Arbeiter an die demokratische Bewegung gebunden werden konnten. Doch eben weil sie nicht mehr auf die Bedürfnisse der Mitglieder eingingen (und anfingen, Mitgliedsbeiträge zu erheben), verkümmerte die Organisation. Im Herbst bewegte sich die Mitgliederzahl in den Hundertern statt in den Tausendern.
Bamberger, der sich während des Kongresses der demokratischen Vereine (auf dem 89 Vereine aus 66 Städten vertreten waren) vom 14. bis zum 17. Juni in Frankfurt aufhielt, bemerkte die Probleme, die es bei der Aussöhnung zwischen Republikanern und Sozialisten gab: »Hier zum ersten Male kam mir der scharfe Unterschied zum Bewußtsein, welcher die bis dahin gemeinsamen radikalen, republikanischen Ansichten von den rein sozialistischen schied und für die Zukunft immer mehr scheiden sollte. Die Entdeckung war überraschend und peinlich zugleich für mich. Ich entsinne mich noch höchst deutlich des Mißgefühls, mit dem sie mich erfüllte.« Für Bamberger drehte sich die Auseinandersetzung um die Frage, ob man den politischen oder den sozialen Themen Vorrang einräumen sollte: Zwar akzeptierte er, dass Marx, Gottschalk und die anderen vielleicht berechtigte Argumente auf ihrer Seite hatten, doch hielt er es für notwendig, diese geschickt und maßvoll vorzubringen. Auf dem Kongress hörte er entsetzt, wie Gottschalk unverblümt den Sozialismus darlegte und so einen großen Teil des Publikums abschreckte, der daraufhin den Saal verließ. Bamberger und die anderen Demokraten wollten nicht auf eine einzelne gesellschaftliche Klasse bauen, sondern hofften darauf, eine politische Bewegung ins Leben zu rufen, die soziale Unterschiede überbrückte. Traurig sah er, wie immer mehr Delegierte den Kongress verließen: Das, so spürte er, war nicht der Weg, eine noch immer zerbrechliche und am Anfang stehende Bewegung zu hegen und zu pflegen.67
Sieht man einmal von ein paar Hitzköpfen ab, blieb die deutsche Arbeiterbewegung in ihrem Programm gemäßigt. Am 15. Juli schickten Handwerker Abordnungen zum Handwerker- und Gewerbekongress nach Frankfurt, der von Karl Georg Winkelblech, genannt »Marlo«, Lehrer an einer Kasseler Gewerbeschule, geleitet wurde. In ihren Forderungen vermischte sich die nostalgische Sehnsucht nach einer Rückkehr zu vorindustriellen Zuständen mit einem fortschrittlichen Bedürfnis nach sozialer Reform. Der Kongress wollte sowohl die Vormachtstellung der Großindustrie zurückdrängen als auch die Bitterkeit sozialer Konflikte vermeiden. Man hoffte, die Unabhängigkeit, der in Bedrängnis geratenen Handwerksmeister durch die Wiedereinführung der Zünfte zu schützen, die die einzelnen deutschen Staaten abgeschafft hatten, verlangte aber gleichzeitig nach einer staatlich geförderten »Organisation der Arbeit«, bei der die Regierung mit den Zünften zusammenarbeiten und die Produktion überwachen sollte. Diese Mischung aus rückwärtsgewandten und fortschrittlichen Forderungen war ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft, die sich mitten im Übergang vom vorindustriellen zum Industriezeitalter befand.68
Als die Handwerksmeister, die nicht im Traum an gesellschaftliche Solidarität dachten, sich weigerten, auf dem Kongress Sitze oder Stimmen an ihre Handwerksgesellen abzugeben, spalteten sich Letztere ab, veranstalteten ihren eigenen Allgemeinen Deutschen Arbeiterkongress und schlossen sich in der Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung zusammen, die modernere Formen politischer Identität pflegte: »Unterschiede von Meistern und Gesellen« lehnte sie als antiquiert ab, stattdessen sollten die Arbeiter »die modernen gesellschaftlichen Gegensätze von Kapitalisten und Arbeitern« akzeptieren.69 Hier wirkte sich letztlich der Marxismus aus, denn achtundvierzig führende Köpfe der Verbrüderung waren zugleich Mitglieder des Kommunistischen Bundes. Angesichts dieser frühen Äußerung von Klassenbewusstsein verwundert es nicht, dass nach wie vor das Jahr 1848 als Geburtsjahr der deutschen Arbeiterbewegung gilt.
Die Verbrüderung selbst war allerdings Resultat der intensiven Arbeit Stephan Borns, der sich nicht auf einen Klassenkampf vorbereitete, sondern vielmehr davon träumte, die gesamte deutsche Arbeiterschaft zu einer größeren politischen Vereinigung zusammenzuschweißen, und mit dem Berliner Zentralausschuss einen Anfang machte. Dessen Forderungen spiegelten die üblichen Belange von Handwerkern wider: So sollte ein angemessener Anteil von staatlichen Aufträgen an kleinere Werkstätten gehen und günstige Kredite zur Verfügung gestellt werden, um Investitionen im Bereich der Kleintechnologie zu ermöglichen; darüber hinaus sollten eine progressive Einkommensbesteuerung, Ruhestandsgeld und das Recht auf Arbeit garantiert werden, um sicherzustellen, dass jeder für sich selber sorgen könne. Der Berliner Zentralausschuss verlangte kostenlose Erziehung für alle, damit am Ende Kandidaten aus der Arbeiterklasse in das Parlament gewählt werden könnten, und stellte den Antrag auf eine Kommission aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die Arbeitskämpfe verhindern sollte. Nationalismus oder Angriffe auf das Privateigentum waren kein Thema, bei diesem Programm handelte es sich eher um einen Aufschrei der Handwerker gegen die Industrialisierung, einen Protest gegen die Abqualifizierung des Handwerkers, der durch den wirtschaftlichen Druck gezwungen wurde, sein Gewerbe aufzugeben und sich einer Fabrik, der Disziplin des unbarmherzigen Maschinentempos oder dem neuen Arbeitsrhythmus, der von den Unternehmern angeordnet wurde, auszuliefern.70
Born organisierte die Brüderschaft auf dem Berliner Kongress – der zwischen dem 23. August und 3. September stattfand und auf dem 31 Verbände aus 25 Städten vertreten waren. Die Resolution der Verbrüderung umfasste den Zehnstundentag, die Abschaffung der Besteuerung von Konsumgütern (die die Armen proportional stärker traf), unentgeltliche allgemeine Erziehung, Herabsetzung des Wahlalters und die Aufteilung großer Landgüter. Auch sollte das Frankfurter Parlament eine »soziale Kammer« einrichten, eine Art von Luxembourg-Kommission, die bei Parlamentsdebatten Gesetzesentwürfe zu sozialen und wirtschaftlichen Themen einbringen konnte. Die Brüderschaft hatte ihren Sitz in Leipzig und unterhielt Bezirkskomitees in 27 deutschen Städten, wodurch sie ein nationales Netzwerk für deutsche Arbeiter schuf. Diese regionalen Niederlassungen arbeiteten sehr pragmatisch, um angeschlagenen Handwerkern zu helfen: Manche gründeten Kartelle, um Rohstoffe in großen Mengen einzukaufen; andere riefen Arbeitsagenturen ins Leben und stellten Gesellen Geld zur Verfügung, damit sie zur Arbeitssuche auf Reisen gehen konnten. Der Berliner Ortsverband entwickelte ein Versicherungsmodell für Arbeitsunfähige, das rund 20 000 Interessenten anzog. Die Brüderschaft legte somit trotz ihrer gelegentlich feurigen Klassenrhetorik die Betonung auf einen überlieferten liberalen Wert – die Selbsthilfe. Um diesen umzusetzen, bot sie ein Bildungsprogramm an: Wenn sie wollten, konnten die Arbeiter Vorträge zu so unterschiedlichen Themen wie Religion, Ethik, die Französische Revolution von 1789, Geografie und Volkswirtschaftlehre besuchen.71 All das war höchst achtbar und stellte für die junge liberale Ordnung keine direkte Herausforderung dar: Genau genommen waren die Forderungen nach einer »sozialen Kammer«, die dem Frankfurter Parlament angeschlossen sein sollte, ein deutliches Signal, dass die Brüderschaft mit dem neuen Regime zusammen- und nicht gegen es arbeiten wollte. Der Arbeiterkongress der Handwerksgesellen in Frankfurt, dessen Teilnehmer scharenweise der Brüderschaft zuliefen, sammelte sich nicht um ein rotes, sondern um ein grünes Banner mit einem goldenen Eichenkranz. »Das langfristige Ziel«, schreibt Wolfgang Siemann, »hieß Integration der Arbeiter in die politische Demokratie.«72 Später spottete Marx, dass die deutschen Revolutionäre, wenn sie je einen Bahnhof stürmen sollten, eine Bahnsteigkarte lösen würden.
Die grundsätzliche Zurückhaltung der deutschen Arbeiterbewegung bedeutete nicht, dass das Bürgertum mit seinen aufflackernden Ängsten vor Aktionen verschont blieb, auf denen die Arbeiterschaft ihre Stärke demonstrierte. Am 4. Juni bewegte sich – die schwarz-rot-goldenen Fahnen der deutschen Einheit schwenkend – ein großer Protestzug der demokratischen Vereine Berlins zur Allee Unter den Linden: Handwerker, Zivilgardisten sowie die Frauen und Töchter der (ausschließlich) männlichen Mitglieder der Vereine marschierten mit. Fanny Lewald, die sich noch immer an die Hoffnung klammerte, dass eine neue Friedensära anbrechen werde, merkte an: »Es wäre schlimm, wenn wir in unserer Zeit noch kein anderes Argument für die Wahrheit besäßen, als den Donner der Kanonen und das Beil der Guillotine.« Dennoch veranschaulichte die Demonstration auf drastische Weise die soziale Spaltung innerhalb der städtischen Gesellschaft. Nach den ansässigen Handwerksmeistern, die die Banner ihrer alten Zünfte trugen, kamen die arbeitslosen, verarmten Handwerker und Handwerksgesellen, die hinter dem grünen Banner der Brüderschaft marschierten, das ein Spruch zierte, der ebenso Bitte wie Drohung darstellte: »Die brotlosen Arbeiter!« Lewald schauerte zusammen: »[Die Arbeiter] werden berechtigt sein, sich einen Platz in der Gesellschaft und Genuß des Lebens zu erkämpfen, wenn man nicht friedliche Mittel findet, ihnen genug zu thun.«73 Als ob er diese Bitte beherzigen wolle, tat der im Wesentlichen aus Handwerkern und Angehörigen des Bürgertums bestehende Demokratische Klub alles, um dreihundert Arbeitslose pro Woche zu verköstigen. Trotzdem hatten seit der Märzrevolution nicht weniger als 70 000 Menschen aus Angst um ihre Sicherheit fluchtartig Berlin verlassen. Die Ereignisse im Juni schienen ihnen recht zu geben, da sie den Hoffnungen der Liberalen auf eine gütliche, friedliche Entwicklung hin zu einem neuen Preußen einen schweren Schlag versetzten.
Die Wahlen zum preußischen Landtag hatten im Mai auf der Basis des indirekten, aber allgemeinen Wahlrechts für Männer stattgefunden und eine Mischung aus Bauern, Adeligen, Handwerkern, Ladenbesitzern, zahlreichen Hausangestellten, aber (überraschend) wenig Rechtsanwälten hervorgebracht – Arbeiter fehlten. Das Parlament mit seinem starken linken Flügel trat erstmals am 22. Mai zusammen; von 395 Delegierten waren 120 Demokraten, darunter am Rande des Spektrums auch Republikaner. Diese Zusammensetzung erstaunte die Zeitgenossen – und nicht zuletzt auch das Parlament selbst. Friedrich Wilhelm IV. hatte den gemäßigten rheinischen Liberalen Ludolf Camphausen als Ministerpräsidenten beibehalten. Letzterer war kein Revolutionär und glaubte, dass nur eine enge Zusammenarbeit zwischen dem preußischen Staat und den Reformern, die Kommunistencliquen, wie er sie nannte, davon abhalten könne, Amok zu laufen.74 Lewald war klar: »Er will vermittelnde Übergänge«, aber die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben: »Man sieht diesen bleichen Zügen sorgenvoll durchwachte Nächte an und Stunden des Kampfes.«75 Es war offensichtlich, dass Camphausen weder über eine Mehrheit im Parlament verfügte, noch Kontrolle über die Berliner Demokraten besaß. Als der König bei der Parlamentseröffnung am 22. Mai einen Verfassungsentwurf übermittelte, wurde dieser kurzerhand abgelehnt und stattdessen ein parlamentarischer Ausschuss gebildet, der eine eigene Version erstellen sollte. Einmal mehr ließ die Linke die Muskeln spielen, indem sie am 8. Juni einen Antrag vorlegte, der von den Abgeordneten faktisch die Anerkennung der Volkssouveränität und die Legalisierung der Revolution gegenüber dem königlichen Machtanspruch forderte: Der Landtag sollte erklären, dass die Aufständischen, die in der Märzrevolution gekämpft hatten, »sich wohl um das Vaterland verdient gemacht haben«.76 Camphausen schaffte es, genug Stimmen aufzubringen, um diesen brisanten Antrag zu vereiteln, doch die Linke schien weiterhin Amok zu laufen.
Die Ablehnung des Antrags provozierte sechs Tage später einen Aufstand, dessen Ziel die Aufstellung einer bewaffneten demokratischen Bürgermiliz war, einer, die nicht auf Studenten und Männer mit Besitz beschränkt blieb. Der Anführer der Aufständischen, Friedrich Wilhelm Held, war weder orthodoxer Sozialist noch Demokrat: Als ehemaliger Leutnant der preußischen Armee, einstiger Schauspieler und Autor nützte er seine spitze Feder und scharfe Zunge, um auf dem Platz »In den Zelten« die Menschenmenge aufzurütteln. Der eiserne Kern seiner Anhänger war unter den Eisenbahnarbeitern zu finden, deren Zeitung Die Locomotive er herausgab. Seine Vision war sowohl obrigkeitlich als auch populistisch, kombinierte sozialistisches, militaristisches und königstreues Gedankengut – und war somit Vorläufer der modernen rechtsextremistischen Ideologie, die soziale Revolution mit eiserner Herrschaft verband. Held nutzte die verbreitete Angst vor einem militärischen Angriff auf die Stadt, und so kam es, dass sich am 14. Juni seine Anhänger auf dem kleinen Platz vor dem königlichen Zeughaus drängten und nach Waffen verlangten. Als die Masse sich nach vorne schob, feuerten die wachhabenden Soldaten und töteten zwei Demonstranten. Wie vorherzusehen war, folgte ein Tumult, in dessen Verlauf die Wachen überwältigt und das Zeughaus geplündert wurde. Dieses Ereignis steigerte die politische Erregung in Berlin bis zum Siedepunkt. Gemäßigte Demokraten wie Born versuchten, sich von der Rebellion zu distanzieren (er nannte Helds Eisenbahnarbeiter »Plünderer«, während die nach links tendierende Fanny Lewald den Angriff als »verbrecherisch« verurteilte); für die Konservativen aber war sie ein Geschenk, denn immerhin konnten sie jetzt glaubhaft versichern, Berlin sei durch bewaffnete Arbeiter gefährdet. Am Ende des Monats schrieb eine verzweifelte Lewald: »Der Ton der Parteien, die sich immer schroffer gegenübertreten, wird von beiden Seiten heftiger, und selbst der Hinblick auf den furchtbaren Straßenkampf in Paris scheint die Parteiwuth aufzustacheln, statt sie zu besänftigen und zum Frieden zu ermahnen.« Wie französische Beobachter der Pariser Tragödie sah die Schriftstellerin die sich anbahnende Krise in Berlin unter sozialen Aspekten: »Dieser Kampf der Besitzenden gegen die Nichtbesitzenden war es, der mir als eine unausbleibliche Gewißheit vor der Seele schwebte, lange ehe diese jetzige Revolutionszeit in unsern Gesichtskreis getreten war. Nun ist er hereingebrochen und man weiß ihm nicht anders zu begegnen, als mit der Macht der Bajonette, mit den Kugeln der Kanonen.«77 Die Liberalen waren jetzt in der Mitte gefangen und mussten zwischen dem Drang der Obrigkeit, die Ordnung wiederherzustellen, und dem Wunsch, die schwer erkämpften Freiheiten, die jetzt die »Roten« zu ermutigen schienen, wählen. Niemand, nicht einmal die Konservativen, war auf eine echte Gegenrevolution vorbereitet, doch Camphausens Rücktritt am 20. Juni – er war nicht bereit, Soldaten, das Mittel der alten absoluten Monarchie, in die Stadt zu holen, um das Parlament zu schützen – ließ viele glauben, dass die extreme Linke außer Kontrolle geraten sei. Einer von ihnen, der Philosoph David Friedrich Strauß, gab offen zu: »Einer Natur wie die meinige war es unter dem alten Polizeistaat viel wohler als jetzt, wo man doch Ruhe auf den Straßen hatte und einem keine aufgeregten Menschen, keine neumodischen Schlapphüte und Bärte begegneten« (Radikale, die als »wilde Rote« abgestempelt wurden, gaben sich dadurch zu erkennen, dass sie Fellkappen und lange Bärte trugen).78 Strauß stand mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit stellvertretend für die Berliner, die sich Frieden und Ordnung wünschten. Die königlichen Truppen, ehemals Feinde, wurden nun auf den Straßen als die Beschützer der gesetzestreuen Bürger freudig begrüßt.
All das war Wasser auf die Mühlen der Konservativen, die nun in Bewegung kamen. Friedrich Wilhelm hatte sich, erschüttert von der Revolution, in die friedliche Umgebung von Schloss Sanssouci zurückgezogen. »Scham und innerer Vorwurf lasten schwer auf ihm«, schrieb ein hessischer Gesandter, »schon im Äußeren ist er ermüdet.«79 Doch weil er immer wieder stundenweise nach Berlin fuhr, um sich dort mit liberalen Ministern zu besprechen, denen er nicht ganz vertraute, hatte er sich den Freiraum geschaffen, der ihn schließlich zur Leitfigur für Konservative wie Gerlach werden ließ, der später von Otto von Bismarck als »vornehmer und selbstloser Charakter, ein treuer Diener des Königs« beschrieben wurde.80 Gerlach drängte seinen königlichen Herrn, der Revolution zu widerstehen und »nicht um Haares Breite zu weichen«.81 Friedrich Wilhelm war ganz Ohr: Insgeheim hielt er die Revolution für eine Sünde, als König musste er sich vielmehr mit seinen »wahren« Leuten zu verbünden suchen, die ihn wirklich liebten. Unter den Männern, die am Hof erschienen, um ihre Dienste anzutragen, war auch Bismarck, der dem König wieder und wieder versicherte, dass seine Macht nach wie vor auf festen Fundamenten ruhe.82
Während Friedrich Wilhelm sein Selbstvertrauen zurückerlangte, gingen die Konservativen im Parlament daran, Widerstand zu leisten, weil sie spürten, dass die öffentliche Meinung sich allmählich vom Chaos der Revolution abzuwenden begann. Die Vorlage des Verfassungsentwurfs vom 26. Juli bot dazu die Gelegenheit. Den Vorsitz im Verfassungsausschuss hatte Benedikt Waldeck inne, ein älterer Richter aus Westfalen, der durch seine Rechtschaffenheit, seinen Katholizismus und das Bewusstsein von den Mühen des Alltags einen wahrhaften Republikaner abgab. Die »Charte Waldeck«, wie der Entwurf scherzhaft genannt wurde, glich indessen einem Dolch, der auf das Herz der preußischen Monarchie, das Militär und die Junkerherrschaft, zielte. Dem Parlament wurden die Kontrolle über die Volksmiliz und ausgedehnte Machtbefugnisse durch exekutive Aufsicht (einschließlich des Rechts, diplomatische Verträge zu ratifizieren) übertragen; dem König räumte man eher ein aufschiebendes als ein absolutes Vetorecht ein; Adelstitel und die Überreste feudalherrschaftlicher Privilegien schaffte man ab. Bis zum Sommer hatten die Konservativen in Sachen konstitutioneller Monarchie bestenfalls Lippenbekenntnisse geleistet, jetzt lehnten sie die »republikanischen« Paragrafen dezidiert ab. Nachdem am 31. Juli in der kleinen schlesischen Stadt Schweidnitz vierzehn Menschen von Soldaten niedergemäht worden waren, während sie für eine Bürgermiliz demonstrierten, verabschiedete das Parlament am 9. August ein Dekret, nach dem alle Soldaten einen Eid auf die Treue zur Verfassung leisten und »die Offiziere allen reaktionären Bestrebungen fernbleiben« mussten.83 Es war der verzweifelte Versuch, die Loyalität des Militärs zu halten, doch gleichzeitig stillschweigendes Eingeständnis einer Schwäche der entstehenden liberalen Ordnung.
Ähnliche Schwachstellen deckte man in Frankfurt auf, wo am 18. Mai das deutsche Parlament zum ersten Mal zusammentrat. Der genaue Wahlmodus war den einzelnen Staaten überlassen; die Richtlinien vom 7. April gaben nur vor, dass die Wähler erwachsen und männlichen Geschlechts sowie »unabhängig« zu sein hatten, näher definiert wurde dieser Begriff allerdings nicht. Aus diesem Grund konnten die meisten deutschen Regierungen das Wahlrecht auf jene beschränken, die Besitz vorzuweisen hatten, bestimmte Steuerarten oder -sätze zahlten oder nicht von ihrem Lohn allein lebten.84 Die Mehrheit der Staaten hielt zudem indirekte Wahlen ab, was den Honoratioren vor Ort, die normalerweise in die Wahlmännergremien gewählt wurden, die Möglichkeit zur Einflussnahme verschaffte. Nach Schätzungen kamen, umgerechnet auf ganz Deutschland, immerhin drei Viertel der erwachsenen männlichen Bevölkerung in den Genuss des Wahlrechts, auch war die Wahlbeteiligung im Allgemeinen hoch. Bezeichnenderweise tendierten Länder mit einem breiter angelegten Wahlrecht zur Wahl konstitutioneller Monarchisten oder sogar konservativer Abgeordneter, während in Ländern mit einer begrenzteren Wählerschaft, etwa Baden und Sachsen, demokratische Delegierte gewählt wurden. Wie die meisten Bauern Europas war auch die ländliche Bevölkerung Deutschlands konservativ und der Monarchie treu ergeben. Die Radikalen dagegen fanden vor allem beim kleinstädtischen Bürgertum Anklang, während die republikanischen Kandidaten dort besser abschnitten, wo ihre Stimmen nicht von einer breiteren ländlichen Wählerschaft abgezogen wurden.85 Nur wenige wirklich blaublütige Konservative wurden überhaupt gewählt, da die meisten von ihnen die Wahlen verächtlich gemieden hatten. Die allgemeine Unterstützung der Monarchie zeigte sich dementsprechend im starken Abschneiden der liberalen Anhänger der konstitutionellen Monarchie, die 585 Sitze gewannen und damit die Hälfte der Abgeordneten stellten, wobei sie sich in Gemäßigte und Linke aufteilten. Darüber hinaus gab es eine lautstarke Gruppe Radikaler, die 15 Prozent der Abgeordneten ausmachte. Sie setzte sich zu gleichen Teilen aus Leuten zusammen, die aus taktischen Gründen bereit waren, mit den konstitutionellen Monarchisten zusammenzuarbeiten, dazu gehörte etwa Robert Blum, und fundamentaleren Demokraten, die keine Kompromisse mit den Überbleibseln des alten Regimes dulden wollten. Aufgrund seiner großen Mehrheit von Abgeordneten aus dem Bürgertum und akademischen Kreisen wurde die Versammlung als »Parlament der Professoren« bezeichnet, ein Beiname, der zugleich andeutet, dass die Politiker etwas Pedantisches ausstrahlten und zu keinen praktikablen Lösungen für die Herausforderungen der Zeit fanden.
Doch letztlich hatten die Deputierten gar keine Gelegenheit, sich im Elfenbeinturm zu verstecken. Denn während sie an der Verfassung für ein vereinigtes Deutschland arbeiteten, wurden sie mit einer internationalen Krise konfrontiert, die ernste Folgen für die junge freiheitliche Herrschaftsordnung haben sollte. Im Mai kam es im Schleswig-Holsteinischen Krieg unter dem diplomatischen Druck vonseiten Englands, Russlands und Schwedens zu einer vorübergehenden Waffenruhe. Am 26. August wurden die Preußen gezwungen, in Malmö ein Waffenstillstandsabkommen zu unterzeichnen, wonach sich preußische wie dänische Truppen gleichermaßen zurückziehen mussten und die provisorische deutsche Regierung in Schleswig abgesetzt und von einer gemeinsamen dänisch-preußischen Behörde ersetzt wurde. Sofort erhob sich ein Proteststurm in ganz Deutschland. Und es zeigte sich, dass die vom Parlament berufene provisorische Regierung unter dem populären habsburgischen Erzherzog Johann nicht die Macht besaß, Preußen, ohne Rücksicht auf die öffentliche Meinung, von der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens abzuhalten. Offensichtlich lag die wahre Macht noch immer in den Händen des alten Systems und nicht in der schönen neuen Welt eines vereinigten Deutschland. Von den Liberalen des rechten Flügels machte sich der Historiker Friedrich Dahlmann Luft im Parlament, als er ausrief, dass durch den Waffenstillstand »diese neue deutsche Macht […] von Anfang her in ihrem Aufkeimen beschnitten […] werde«. Sollte man sich dem internationalen Druck beugen, so warnte er, »meine Herren, werden Sie Ihr ehemals stolzes Haupt nie wieder erheben! […] Denken Sie an meine Worte: Nie!«86 Am anderen Ende des politischen Spektrums warnte Robert Blum, dass der Abschluss des Waffenstillstandsabkommens einen Aufstand entfachen werde. Die Delegierten, die sich entweder in verletztem Stolz empörten oder vor einem Aufstand des linken Flügels zurückschreckten, stimmten dafür, den Waffenstillstand abzulehnen. Erzherzog Johanns liberale Minister, die sahen, dass dieses Votum der Entscheidung gleichkam, den Krieg gegen Dänemark fortzusetzen – und möglicherweise eine englische und russische Intervention heraufzubeschwören –, dankten ab. Am 16. September sollte diese Gefahr endlich ins allgemeine Bewusstsein dringen – das Parlament nahm sein Votum zurück (selbst Dahlmann hatte seine Meinung geändert). Preußen war einfach zu mächtig und die Möglichkeit eines europäischen Krieges zu groß, als dass die Nationalversammlung beide provozieren wollte.
In Frankfurt jedoch hatte diese Wendung dramatische Folgen. Denn am folgenden Morgen hörten 12 000 Leute bei einer Versammlung, wie die Anhänger der extremen parlamentarischen Linken zu einer zweiten Revolution aufriefen. Ein Protest der Massen musste her, wer für den Waffenstillstand war, galt als Verräter und sollte sein Mandat abgeben. Erzherzog Johanns neuer Ministerpräsident, der gerissene Österreicher Anton von Schmerling, stellte sich der Herausforderung sogleich und verlangte zum Schutz der Nationalversammlung Truppen aus Hessen-Darmstadt, Österreich und Preußen. Am nächsten Morgen marschierten 2000 Soldaten ein. Am 18. September drängte sich dann eine große Menschenmenge auf dem Platz vor der Paulskirche, wo ein paar Demonstranten einen unbewachten Hintereingang zur Nationalversammlung entdeckten. Als Fäuste und Äxte die Türen einschlugen, trat Heinrich von Gagern vor und brüllte: »Ich erkläre jeden Frevler an diesem Heiligthum für einen Hochverräther am Vaterlande!«87 Sein Mut ließ die Angreifer innehalten, sie zogen sich sofort zurück. Der Rest der Sitzung fand schließlich hinter den verriegelten Toren der Kirche statt. Draußen räumten Soldaten den Platz, und die Barrikaden, die überall in der Innenstadt aufgetürmt worden waren, wurden von den Hessen gestürmt. Von Gagerns Kinder, die man in einer Kutsche hinauseskortierte, konnten in der Ferne das Knattern der Musketenschüsse hören. Insgesamt wurden sechzig Aufständische und Soldaten getötet – zudem zwei Paulskirchenabgeordnete des konservativen Lagers: Hans von Auerswald und Felix Lichnowsky. Sie wollten draußen die Lage erkunden, als ein Trupp Rebellen sie umzingelte. Auerswald wurde auf der Stelle getötet; Lichnowsky, einen der freimütigeren und deshalb unbeliebten konservativen Abgeordneten, metzelte man barbarisch nieder: Sie brachen ihm mit wiederholten Schlägen die Knochen, um den Hals hängten sie ihm das Wort »Geächteter«, anschließend banden sie ihn an einen Baum und benutzten ihn als Zielscheibe.
Das war ein Schock für ganz Deutschland. Doch im leidgeprüften Baden marschierte am 22. September ein unverbesserlicher Gustav Struve zusammen mit anderen Republikanern, darunter Wilhelm Liebknecht6*, später einer der Gründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, über die Schweizer Grenze ins Land. Sie besetzten das Lörracher Rathaus, riefen eine deutsche Republik aus und machten sich daran, den Besitz bekannter Monarchisten zu konfiszieren, womit sie bei Liberalen und Konservativen gleichermaßen für Unruhe sorgten. Zudem hoben sie erfolgreich eine Streitmacht aus – nach Struves optimistischer Schätzung zählte sie 10 000 Mann –, die allerdings schlecht ausgerüstet war. Als sie vier Tage später bei Staufen auf die Truppen des Großherzogs stießen, waren sie innerhalb von zwei Stunden besiegt. Bevor er und seine Frau (selbst eine aktive Demokratin) verhaftet wurden, entging Struve knapp der Ermordung durch wütende Monarchisten.
Die Septemberkrise brachte die deutsche Revolution klar auf einen konservativen Kurs. Frankfurt stand jetzt unter Kriegsrecht. Kurz nach den blutigen Ereignissen kam Carl Schurz in die Stadt:
»Als ich auf meinem Wege nach Eisenach in Frankfurt ankam, biwakierten die siegreichen Truppen auf den Straßen um ihre Wachtfeuer; die Barrikaden waren noch nicht ganz hinweggeräumt; das Pflaster war noch mit Blutspuren befleckt; überall hörte man den schweren Tritt von Patrouillen. […] Die königlich-preußische Regierung hatte dem Nationalparlament, das die Souveränität des deutschen Volkes repräsentierte, erfolgreich Schach geboten. Diejenigen, die sich das Volk nannten, hatten ein Attentat gemacht auf die aus der Revolution hervorgegangene Verkörperung der Volkssouveränität, und diese hatte gegen den Haß des Volkes Schutz suchen müssen bei der bewaffneten Macht der Fürsten. Damit war der im März begonnenen Revolution tatsächlich das Rückgrat gebrochen.«88
Allmählich zeigte sich immer deutlicher, dass die wahre Macht nicht in den Händen der Nationalversammlung und ihrer freiheitlichen Regierung lag, sondern bei den Einzelstaaten – und den Fürsten –, die nach wie vor über den Gehorsam ihrer bewaffneten Streitmächte verfügten.
Inzwischen war die Revolution dabei, sich selbst zu zerfleischen. Wie in Frankreich polarisierte sich die deutsche Politik zunehmend, als die Liberalen mehr und mehr nach autoritären Lösungen suchten, um Recht und Ordnung zu verteidigen. Auf dem linken Flügel schrieb ein vernünftiger und standhafter Blum an seine Frau, dass er sich am liebsten ganz aus der Politik zurückziehen und die weitere Entwicklung aus bequemer Ferne beobachten würde, wäre da nicht die Schande, seine demokratischen Genossen im Stich zu lassen. Schurz merkte an, dass die Abgeordneten des rechten Flügels »mit dem Lächeln des Triumphes auf den Lippen« im Parlament säßen.89 Obwohl Radikale beim Frankfurter Aufstand durchaus die Führung übernommen hatten, waren andere durchaus bemüht, eine friedliche Beilegung zu erzielen. Es nützte ihnen wenig: Wie ihren französischen Pendants schob man ihnen die Schuld in die Schuhe. Fanny Lewald, die einen Monat später Frankfurt besuchte und das Verfahren der Nationalversammlung beobachtete, fiel der starke »Parteihaß« auf; es machte sie traurig, »wie viele der Deputirten glaubenslos sind, wie sie Einer den Andern für schlecht, für wahnwitzig erklären und einander jede politische Einsicht absprechen«. Auch bemerkte sie, dass die Konservativen kaltblütig »als letztes Argument Kartätschenkugeln brauchen«.90 Clotilde Koch-Gontard, die Tochter eines in Frankfurt führenden Industriellen, die Salons und Abendessen für die gemäßigten Liberalen veranstaltete, schrieb am 23. September, sie sei von der Revolution enttäuscht. Liberale und Konservative schalt sie für ihren »deutschen Eigensinn und die Kleinlichkeit«, glaubte aber auch, dass die Linke provoziert habe. »Der Waffenstillstand war nur ein Vorwand. Es wäre auch ohne ihn der Bürgerkrieg ausgebrochen, und den haben wir, das müssen wir uns nun klarmachen. Diese Linke kann es nicht verantworten, was sie an Deutschland versündigt«.91
III
Auch in Österreich spielte die Angst vor gesellschaftlichen Unruhen den Konservativen in die Hände. Nach der Flucht der Königsfamilie am 17. Mai und der allgemeinen Reaktion darauf, spürte die Regierung von Baron Pillersdorf, dass es an der Zeit war, zurückzuschlagen. Ein neues Pressegesetz sollte nun das Veröffentlichen landesverräterischer Schriften, Majestätsbeleidigung und Versuche, die öffentliche Moral zu untergraben, mit Gefängnis bestrafen. Die Regierung ging am 25. Mai so weit, einen Vorstoß gegen die Hauptquelle des Wiener Radikalismus, die Studentenbewegung, zu unternehmen, indem sie die Auflösung der Akademischen Liga und die Schließung der Universität anordnete. Doch die Obrigkeit übertrieb, denn noch war sie zu schwach, um dem unvermeidlichen Widerstand der Studenten und ihrer Verbündeten aus der Arbeiterklasse standzuhalten. Schon am nächsten Tag protestierten die Studenten, und Arbeiter, die sich mit Werkzeug bewaffnet hatten, marschierten in die Innenstadt. Mithilfe schwerer Pflastersteine, die sie aus dem Straßenbelag hievten, errichteten sie hundertsechzig Barrikaden. »Vielerorts reichten sie bis zum zweiten Geschoss der Häuser hoch … über ihnen flatterte entweder die rote oder schwarze Flagge, die sicheren Zeichen für Blut und Tod.«92 Dennoch kam es nicht zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Die Regierung, sich ihrer Schwäche sehr wohl bewusst, lenkte am 27. Mai ein und versprach, der Akademischen Legion und der Nationalgarde unter dem Kommando des »Sicherheitsausschusses«, der nach der Flucht des Kaisers ins Leben gerufen worden war, die Sorge für die Sicherheit der Stadt zu überlassen.
Die Erhebung vom 26. Mai, sofern sie eine war, sollte denn auch den Höhepunkt der Wiener Revolution bilden. Den meisten Österreichern war ohnehin alles zu weit und zu schnell gegangen. Der amerikanische Diplomat William Stiles meinte, dass die gemäßigten Anhänger der Verfassung »einen doppelten Kampf« ausfochten, erstens den des Volkes gegen die alte Regierung; zweitens den der neuen Regierung gegen die Radikalen beziehungsweise gegen die Feinde jeglicher Regierung. Er zweifelte nicht daran, dass sie, vor die Wahl gestellt zwischen dem alten System und weiterem Aufruhr, Ersteres als das kleinere Übel wählen würden.93 Viele Österreicher erschreckte die Militanz der Radikalen, die bei der Unterstützung der deutschen Einheit zutage trat – einer Einheit, die die einst so mächtige österreichische Monarchie zu einem bloßen Anhängsel des größeren Deutschland machen würde, das womöglich eine Republik und, schlimmer noch, von den verhassten Preußen beherrscht sein würde.94 Gleichzeitig gab es gesellschaftliche Ängste, die durch das Wissen um die Armut der österreichischen Arbeiter noch verstärkt wurden.
Durch die allgemeine politische Unsicherheit und einen Rückgang der Konsumgüternachfrage, ausgelöst durch die anhaltende Flucht der Reichen aus Wien, verschlimmerte sich im Laufe des Sommers 1848 die wirtschaftliche Not. Anfangs waren die Wiener Arbeiter politisch noch relativ unbewusst, sie behielten ihr Zutrauen in die Studenten, die sie bei Auseinandersetzungen mit Arbeitgebern oft um Hilfe baten. Doch schon bald begannen die Rufe radikaler Journalisten nach Vereinigung der Proletarier, die Verbalattacken gegen Reiche und die Forderung, dass die Regierung mehr für die Armen tun müsse, Wirkung zu zeigen. Von dem neuen liberalen System nämlich waren Arbeiter auf zweifache Weise ausgeschlossen: Erstens wurde ihnen die Mitgliedschaft in der Nationalgarde verwehrt, die im Wesentlichen eine Miliz des Bürgertums blieb und die Aufgabe hatte, Eigentum zu sichern; zweitens wurde bis zur Sturmpetition vom 15. Mai das Wahlrecht all jenen vorenthalten, die Tages- oder Wochenlohn bezogen, Bedienstete oder Wohlfahrtsempfänger waren.
Um das Elend der etwa 16 000 Arbeiter der Stadt zu mildern, wurde man nun aktiv. Im Frühling hatte die Regierung die Steuern auf bestimmte Lebensmittel gesenkt oder sogar abgeschafft und öffentliche Arbeiten vergeben, unter anderem die Befestigung der Donauufer. All das reichte aber nicht, um dem anwachsenden Arbeitslosenheer zu helfen, das am stärksten unter der Wirtschaftskrise litt. Den ganzen Sommer über wurden auf Versammlungen Rufe laut nach niedrigeren Mieten oder überhaupt keinen Mieten, auch zogen Wiener Arbeiter erstmalig durch die Straßen und zwangen Arbeitgeber, eine Zehn-Stunden-Woche sowie Lohnerhöhungen zu gewähren. Die Schneider organisierten eine Versammlung, auf der sie forderten, dass man Frauen (die die Löhne der Männer unterboten) verbiete, Kleider und Schleier anzufertigen. Der Laden einer französischen Hutmacherin wurde geplündert. Um die Militanz der Arbeiterklasse in den Griff zu bekommen, rief der Sicherheitsausschuss ein Arbeitskomitee ins Leben, das mit der Beschaffung von Nahrungsmitteln und weiteren öffentlichen Aufgaben für die Erwerbslosen betraut wurde und zugleich den Zuzug von Nichtwienern in die Stadt verhindern sollte. Arbeiter bekamen die Aufgabe übertragen, die kaputten Maschinen zu reparieren und die Fabriken wieder aufzubauen, die während der Märztage niedergebrannt worden waren. Doch trotz all dieser Bemühungen gelangten weiterhin verarmte Nichtwiener, die verzweifelt nach Hilfe suchten, in die Stadt, wodurch die mit öffentlichen Arbeiten Betrauten zu einem wahren Heer anschwollen. Die Regierung machte sich allmählich Sorgen über die Kontrolle dieser potenziellen Bedrohung und die Kosten für einen bereits gefährlich dezimierten städtischen Etat.
In dieser Atmosphäre allgemeiner Unsicherheit fanden nun die Wahlen zum österreichischen Parlament statt. Folgerichtig erhielten die Konservativen beziehungsweise die gemäßigten Liberalen die Mehrheit, obwohl der linke Flügel eine nicht unerhebliche Minderheit darstellte. Sie sollte später wichtig werden, für den Moment dominierte die für Recht und Ordnung stehende Gruppierung der Mitte, die das Ministerium und die Verfassung vom 25. April befürwortete. Das Parlament trat am 22. Juli zusammen. Zu diesem Zeitpunkt war unter Baron Johann Philipp von Wessenberg – einem früheren Diener des alten Systems, der die Politik auf einen stärker monarchistischen Kurs lenken konnte – ein neues Ministerium gebildet worden. Zur Ministerriege gehörte der reumütige liberale Jurist Alexander Bach, der, weil er Instabilität und revolutionäre Gewalt nicht ausstehen konnte, sich ohnehin den Konservativen zuneigte. Und während die Sommersonne unvermindert vom Himmel schien, gelang es der Regierung, ihre Macht zu festigen: mit der Zerschlagung der tschechischen Republik im Juni, mit der Bezwingung der Piemonteser in Norditalien im Juli und mit der Aushebung kroatischer Truppen gegen die Ungarn. Im August ging man sogar daran, die Macht des Kaisers im Zentrum zu festigen.
Noch aber befand sich Wien im Ausnahmezustand. Graf Alexander von Hübner war aus seiner Mailänder Haft entlassen worden und nach Österreich zurückgekehrt, wobei er unterwegs gemütlich in der Schweiz Ferien machte. Als er endlich daheim ankam, war er entsetzt ob des Anblicks, den die kaiserliche Hauptstadt bot:
»Aber wie sieht mein altes gutes Wien so ganz anders aus! Kaum zu erkennen […] Man sieht fast nur ungewaschene Studenten in fragwürdiger Toilette, Nationalgardisten, die nicht wissen, wie sie sich mit ihrem Säbel zu benehmen haben, Proletarier und Hetären der niedrigsten Art. Die ›Gutgesinnten‹, wie sie sich selbst nennen, die ›Schwarzgelben‹, sperren sich entweder zu Hause ab oder sind nach Baden, Hietzing, Döbling oder andern Orten der Umgebung entflohen, seufzen für den Kaiser und zittern im Kreise ihrer Familie.«95
Für Stiles hatte sich die Stadt von einem Lustgarten in eine Arena trostloser Politik verwandelt: »ständige Spektakel, Umzüge, Fahnenweihen, Festivitäten der Brüderlichkeit«. Zudem fiel ihm auf, dass die Flucht von Hof und Adel die Umsätze in der Hauptstadt ernsthaft hatte zurückgehen lassen und die Hersteller von Luxuswaren in den Ruin trieb – eine Einschätzung, der Engels beipflichtete. Daher war nicht nur das Bürgertum bereit, in den »Ruf nach Rückkehr zu einem geordneten Regierungssystem und nach Rückkehr des Hofes« einzustimmen.96 Nachdem eine Abordnung des Parlaments Kaiser Ferdinand von seiner Sicherheit überzeugt hatte, kehrte der am 12. August endlich zurück. Mädchen streuten Blumen auf den Weg der kaiserlichen Familie, als diese den Donaudampfer verließ, die Begrüßung war voller Freude. Ein Mitglied der Familie beeindruckte Hübner, der der Prozession zusah, besonders: der 18-jährige Franz Joseph, Neffe des Kaisers in Militäruniform. »Der ernste, fast finstere Ausdruck, nicht ohne einen Anflug edler Entrüstung, auf dem Antlitze des Erzherzogs Franz Joseph wirkte auf mich wie ein Licht- und Hoffnungsstrahl.«97
Die Radikalen parierten Ferdinands Rückkehr mit einer stürmischen Versammlung von 10 000 Mitgliedern demokratischer Vereine im »Odeon«, wo man erklärte, weiterhin hinter der extremen Linken der Frankfurter Nationalversammlung zu stehen. Dies wiederum provozierte einen Aufschrei unter den gemäßigteren Wienern, die die Akademische Legion und die Radikalen beschuldigten, den Republikanismus zu nähren. Allein die wirtschaftliche Not und das Thema der öffentlichen Arbeiten waren unangefochten. Die Regierung, die Pariser Junitage im Gedächtnis, zögerte, die Projekte ganz einzustellen, stattdessen verkündete sie Lohnkürzungen – was die Krise jedoch zuspitzte. Am 21. kam es – angeführt von den Frauen – in den Vorstädten zu Straßenprotesten. Am nächsten Tag fertigten Arbeiter eine Puppe in Gestalt des für öffentliche Arbeiten zuständigen Ministers, um diese mit den Worten zu bestatten, er sei an dem Geld erstickt, das er den Arbeitslosen entzogen habe. Bei dem Versuch der Nationalgarde, die Demonstranten zu zerstreuen, kam es zu Zusammenstößen, die am 23. August eskalierten. Die Akademische Legion, die sich weigerte, an der Niederschlagung der Proteste teilzunehmen, wollte sich allerdings nicht mit den Aufständischen verbinden und blieb als reine Beobachterin der nun folgenden Geschehnisse im Hintergrund. Doch ohne die Unterstützung seitens jener, die sie als ihre Anführer betrachteten, hatten die Arbeiter keine Chance. Die Demonstranten wurden mit flachen Säbelklingen erschlagen, von Bajonetten aufgespießt und erschossen. Zwischen sechs und 18 Arbeitern wurden getötet und zwischen 36 und 152 ernsthaft verwundet (je nachdem, ob man der Zählung der Regierung oder der der Radikalen Glauben schenkt). Als der Kampf vorbei war, schmückten Frauen aus den wohlhabenderen Vierteln die Bajonette der Nationalgardisten mit Blumengirlanden.
Wie bei den Pariser Junitagen waren die Arbeiterproteste spontan ausgebrochen, ohne politisches Zutun der radikalen Führung; trotzdem schien eine Schlussfolgerung unausweichlich: Die konservative Wiener Zeitung meldete, die Arbeiter hätten den Gegensatz zwischen ihrer unverdienten Armut und dem bewaffneten Eigentum gesehen, und in diesem Augenblick sei ein Proletariat entstanden, das es so vorher nicht gegeben habe.98 Die Radikalen aus dem Bürgertum versuchten zwar die soziale Kluft zu leugnen. Der Demokratische Klub buhte Marx aus, der damals gerade Wien besuchte, als er darzulegen versuchte, dass die Gewalt Ausdruck eines Klassenkampfs zwischen Proletariat und Bourgeoisie sei. Für Engels jedoch war der 23. August der Moment, in dem das Bürgertum die Sache des Volkes preisgab: »So wurde die Einheit und Macht der revolutionären Verbände zerschlagen; der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat war auch in Wien blutig zum Ausdruck gekommen, und die konterrevolutionäre Kamarilla sah den Tag herannahen, an dem sie es wagen konnte, zu ihrem großen Schlag auszuholen.«99 Marx dagegen war der Meinung, dass nicht nur die Bourgeoisie die Revolution im Stich ließ; seine Ideen, die er bei Arbeiterzusammenkünften vortrug, trafen auf wenig Gegenliebe. Am 7. September verließ er denn auch Wien, darüber klagend, dass die Arbeiter nicht einsehen wollten, dass sie einen Klassenkampf gegen die Bourgeoisie wagen sollten. Doch wenn sie sich auch nicht der klassenbewussten Begriffe bedienten, die Marx bevorzugt hätte, die Angst vor sozialer Not war da, und die sozialen Spannungen sollten mit dazu beitragen, die liberale Ordnung zu sprengen.
Zunächst ließ sich die Reaktion langsam an: Die öffentlichen Arbeiten wurden eingestellt, immerhin aber durch ein »Comité zur Unterstützung mittelloser Gewerbsleute« ersetzt, das sich darum bemühte, Beschäftigung für die Arbeitslosen zu finden. Mit anderen Worten, es gab kein direktes Eingreifen von staatlicher Seite mehr, doch wenigstens ging das Komitee seine Aufgabe voller Enthusiasmus an und beriet sich mit den Zünften darüber, wie die Regierung die wirtschaftlichen Bedingungen verbessern könne. Die Nationalgarde wurde der unmittelbaren Oberhoheit des Innenministeriums unterstellt, das auch die Verantwortung für Recht und Ordnung übernahm – insgesamt ein Signal für das Ende des Sicherheitsausschusses, dessen gemäßigte Mitglieder am 25. August selbst den Antrag zur Auflösung stellten.100
In Wien drehte sich also das Blatt wieder zugunsten der Konservativen, und auch in Prag war zu diesem Zeitpunkt die Gegenrevolution fast an ihr Ende gelangt. Doch die sozialen Konflikte in tschechischen Städten wurden durch die ethnischen Spannungen zwischen den Tschechen und den Deutschen zusätzlich verkompliziert. Zwar machten die Arbeiter der tschechischen Kronländer nur einen sehr kleinen Prozentsatz der Bevölkerung aus, doch die Erinnerung an ihre Zerstörungskraft im Jahr 1844 sorgte dafür, dass es vier Jahre später Ängste vor einem »kommunistischen Aufstand« gab.101 Dennoch wurde wenig unternommen, um ihre Not zu mildern (obwohl in Prag die Preise bestimmter Nahrungsmittel gesenkt, Hilfsgüter gesammelt und Arbeitslose bei öffentlichen Projekten beschäftigt wurden). Einstweilen lautete der beste Rat, den die liberale Zeitung Bohemia erteilen konnte, man solle auf den Verfassungsentwurf warten, der gewiss allen eine bessere Zukunft bescheren würde. Im Grunde aber waren die Arbeiter von der neuen politischen Ordnung ausgeschlossen: Das Stimmrecht wurde ihnen zunächst im April bei der Wahl zum Mährischen Landtag in Brünn, dann am 28. Mai bei der Verabschiedung des böhmischen Wahlgesetzes durch den Nationalausschuss verweigert. Die Nationalgarde war wie überall zum Schutz des Eigentums gegründet worden und dazu, die Arbeiter in Schach zu halten. Das Versäumnis, Letzteren das Wahlrecht zu gewähren, zeigte sich, als der Nachschub an Rohstoffen (wie etwa Baumwolle aus den Vereinigten Staaten) durch eine verminderte Kreditwürdigkeit abnahm, sodass Fabriken schließen mussten und die Arbeitslosigkeit weiterhin ungebremst nach oben schoss. Darüber hinaus gab es einen starken Preisanstieg. Deshalb war es kaum verwunderlich, dass die Arbeiter unruhig blieben, zumal sie der Niedergang der österreichischen Macht zur Gewalt animierte. Anfang Mai gingen sie deshalb in Prag auf die Straßen, in Mährisch-Ostrau und Brünn kam es zu Streiks. Während die Arbeiter in Wien bei Studenten und der demokratischen Presse Fürsprecher fanden, hatten sie in Prag wenig Einfluss. Die Forderung nach der »Organisation von Arbeit und Löhnen« aus den Petitionen vom März waren vom Nationalausschuss stillschweigend aufgegeben worden. Der Fokus der tschechischen Studenten auf politische und nationale Themen hatte mit den grundsätzlicheren Sorgen der Arbeiter nichts zu tun. Auch Anzeichen für ein Klassenbewusstsein in sozialistischer Manier gab es nicht: Die tschechischen Arbeiter ließen ihre Wut und Verzweiflung eher an traditionellen Sündenböcken aus, nicht zuletzt den Juden. Als die Textilarbeiter am 3. Juni in einem Protestmarsch für bessere Arbeitsbedingungen unterwegs waren, wurden sie mühelos von der Armee auseinandergetrieben, und die städtische Obrigkeit geißelte die Demonstranten für ihren Starrsinn.102
Dennoch gingen die tschechischen Arbeiter aus dem Juni 1848 als politische Macht hervor. Und wie in so vielen anderen europäischen Städten kamen die dadurch evozierten Ängste der anderen Bevölkerungsschichten den konservativen Kräften zugute. Die Beweislage ist lückenhaft, doch es hat den Anschein, dass der kaiserliche Kriegsminister Graf Theodor Latour der Meinung war, Radetzkys Truppen in Italien sollten als »südliche Armee« durch eine »nördliche« Streitmacht ergänzt werden103 – ein Zeichen dafür, dass zumindest ein paar Minister eine strategische Vision zur Niederschlagung der Revolutionen im Habsburgerreich hatten. Während Radetzky in Italien vorwärtsdrängte, wurde der hitzköpfige Alfred Fürst zu Windischgrätz nach Prag geschickt, um das Kommando der kaiserlichen Truppen in Böhmen zu übernehmen. Für die Führung der Gegenrevolution im Norden hätte man keinen Besseren finden können: Der Marschall war ein erbitterter Gegner der Zugeständnisse vom Mai und machte keinen Unterschied zwischen Gemäßigten und Radikalen, die in seinen Augen allesamt Rebellen waren und damit eine Ladung Blei verdient hatten. Er war es auch, der 1844 den Aufstand der Prager Arbeiter niedergeschmettert hatte, weshalb seine Rückkehr in die Stadt einmal mehr das harte Vorgehen Wiens gegen die Tschechen anzukündigen schien.
Held der habsburgischen Gegenrevolution: Alfred Fürst zu Windischgrätz. Unsignierter Holzstich aus dem Jahr 1848. (akg-images)
Die verstärkte militärische Präsenz fiel denn auch sofort ins Auge: Patrouillen wurden verdoppelt, die Prager Garnison wurde vergrößert und auf den Höhen der Burg Vyšehrad und des Petřín-Hügels Artillerie in Stellung gebracht, die die Innenstadt beherrschte. Die Presse der Radikalen appellierte an die Soldaten, sich nicht zum Werkzeug der Reaktion machen zu lassen, und forderte, dass die Nationalgarde und die Akademische Legion Waffen, Artillerie und Munition erhielten – ein Begehren, dem Windischgrätz natürlich nicht im Mindesten stattzugeben gedachte. Seltsamerweise wurde am 10. Juni ein Ball mit slawischem Motto veranstaltet, zu dem die tschechischen Liberalen, Windischgrätz und der Gouverneur von Böhmen, Leo von Thun-Hohenstein, eingeladen wurden. Auch wenn die Feiernden ihn auspfiffen, als der Marschall den Ballsaal betrat, kam es zu keinen weiteren Ärgernissen.
Windischgrätz hatte die Situation auf den Straßen richtig interpretiert: Die Studenten und ihre Verbündeten in den militanteren Einheiten der Nationalgarde konnten maximal über 3000 Schützen verfügen, während er mit der Zeit an die 10 000 Soldaten zu mobilisieren in der Lage war. Zudem konnte er sich auf die Nationalgardisten aus den konservativeren und deutschsprachigen Vierteln verlassen. Die Chancen standen deshalb äußerst schlecht für die Liberalen, doch da keine der beiden Seiten bereit war nachzugeben, war ein Zusammenstoß geradezu unausweichlich. Der entscheidende Funke flog am 12. Juni in dieses Pulverfass, als nach einer Messe unter der Statue des heiligen Wenzel eine große Menge aus Studenten, Nationalgardisten, Mitgliedern der Svornost (der ausschließlich tschechischen Nationalgarde) und erwerbslosen Arbeitern (etwa 2500, größtenteils auf das Drängen radikaler Studenten hin) einen Protestmarsch gegen Windischgrätz veranstaltete. Diese Demonstration stieß auf eine Delegation des Deutschen Vereins, die eben beim Marschall gewesen war und ihm Unterstützung zugesagt hatte. Das folgende Handgemenge wuchs sich zu einer regelrechten Schlacht aus, immer wieder unterbrochen von Pattsituationen zwischen den tschechischen und deutschen Milizeinheiten. Die Gewalt ging schließlich auf die ganze Stadt über. Barrikaden wurden errichtet und sechs Tage der Gewalt folgten. Die Hoffnung auf ein Ende der Kämpfe verflog, als die Aufständischen zum einen Gouverneur Thun-Hohenstein als Geisel nahmen und zum anderen die Gattin von Windischgrätz durch einen Querschläger getötet wurde.
Die Revolutionäre hatten die meisten ihrer vierhundert Barrikaden schlecht platziert: Deshalb kalkulierte der Marschall, nur fünfzehn einnehmen zu müssen, um die Verbindungswege zwischen der Alt- und der Neustadt offenzuhalten. Die schwachen Befestigungen waren eilig errichtet worden, und am Ende des ersten Tages hatten österreichische Truppen, angeführt von Grenadieren als Stoßtrupps und mit Rückendeckung durch die Nationalgarde, die Hauptadern der Stadt unter Kontrolle. Unter diesen Umständen fielen die Forderungen der Aufständischen unter Führung Karel Havlíčeks recht zahm aus: die Entlassung von Windischgrätz, der Rückzug der Truppen und die Bildung einer neuen provisorischen Regierung. Während in den frühen Morgenstunden des 15. Juni die Kämpfe ruhten, zog Windischgrätz seine Soldaten von den Barrikaden zurück. Das war ein schlechtes Zeichen. Bald prasselten von den Höhen Granaten auf die Stadt herunter: Zehn Menschen starben, drei erlagen ihren Verletzungen, an die dreißig verstümmelte Leichen wurden erst später unter den Trümmern gefunden. Am 17. Juni war alles vorbei, das Kriegsrecht wurde verhängt. Seit Krakau Ende April war dies der erste bedeutende Sieg der Gegenrevolution im Habsburgerreich.104
Windischgrätz richtete einen umstrittenen Untersuchungsausschuss ein, um nach den Verantwortlichen für den Aufstand zu forschen. Diesem befahl er dann mehr oder weniger, »herauszufinden«, dass die Revolte Frucht einer weitreichenden slawischen Konspiration gewesen sei, durch die die habsburgische Monarchie unterminiert und zerstört werden sollte. Als Beweis dafür wurde angeführt, dass gleichzeitig der Slawenkongress in Prag tagte. Dieser war von den Tschechen einberufen worden, um den Elan, den Palackýs Zurechtweisung der Frankfurter ausgelöst hatte, aufrechtzuerhalten und die Slawen gegen deutsche Ansprüche zu mobilisieren. Der Kongress war daher so geplant, dass er mit der Eröffnung der deutschen Nationalversammlung im Mai zusammenfiel; schließlich versammelten sich die 385 Delegierten am 2. Juni unter Palackýs Vorsitz in Prag. Ähnliche Ideen zu einem Kongress, aber mit eigener Terminierung, waren auch aus anderen slawischen Ländern gekommen, namentlich von Slowaken wie L’udovit Śtúr, dem polnischen Nationalausschuss in Posen (der gute Gründe hatte, den deutschen Nationalismus zu fürchten) und südslawischen Anhängern der »illyrischen« Idee.105 Der Kongress hatte daher eine lange Tagesordnung: Die Möglichkeiten einer Vereinigung der slawischen Völker des Habsburgerreiches waren ebenso zu diskutieren wie die Beziehungen zwischen diesen und den anderen Nationalitäten der Monarchie, die Verbindungen von österreichischen und anderen Slawen und das Verhältnis aller zum Rest Europas. Doch schon der Gedanke an eine lockere Einheit der Slawen war problematisch: Polen und Ukrainer waren in der Galizienfrage zerstritten. Die Russen glänzten durch fast vollständige Abwesenheit: Der Kongress wollte sich weder von Deutschen noch von Ungarn vorwerfen lassen, Werkzeug der zaristischen Reaktion zu sein. Einer der sieben russischen Delegierten war immerhin Michail Bakunin, anarchistischer Denker und als solcher schwerlich Repräsentant russischer Vorstellungen. Die Tschechen fürchteten die Deutschen, doch für die Slowaken stellten die Ungarn die größere Sorge dar. Die Polen, die mit den Ungarn sympathisierten (denn beide waren antideutsch und antirussisch gesinnt), wollten eher zwischen den Südslawen und den Ungarn vermitteln, als Erstere unterstützen.106 Bakunin warf dem Kongress vor, sich zu sehr auf die österreichischen Slawen zu konzentrieren und damit die Misere derer zu ignorieren, die im osmanischen und im russischen Reich lebten.107 Gerade wegen dieser Gegensätzlichkeiten war der Slawenkongress, wie Lewis Namier es ausdrückte, ein »Saatbeet der Geschichte«;108 hier waren die Konflikte zu sehen, die mit den Erwartungen, Hoffnungen und Interessen der Völker zu tun hatten, die nach 1918 als Nachfolgestaaten aus den osteuropäischen Reichen hervorgehen sollten.
Aus all dem wird aber auch klar, dass der Kongress gar nicht Ort einer Verschwörung zur Zerschlagung der österreichischen Monarchie gewesen sein konnte. Als am 12. Juni in Prag der Kampf ausbrach, stürmten österreichische Soldaten das tschechische Nationalmuseum, den Tagungsort des Kongresses, in der Erwartung, dort bis an die Zähne bewaffnete slawische Horden vorzufinden – doch alles, was sie antrafen, war der zahme Museumsbibliothekar. Windischgrätz ließ sich davon nicht abhalten und befahl führende Delegierte festzunehmen, die aus der Stadt ausgewiesen wurden. Palacký und den übrigen Organisatoren blieb keine andere Wahl, als den Kongress bis auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Der Historiker selbst wurde, obwohl nur ein Gemäßigter, von der Polizei unter strenge Bewachung gestellt, während Havlíček (mit mehr Grund) am 3. Juli inhaftiert und das Büro seiner Zeitung Národní Noviny nach Indizien für eine »Verschwörung« durchsucht wurde. Die Einkerkerung dieses beliebten tschechischen Journalisten hatte dann zur Folge, dass er in fünf verschiedenen Wahlkreisen in das österreichische Parlament gewählt wurde. Windischgrätz’ Abschlussbericht, der, wie vorherzusehen war, den Kongress des Verrats anklagte, führte zu scharfen Protesten seitens der slawischen Mitglieder des Parlaments, darunter auch Palacký. Die vorgetäuschte Untersuchung geriet für die kaiserliche Regierung zur Peinlichkeit, und die meisten der im Zuge jener Junitage Arretierten wurden bis Mitte September amnestiert.109
Der Aufstand indessen hatte die ethnische Spaltung verschärft. Auch wenn es stimmt, dass die Aussicht auf eine Rebellion der Prager Arbeiterklasse viele Tschechen erschreckte: Die Einheiten der Nationalgarde, die den Juni-Aufstand eindämmten, waren zum größten Teil deutschsprachige Kompanien. Deshalb war für manche Tschechen die Sorge vor einer Revolution stärker als die nationale Frage. Doch wahr ist auch, dass die meisten deutschen Bürger von Prag, von denen viele Windischgrätz nicht leiden konnten, entweder dem Aufstand fernblieben oder eine aktive Rolle bei dessen Niederschlagung spielten. Folglich bestanden die Aufständischen in der überwältigenden Mehrheit aus tschechischen Studenten und Arbeitern, sodass sich in den Augen der deutschsprachigen Elite der soziale Konflikt mit den ethnischen Spannungen überlagerte. Und außerhalb Böhmens hatten deutsche Nationalisten keinen Zweifel: Die Kämpfe in Prag waren ihrer Natur nach national. Der radikale Volksfreund giftete gegen »die geisteskranke oder korrupte slawische Partei der Tschechen, die … Pläne schmiedet, … Österreich auf Kosten der Deutschen und Ungarn in ein slawisches Reich zu verwandeln«; kurzsichtig begrüßte er den Sieg des Marschalls als »freudiges Ereignis. Ein Sieg für die deutschen Belange in Böhmen und innerhalb der Monarchie kann niemals ein Unglück sein, denn die Deutschen bringen den Besiegten Humanität und Freiheit.«110 In Frankfurt stimmte am 1. Juli ein parlamentarischer Ausschuss zu, dass der Prager Aufstand Teil eines groß angelegten Entwurfs zur Schaffung eines slawischen Reichs gewesen sei, und schlug vor, zur Unterstützung von Windischgrätz deutsche Truppen nach Böhmen zu schicken. Nur Engels war scharfsinnig genug zu erkennen, dass die Tschechen weder die Instrumente Russlands noch die Werkzeuge einer antideutschen Reaktion waren.
Die tschechische Revolution wird zusammengeschossen: Prag im Juni unter dem Feuer von Windischgrätz’ Artillerie. (akg-images)
IV
Auch in Ungarn fielen die sozialen Spannungen stark mit den ethnischen zusammen, doch da das Land nicht so industrialisiert war wie Böhmen und Mähren, gab es weitaus weniger ungarische Fabrikarbeiter als tschechische. Dementsprechend kam es in Ungarn auf dem Lande zu den bedeutsamsten ethnischen Konflikten, wo es zwischen den meist ungarischen Grundherren und den oft aus einer anderen ethnischen Gruppe stammenden Bauern Spannungen gab. Dennoch verliehen die ungarischen Arbeiter der urbanen Radikalenbewegung potenzielle Stärke. In Budapest waren von den 160 000 Einwohnern schätzungsweise 10 000 Tagelöhner, 8000 Lehrlinge und nur 1000 Fabrikarbeiter; diese waren jedoch überwiegend Deutsche oder Tschechen, was sie von der Mehrheit der Ungarn trennte. Von Mitte Juni bis Juli glichen ihre Forderungen denen des übrigen Europas: bessere Arbeitsbedingungen, die Reduzierung der Arbeitszeit, höhere Erzeugerpreise und die gesetzliche Verankerung von Gewerkschaften. In Budapest machten sich Arbeiter und in Nordungarn Bergleute für diese Änderungen stark, und die liberale Regierung sollte Zugeständnisse machen: Sie konnte dies in erster Linie deshalb tun, weil die Minister, alles ungarische Adlige, wenig mit den zumeist deutschen Arbeitgebern gemein hatten. Trotzdem wurden Streiks, die im April und Mai in Budapest zugunsten höherer Löhne und besserer Arbeitsbedingungen ausbrachen, als Bedrohung der öffentlichen Ordnung empfunden und mit Gewalt unterbunden.
Die Radikalen schafften es nicht, die Arbeiter zu mobilisieren, da sie wenig in Richtung eines sozialen Programms zu bieten hatten. Die ungarischen Radikalen ruhten sich auf den »Zwölf Punkten« aus, die im März verkündet worden waren und deren Ziele – mit Ausnahme der Bauernbefreiung – in erster Linie politischer Natur waren. Petöfi verfasste ein paar Zeilen, in denen er sein Mitgefühl für das Elend der Armen des Vaterlands ausdrückte, aber Gedichte (egal wie gut sie geschrieben waren) konnten nichts gegen materielle Not ausrichten. Allerdings hatten die Arbeiter auch noch nicht aus dem Brunnen der neuen sozialistischen Ideen getrunken. Als viertausend Lehrlinge zum Café Pilvax, dem Zentrum des Budapester Radikalismus, zogen, um Pál Vasvári, Petöfi und andere zu bitten, ihre Wortführer zu werden, forderten die jungen Handwerker anders als ihre französischen und tschechischen Kollegen nicht die Organisation der Arbeit, vielmehr wollten sie »die tyrannischen Zunftgesetze« niederreißen. So dramatisch diese Rhetorik klang, letztlich wurde hier nur die Forderung nach einer leichteren – und kostenlosen – Aufnahme in die Zünfte erhoben. Vasvári erkannte denn auch das revolutionäre Potenzial, das in den Handwerkern schlummerte, doch er bot nicht mehr als den Rat, doch der Regierung die Forderungen vorzutragen. Die soziale Kluft zwischen den Arbeitern und den Radikalen, deren Anführer größtenteils aus dem ungarischen Adel stammten, war einfach zu groß. So blieben Streiks in dem wichtigsten Organ der Radikalen, dem Fünfzehnten März, unerwähnt, und als am 22. April Plakate auftauchten, auf denen festgesetzte Lebensmittelpreise, die Aufteilung von Kirchenland unter den Bauern und die Abschaffung der Zünfte verlangt wurden, bekamen es die Radikalen mit der Angst zu tun und wiesen die gefährlichen Ideen bei einer Versammlung ab.111
Den Kern des ungarischen Radikalismus bildeten deshalb weiterhin Studenten, Intellektuelle, Akademiker, Regierungsbeamte und Angestellte, die die ungebrochene Vormachtstellung der Landbesitzer in der ungarischen Politik besorgte. Das aber war eine viel zu kleine Basis, um den Radikalen bei den Ende Juni und Mitte Juli abgehaltenen Wahlen einen durchschlagenden Erfolg zu bescheren. Die meisten wahlberechtigten Ungarn stimmten denn auch für die ihnen vertraute politische Elite des Landes: Etwa 72 Prozent des neuen Parlamentes waren adelige Grundbesitzer, was den Fünfzehnten März zu dem beleidigten Kommentar bewog, »das Volk« würde »den adeligen Herren« zu dienen wünschen. Die Übrigen stammten fast ausschließlich aus dem städtischen Bürgertum, waren vor allem Juristen und Regierungsbeamte. Dieses Ergebnis war sicherlich einer traditionellen Unterwürfigkeit geschuldet, doch das Wahlsystem bevorzugte den Adel, da die ländlichen Wahlausschüsse doch fast überall mit Großgrundbesitzern besetzt waren, während sie in den Städten hauptsächlich aus alteingesessenen Bürgern bestanden. Außerdem war das Programm der Radikalen außerhalb bürgerlicher Kreise wenig attraktiv. Zwar zeigte der ungarische Radikalismus mehr Interesse für die Bauern als für die Arbeiter, doch die meisten ärmeren Landbewohner waren nicht stimmberechtigt. Indessen sorgte die erklärte Gegnerschaft zur Monarchie dafür, dass viele Radikale, darunter auch Petöfi, von den meisten Ungarn an den Wahlurnen zurückgewiesen wurden, war doch in ihren Augen der König unantastbar. In einer unbeholfenen Kehrtwendung schrieb der Dichter nun Artikel, in denen er seinen einstigen Republikanismus abzuschwächen versuchte. Doch das nützte nichts: Er wurde nicht gewählt, und um diesen Affront noch zu überbieten, wurde er beinahe vom betrunkenen Pöbel gelyncht. Am Ende hielten von den 414 Mitgliedern des Abgeordnetenhauses gerade einmal 50 an den »Zwölf Punkten« fest.112
Somit mussten die Radikalen auf außerparlamentarische Druckmittel zurückgreifen. Mit einer ausgefeilten Organisation versuchten sie, ihr Vorgehen zu koordinieren und den harten Kern linker Abgeordneter an eine breitere Bewegung zu binden. Mitte Juni wurde eine »Gesellschaft für Gleichheit« gegründet, die eine Zeitschrift mit dem Titel Radikaler Demokrat herausgab. Nach dem Vorbild der französischen Jakobinerklubs aus den 1790er-Jahren strebte die Gesellschaft die Bildung eines landesweiten Netzwerks an, um die patriotischen und demokratischen Gruppierungen zu einer großen Lobby zu bündeln – vielleicht mit dem Hintergedanken einer zweiten Revolution. Mochten die Radikalen auch nicht viel in Richtung eines sozialen Programms vorzuweisen haben, im magyarischen Nationalismus, in der Hauptstadt noch immer akut, besaßen sie eine potenziell schlagkräftige Waffe. Misstrauen dem Wiener Hof gegenüber, dazu Batthyánys Bereitschaft, zugunsten der Stabilität mit diesem Kompromisse zu schließen, schürten die Ängste der patriotischen Ungarn. Eines der wichtigsten Themen war demnach die Frage, wer eigentlich die Oberhoheit über die Streitmächte innehatte. Im Mai hatte der Kommandeur der Budapester Garnison, Ignaz Freiherr von Lederer, sich geweigert, der Nationalgarde Waffen auszuhändigen, obwohl alles danach aussah, dass das Land von Kroaten angegriffen werde. Als eine Regierungskommission herausfand, dass 14 000 Gewehre zur Verfügung standen, marschierten unter Führung des radikalen Märzvereins 2000 Menschen unter Trommelschlägen vor die Residenz Lederers. Dort griffen kaiserliche Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten an, töteten einen Demonstranten und verletzten zwanzig schwer. Petöfi griff diesen Vorfall auf, um einen Amtswechsel im Ministerium, die Bestrafung der beteiligten Soldaten und den Rückzug aller ungarischen Einheiten aus dem kaiserlichen Heer in Italien zu fordern. Batthyány dagegen wollte in jedem Fall die Aprilgesetze auf eine solide Basis stellen und hatte nicht die Absicht, den Wiener Hof zu provozieren.
Die ungarischen Truppen im Dienst des Kaisers waren nun zum heißen Eisen geworden. Gemäßigte wie Batthyány und Széchenyi glaubten, den Interessen des Landes am besten zu dienen, wenn sie die ungarischen Beziehungen zu Österreich entspannten. Als am 11. Juli die österreichische Regierung ungarische Truppen anforderte, um Radetzkys italienischen Feldzug zu verstärken, riet daher Batthyány seinen Ministerkollegen, sie sollten freiwillig 40 000 der 200 000 Soldaten, aus denen die Armee Ungarns bestand, zur Verfügung stellen; dies würde den Einfluss der Ungarn in Wien stärken und den kroatischen Ban Jelačić zur Vorsicht mahnen. Selbst Kossuth stimmte diesem Vorhaben zu, obwohl es die Revision der früheren Position bedeutete, wonach sich die Ungarn geweigert hatten, die Unterdrückung eines anderen europäischen Volkes zu unterstützen.113 Diese Kehrtwende versetzte die radikale Linke in Wallung. Einer ihrer sprachgewandtesten Wortführer, Graf László Teleki, traf den wunden Punkt, als er (korrekt, wie sich zeigen sollte) ausführte, dass die Regierung ihr Vertrauen einem Hof schenke, der niemals einen kroatischen Ban zum Einlenken zwingen würde. Während die Italiener für die Freiheit kämpften, so erklärte Teleki freiheraus, mache Jelačić dies ganz gewiss nicht.114 Trotzdem gewann die Regierung die Schlussabstimmung am 22. Juli mit überwältigender Mehrheit. Auch wenn praktisch keine frischen ungarischen Truppen nach Italien geschickt wurden, zeigt der Sieg der Regierung einmal mehr, dass die europäischen Liberalen von 1848 ihre jeweiligen nationalen Interessen über die kosmopolitischen Ideale von Freiheit und Selbstbestimmung stellten.
In Siebenbürgen und entlang der Militärgrenze braute sich nun das Unwetter zusammen, das im September über Ungarn hereinbrechen sollte. Als die Ungarn das Blaj-Programm vom Tisch wischten und Siebenbürgen zu einem Teil des Königreichs Ungarn erklärten, kam es dort zu Spannungen. Die Siebenbürger standen nun vor einer schweren Wahl: Sie konnten auf eine Vereinigung mit Moldawien und der Walachei drängen, was aber einen Konflikt mit dem Sultan, dem obersten Herrscher der Fürstentümer, oder mit dem Zaren, ihrem »Beschützer«, nach sich gezogen hätte. Andererseits konnten sie loyal bleiben und sich im Gegenzug eine eigene rumänische Krone innerhalb des österreichischen Imperiums sichern. Diese Alternative war von den Brüdern Hurmuzaki in der Bukowina, einem Territorium, das an Ungarn grenzte und unmittelbar von Wien aus regiert wurde, zur Diskussion gestellt worden, fand im Augenblick jedoch keine Unterstützung.115 Im Sommer 1848 schien die Vereinigung mit den beiden Donaufürstentümern attraktiver und – für kurze Zeit – sogar realisierbar, da im Juni bei einem Aufstand in Bukarest der regierende walachische Fürst Gheorgiu Bibescu gestürzt und eine provisorische Regierung eingesetzt worden war. Am 7. August sinnierte einer der Führer der rumänischen Bewegung in Siebenbürgen, Dimitrie Golescu »der Schwarze«, über einer Landkarte aller rumänischen Gebiete, angefangen vom Schwarzen Meer bis hin zu den Rändern Siebenbürgens: »Man muss wissen, dass sie ein schönes kleines Königreich ergeben würden, hübsch rund, von der Natur höchstpersönlich geschaffen … Ich weiß nicht, warum dieser Gedanke, letztes Jahr noch utopisch, heute nun greifbar ist.«116 Der Grund war die Revolution, die Wochen zuvor in Bukarest stattgefunden hatte. Dort strebten die rumänischen Liberalen, allesamt aus adeligen Familien (Bojaren) stammend und viele von ihnen in Paris erzogen, nach Freiheit und nationaler Einheit und weg von der russischen Vorherrschaft. Die Radikaleren unter ihnen übten zudem Gesellschaftskritik. Man fand, dass die Bojaren die Bauern, die meisten unfrei, ausbeuteten, um ein Leben in »Wollust, Laster und Egoismus« zu führen (wie Golescus Cousin Alexandru es ausdrückte).117 Kritiker wie Constantin Rosetti und Ion Brătianu hatten deshalb 1843 in Bukarest eine Organisation mit dem Namen Frăţa (Brüderlichkeit) ins Leben gerufen, um die Aktivitäten liberaler Intellektueller und revolutionär gesinnter Verschwörer innerhalb der Armee zu bündeln. Sie waren zur Revolution bereit, wann immer sie kommen mochte. Strenge Geheimhaltung – aber auch die Verfolgung durch die Behörden – verhinderte ihr Gedeihen, auch wenn ihre Anhänger sich 1848 in der liberalen Führungsriege hervortaten. Mittlerweile hatten die Bojaren selbst Anlass zur Klage, dies galt insbesondere für Moldawien, wo sie über die diktatorische Art des regierenden Fürsten Mihail Sturdza aufgebracht waren, während Händler und Fabrikanten unter der Steuerlast ächzten. In der Walachei indessen versuchten die Bojaren, angetrieben von der plötzlichen Erkenntnis, dass die Landbevölkerung unruhig zu werden begann, Fürst Bibescu von der Notwendigkeit sozialer und politischer Reformen zu überzeugen, darunter die Abschaffung der Leibeigenschaft. Während der »hungrigen Vierziger« waren die Bauern ihren Verpflichtungen gegenüber den Grundherren nur schleppend nachgekommen, 1848 nun weigerten sie sich, ihren Fronarbeiten nachzukommen. Immer öfter brachen auf dem Land Revolten aus, und mehr und mehr Leibeigene flohen über die Grenzen in die Freiheit.118
In der moldawischen Hauptstadt Jaşi richtete die liberale Opposition unter Alexandru Cuza im März 1848 eine Petition an Sturdza, in der sie maßvolle Reformen verlangte, um die Wirtschaft anzukurbeln, dazu ein Parlament mit größeren Befugnissen als die bisherige Generalversammlung – die Abschaffung der Leibeigenschaft gehörte nicht zu ihren Forderungen. Als Sturdza nicht alle Punkte akzeptierte, stellten die Liberalen ihn in seinem Palast. Gestärkt durch die Zusicherung des russischen Konsuls, militärische Unterstützung zu gewähren – und zutiefst verärgert über das arrogante Auftreten eines der Gesandten, der dem Fürsten mit Blick auf seine Taschenuhr bedeutete, dass er zur Entscheidung eine halbe Stunde Zeit habe – verließ Sturdza den Palast, bot die Armee auf und zerschlug die Opposition. Mehrere wurden getötet und über zweihundert verhaftet. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, wurde die Führung der Liberalen durch die Straßen gezerrt und »wie Hunde geschlagen«. Anschließend verschleppte man sie in die Grenzstadt Galaţi und wies sie in die Türkei aus.119
Während Moldawien unter dem eisernen Regiment Sturdzas ächzte, gewann die Revolution in der Walachei an Dynamik. Im März gründeten die Liberalen mit Rosetti, Golescu und Ion Ghica, ein Revolutionskomitee, um einen Aufstand zu planen. Hier gab es keine freundliche Petition, weil sich die Opposition – anders als in Moldawien – auf eine wichtige Mittelschicht der Bojaren und ein beträchtliches im Handel tätiges Bürgertum verlassen konnte, die über die sozial Höherstehenden aufgebracht und von der Politik der Regierung enttäuscht waren. Während die Hitzköpfe sofort den Aufstand wollten, setzten sich die ruhigeren Gemüter durch. Fürst Bibescu wurde in seinem entschlossenen Widerstand der Revolution gegenüber durch eine nur leicht verschleierte Warnung seitens der russischen Regierung bestärkt, wonach »es ebenso im Interesse der Walachei wie von uns selbst« lag, den Ausbruch »der Seuche, die Europa jetzt befällt«, zu verhindern.120 Die Russen entsandten General Duhamel als Ratgeber für Bibescu, das Angebot von 20 000 Soldaten jedoch wies der Fürst, eine ständige russische Militärpräsenz fürchtend, zurück. Anfang Juni war das Revolutionskomitee so weit: Merkwürdige »Hochzeitseinladungen« gingen an liberal gesinnte Bojaren, die diese über eine »Feier« in Islaz informierten, einer Grenzstadt an der Donau in der Provinz Oltenien. Dort zelebrierten orthodoxe Priester in prächtigen Roben eine Messe und verlasen anschließend vor walachischen Armeeeinheiten und einer aufgebrachten Menge aus Stadtvolk und Bauern eine Proklamation. Sie »schneiderten«, so einer der Priester, »die Roben der Freiheit«.
Das »Programm von Islaz« wies die klassischen Forderungen des europäischen Liberalismus auf: Aufhebung der Zensur, Bürgerrechte, gerechte Besteuerung, Ausweitung des Wahlrechts und die Wahl eines regierenden Fürsten im Fünfjahresrhythmus, unentgeltliche Erziehung für Jungen und Mädchen, die Abschaffung der Leibeigenschaft (wobei geplant war, das Land unter den befreiten Bauern aufzuteilen und den Grundherren eine Entschädigung zu bieten), Freiheit für alle Zigeuner (die unfrei waren), die Emanzipation der Juden und die Abschaffung des Adels. Eine verfassunggebende Versammlung sollte zusammentreten, um einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten. Man stellte eine provisorische walachische Regierung auf. Im Islaz-Programm wurde zwar nicht die rumänische Unabhängigkeit gefordert, aber doch das Ende des russischen »Schutzes« und eine Autonomie mit Verbindungen zum Sultan. Den ganzen Sommer über setzten sich die rumänischen Revolutionäre für den Segen aus Konstantinopel ein. Sie waren klug genug einzusehen, dass ihr im Entstehen begriffener Staat, eingekeilt zwischen den Großmächten Österreich, Russland und der Türkei, der Unterstützung mindestens einer dieser Großmächte bedurfte, wollte er überleben.
Die Nachricht vom Aufstand in Oltenien war der Impuls, der den Bukarester Revolutionären den letzten Schub versetzen sollte. Ursprünglich war eine Erhebung für den 10. Juni geplant gewesen, doch Fürst Bibescu war dem zuvorgekommen und hatte vorsorglich Mitglieder des revolutionären Komitees verhaftet. Nun gab es allen Anlass, an der Loyalität der Armee zu zweifeln: Viele Offiziere hatten liberale Ideen adaptiert, und es kursierten Gerüchte, dass die Revolutionstruppen aus Oltenien bereits in Richtung Hauptstadt unterwegs waren. Am 11. Juni läuteten alle Kirchenglocken, die Stadtbewohner strömten auf die Straßen und dem Palast zu, manche schwenkten das Islaz-Programm. Wie erwartet hielt sich das Heer zurück, während die liberalen Wortführer, die der Haft entflohen waren, die Erlaubnis bekamen, den Palast zu betreten und Bibescu eine neue »Verfassung« unter die Nase zu halten. Machtlos unterschrieb der Fürst das Dokument und ernannte widerwillig die neue Regierung. Als er nach dem neuen Polizeiminister fragte, erklärte ihm Brătianu unumwunden, dass es Rosetti sein solle, »der, der im Gefängnis sitzt«. Zwei Tage später dankte ein wütender Bibescu ab und floh zusammen mit anderen Bojaren nach Braşov, unmittelbar hinter der Grenze zu Siebenbürgen gelegen. Am 15. Juni stimmte eine riesige Versammlung auf dem »Feld der Freiheit« außerhalb von Bukarest der neuen Verfassung zu. Wahlen für eine Volksvertretung, die am 6. September zusammentreten sollte, fanden statt. Die neue Regierung versprach, innerhalb von drei Monaten die Leibeigenschaft aufzuheben, vorausgesetzt die Bauern stellten die Ernte auf den Feldern der Grundherren sicher. Das Ergebnis war ein ländliches Chaos, da die Bauern sich weigerten, weiterhin Frondienst zu leisten. Leider wurde die rumänische Revolution niedergeschlagen, bevor die Aufhebung der Leibeigenschaft in Kraft treten konnte.121
Sowohl Zar Nikolaus als auch der osmanische Sultan Abdülmecid sahen diese Entwicklung mit Sorge. Ersterer spielte im Grunde ein doppeltes Spiel: Während er einerseits der Revolution feindselig gesonnen war, entschlossen, den Liberalismus in Grund und Boden zu schießen, erkannte er dennoch die Gelegenheit, die russische Präsenz in den Fürstentümern zu verstärken. Schon lange hatten die Russen Ambitionen, sich den Bosporus einzuverleiben, was den geschützten Zugang in das östliche Mittelmeer gesichert hätte. Dafür aber musste die russische Vormachtstellung nach Süden auf die Schwarzmeer-Region ausgedehnt werden, wobei der antirussische Tenor der rumänischen Revolution diesen strategischen Interessen bereits den Kampf angesagt hatte. Selbst ins siebenbürgische Exil schickten die Russen Bibescu den listigen Entwurf einer neuen Verfassung für Moldawien und die Walachei, unter der Bedingung, dass der Sohn des Zaren zum König ausgerufen werden würde, was den türkischen Einfluss wirksam ausgeschaltet hätte. Außerdem machte man Bibescu recht deutlich klar, dass die Russen dieses Angebot, sollte er es ausschlagen, mit »100 000 Bajonetten« durchsetzen würden.122 Konfrontiert mit der Möglichkeit einer russischen Invasion, suchten die rumänischen Revolutionäre nun ihr Heil in der Diplomatie: Die provisorische Regierung schickte Agenten durch Europa, um die Anerkennung der Großmächte zu erwirken. Ion Ghica reiste, bewaffnet mit dem rumänischen Versprechen, als Gegenleistung für die türkische Unterstützung alle Verpflichtungen gegenüber dem Sultan zu akzeptieren, nach Konstantinopel. Doch 1848 konnten die übrigen europäischen Regierungen der russischen Militärmacht nicht viel entgegensetzen.
Am 7. Juli marschierten deshalb russische Truppen in Moldawien ein. Die walachische Regierung indessen war angesichts der Invasion im benachbarten Fürstentum so alarmiert, dass sie in die Berge floh und dadurch die Macht in Bukarest wieder in die Hände der Konterrevolutionäre fallen ließ. Einzig Brătianus energischen Bemühungen, die Bevölkerung zum Aufstand zu bewegen, war es zu verdanken, dass sie sich nicht länger als ein paar Tage halten konnten. In diesem Stadium war die Strategie des Zaren darauf ausgerichtet, die osmanische Regierung zu drängen, die Annäherungen rumänischer Revolutionäre abzuweisen. Im Augenblick ließen die Russen die Walachei in Ruhe, weshalb die Übergangsregierung nach Bukarest zurückkehrte – beschämt, aber noch immer intakt. Die Türken ihrerseits reagierten Ende des Monats auf den russischen Eröffnungszug mit der Entsendung ihrer eigenen Streitkräfte über die Donau, während Suleiman Pascha, der Gesandte des Sultans, nach Bukarest reiste, um mit den Rumänen die Bedingungen ihrer Autonomie auszuhandeln. Ergebnis war die Schaffung einer kurzlebigen »fürstlichen Statthalterschaft« mit einem liberalen Kabinett, die theoretisch dem Sultan gegenüber zur Loyalität verpflichtet war. Dank dieses Abkommens wurde Suleiman, der an der Spitze von zweihundert türkischen Kavalleristen ritt, in Bukarest von einer jubelnden Menge, die rumänische und türkische Flaggen schwenkte, ein triumphaler Einzug bereitet.123
Doch just als die Liberalen gerettet schienen, beugte sich Abdülmecid dem Druck der russischen Diplomatie und den Einflüsterungen der konservativen Bojaren, die doch noch den Weg nach Konstantinopel gefunden hatten. Anfang September distanzierte er sich von Suleiman und ersetzte ihn durch den konservativen Leuteschinder Fuad Pascha, der mit weiteren türkischen Truppen in die Walachei reiste. Dieses Mal aber sollten sie dort nicht nur schützend eingreifen: Am 13. September schlugen sich osmanische Einheiten ihren Weg nach Bukarest hinein frei, das mit allen Soldaten, die die provisorische Regierung aufbieten konnte, darunter auch die Feuerwehr, standhaft verteidigt wurde. Nach heftigen Kämpfen kapitulierte die Übergangsregierung, und die Türken setzten einen konservativen Bojaren als neuen regierenden Fürsten ein. Wenige Tage später gaben auch die verbliebenen revolutionären Streitkräfte in Oltenien angesichts der Übermacht auf. Der Zar allerdings zweifelte an den Fähigkeiten des Sultans, die Revolution wirksam in Schach zu halten; aus diesem Grund schwärmten am 15. September russische Truppen in die Walachei, fegten die osmanische Armee hinweg und marschierten in Bukarest ein. Dort wurde die Regierung einer gründlichen Säuberung unterzogen und die Grenze zu Siebenbürgen – wo die Revolution noch immer virulent war – durch russische Truppen abgeriegelt.124
Damit war in dem Moment, als Dimitrie Golescu über den erfreulichen Anblick eines geeinten Rumänien nachsann, dessen Schicksal schon besiegelt, zumindest was das Jahr 1848 betraf. Dennoch hatte die Revolution die Einheit in Reichweite gebracht und dadurch jenseits der Karpaten – in Siebenbürgen – gewisse Fakten geschaffen. Anfang Juni erwog die österreichische Regierung, ob nicht nur die Südslawen, sondern auch die Rumänen gegen den ungarischen Nationalismus mobilisiert werden könnten. Kriegsminister Latour warf die Frage einer Allianz mit den Rumänen auf, was dem Kaiserreich womöglich die Ausdehnung seines Einflusses bis ans Schwarze Meer erlaubt und zugleich ein Gegengewicht zur ungarischen Macht in Mitteleuropa geschaffen hätte. Im Augenblick befanden seine Amtskollegen die Regierung als zu schwach für ein solches Abenteuer, was die Zurückweisung der Forderungen der siebenbürgischen Rumänen einen Monat später erklärt. Da die Revolution in den Fürstentümern vor dem Aus stand, blieb den siebenbürgischen Rumänen nun nur noch die Hoffnung auf eine Allianz mit der Habsburgerdynastie gegen die Magyaren. Sollten die Ungarn nicht mit sich selbst ins Reine kommen (was in diesem Stadium noch eine winzige Möglichkeit war), würden die Rumänen für ihre Treue zu Österreich vielleicht mit der Autonomie innerhalb des Kaiserreichs belohnt werden. Im September war es schließlich so weit: Die Rumänen erhielten militärischen Rückhalt gegen die Ungarn.
Die Ungarn sahen sich nicht nur in Siebenbürgen bedroht, sondern auch entlang der Militärgrenze, wo die Südslawen ihre Truppen zusammenzogen. Der zielstrebige Jelačić war zwar am 10. Juni als Ban der Region offiziell entlassen, schenkte dem aber keine Beachtung. Er wollte es allen zeigen. Erst fünf Tage zuvor hatte er, prächtig gekleidet in einen roten Überwurf und mit einem Krummsäbel angetan, auf der Eröffnungssitzung des kroatischen Parlaments, dem Sabor, erklärt: »Lassen Sie die Ungarn, für den unglücklichen Fall, dass sie sich fortan nicht als Brüder benehmen …, sondern als Unterdrücker, wissen, dass wir mit dem Schwert in der Hand bereitstehen!«125 Inzwischen bekam er von den Kriegstreibern in der österreichischen Regierung Rückendeckung. Am 24. Juni schickte Latour Jelačić Geld, was ihm Kossuth als ungarischer Finanzminister rundweg abgeschlagen hatte: »Ich […] verdiente, von der Nation angespuckt zu werden, wenn ich ihrem Feinde Geld gegeben hätte.«126 Baron Franz Kulmer, der Repräsentant des Sabor am Wiener Hof, schrieb heimlich an Jelačić und versicherte ihm, dass »jeder hier auf Eurer Seite steht. Der Erlass vom 10. Juni ist null und nichtig, denn er wurde von keinem der Minister gegengezeichnet.«127
Das erste Opfer von Jelačićs Entschlossenheit, die habsburgischen Interessen zu bedienen, war der kroatische Liberalismus: Am 9. Juli wurde der Sabor suspendiert. Ende des Monats bemühte sich Erzherzog Johann, den Ausbruch des Krieges zwischen den Ungarn und Kroaten mittels Schlichtung zu verhindern. Die ungarische Regierung war klug genug, die kroatischen Grenzbewohner von Jelačić abzuwerben, indem sie ihnen eine Landreform versprach, worauf dieser sie allerdings mit eigenen Reformen, etwa dem Recht, die Zadruga aufzulösen und das Land zu parzellieren, übertrumpfte. Darüber hinaus stockte er die Streitkräfte mit weiteren Soldaten auf, indem er Truppen aus dem zu Ungarn gehörigen Teil Kroatiens und von der osmanischen Grenze abzog. Die ungarischen Bemühungen um einen Kompromiss waren nicht ganz uneigennützig , hatten doch im Frühjahr Batthyánys Minister insgeheim beschlossen, Jelačić keinen Vorwand zum Bruch mit Ungarn zu liefern. Ende August war selbst Kossuth bereit, Kroatien die Abspaltung zu erlauben, vorausgesetzt (und das war der springende Punkt) Jelačić und die Kroaten würden »sich tatsächlich im Geist der Nation und nicht der Reaktion verhalten […] Wenn sie sich abspalten wollen, so sollen sie, von mir aus sollen sie frei und glücklich sein, aber nicht einer ausländischen reaktionären Macht zuliebe zwei Länder in Blutvergießen und Elend stürzen.«128
Held der habsburgischen Gegenrevolution: Ban Josip Jelačić. (akg-images)
Allerdings war Jelačić ebendeshalb berufen worden, weil er ein loyales Werkzeug der Habsburger war. Auf ihrem fruchtlosen Treffen in Wien sagte er angeblich zu Batthyány: »Sie wollen Ungarn frei und unabhängig, und ich habe mich verpflichtet, die politische Einheit des österreichischen Reiches zu wahren. Sind Sie damit nicht einverstanden, kann nur das Schwert zwischen uns entscheiden.«129 Inzwischen zog er seine Truppen zusammen. Nach seinem Sieg über die Piemonteser bei Custoza entließ Radetzky einige der kroatischen Einheiten in Italien, damit sie für Jelačić Dienst taten. Auf diese Weise hatte dieser bis Ende September 50 000 Mann unter Waffen. In Wien erteilte Latour den Befehl für zusätzliche Nachschublieferungen an österreichische Militärdepots in der Steiermark. Die Serben hatten in der Zwischenzeit Jelačić mehrfach gebeten, ihnen gegen die Ungarn zu Hilfe zu kommen, sodass sich der Druck auf ihn erhöhte, in die Offensive zu gehen. Vom Kaiser hatte er keinen Befehl dazu erhalten: Der Hof bemühte sich weiterhin offiziell, den Krieg zwischen den Kroaten und Ungarn zu verhindern. Grund dafür war womöglich, dass die kaiserlichen Berater zwar wünschten, Jelačić möge die Revolution in Ungarn zerschlagen, man aber gleichzeitig Bedenken hatte, dass er im Falle des Erfolgs zu mächtig würde. Kroatische Historiker haben das auch so interpretiert, dass die Habsburger hofften, beide Seiten würden sich gegenseitig zermürben, was es dem Hof später erleichtert hätte, die Macht zurückzugewinnen.130 Am Ende benötigte Jelačić kein Signal: Während Batthyány und Ferenc Deák (der ungarische Justizminister) sich noch in Wien aufhielten und versuchten, einen endgültigen Bruch mit Österreich zu verhindern, gab die kaiserliche Regierung offiziell bekannt, dass »der Bestand eines von dem österreichischen Kaisertum getrennten Königreichs Ungarn eine politische Unmöglichkeit« darstelle.131 Am 4. September setzte dann Ferdinand Jelačić offiziell in seine früheren Machtbefugnisse ein, was dieser als Zusage der Unterstützung ansah. Am 11. September überquerte die Armee des Ban die Draua: Ungarn und Kroatien befanden sich im Krieg.
Während Jelačić und die Wiener Regierung ihre komplizierten Manöver vollzogen, arbeitete die Regierung in Budapest fieberhaft daran, die ungarische Armee instand zu setzen. Den unmittelbaren Ansporn dazu gab der serbische Aufstand in der Woiwodina, auf den Batthyány am 16. Mai mit der Bildung »regulärer« oder »mobiler« Einheiten der Nationalgarde reagierte, rekrutiert aus Freiwilligen, die drei Jahre dienen mussten. Der Vorteil dieser neuen Streitmacht war, dass sie, anders als die Regimenter des kaiserlich-königlichen Heeres, die weiterhin Befehle aus Wien erhielten, eindeutig dem Befehl der ungarischen Regierung unterstanden. Die neuen Bataillone der Nationalgarde setzten sich aus Männern zwischen achtzehn und vierzig Jahren zusammen, deren Besitzstand keine Rolle spielte. Daher waren die Bataillone keine Bürgermiliz mit der Aufgabe, Eigentum zu schützen, sondern eine richtige Bürgerarmee, die daraufhin vereidigt wurde, »das Heimatland, den königlichen Thron und die Verfassung« zu verteidigen. Ihre offizielle Bezeichnung wurde schon bald durch den gängigen Begriff Honvéd ersetzt, was so viel bedeutete wie »Verteidiger des Heimatlandes«. Als Ministerpräsident war Batthyány Oberbefehlshaber der neuen Streitmacht, was ihm das Umgehen der kaiserlichen Befehlskette erlaubte. Bis Mitte August hatte die Regierung fast 10 000 Mann für die Honvéd-Bataillone rekrutiert.132 Dennoch befiel viele Ungarn in jenem Sommer eine düstere Vorahnung. Petöfi sorgte sich, dass die Regierung nicht stark genug sein würde, und schrieb die düsteren Zeilen:
Lasst uns unsere Fahnen malen schwarz und rot
Denn Trauer und Blut
Werden der ungarischen Nation Schicksal sein.133
Am anderen Ende des politischen Spektrums hatte Széchenyi eine apokalyptische Zukunftsvision. Während er am 18. Juli den Arbeiten an seiner geliebten Kettenbrücke zusah, löste sich ein schweres Stahlseil und schlug auf der provisorischen Pontonbrücke auf. Niemand wurde getötet, aber Széchenyi und viele unter den Hunderten von Zuschauern wurden in die Donau geschleudert. Der Graf (der bereits mit Depressionen kämpfte) schwamm ans Ufer, wo er in dunkle Verzweiflung verfiel: »Wir sind verloren, in die Barbarei zurückgesunken … Wir werden nicht von Kossuth und seinen Genossen zerstört …, sondern von einer größeren Macht, von der Nemesis.«134
Die Nemesis der ungarischen Liberalen sollte ihr Haupt erheben. Eine Woche nach dem Unglück an der Kettenbrücke triumphierte die Reaktion aufs Neue, dieses Mal in Italien. Im Juni hatte Feldmarschall Radetzky endlich die österreichische Regierung davon überzeugt, dass der Krieg zu gewinnen war. Das Kabinett hatte scharfe Bemerkungen des alten Fuchses aus jüngster Zeit verdauen müssen, etwa in einem Brief an Latour vom 21. Juni: »Ich wünschte nur …, dass der Minister [Pillersdorf] so erfolgreiche Schlachten gegen die Intelligenz unserer Zeit schlagen könnte …, wie ich jetzt, obwohl wir in den Schlachten und Scharmützeln mit dem König von Sardinien in der Unterzahl sind.« Sechs Tage später erteilte Latour Radetzky den Befehl, den dieser haben wollte: den Befehl, die österreichische Vormachtstellung in Italien in einer entscheidenden Schlacht wiederherzustellen.135 Die Zeichen waren günstig: Karl Albert hatte seine Truppen aufgeteilt, 28 000 Mann standen vor Verona, 42 000 belagerten Mantua. Radetzky befehligte jetzt über 74 000 Soldaten und hatte vor, einen Keil zwischen die Piemonteser zu treiben, indem er die Streitmacht vor Verona nach Peschiera zurücktrieb. Der Angriff begann am 22. Juli, und schon am folgenden Tag schlug sich Radetzky direkt durch das Zentrum der piemontesischen Front den Weg frei. Die Piemonteser hatte eine Reihe von hochgelegenen Dörfern nördlich der Ansiedlung verteidigt, die diesem monumentalen Gefecht den Namen verlieh: Custoza. In der brütenden Hitze des 24. Juli versuchte Karl Albert einen Gegenangriff – und sah irgendwann, wie auf den Anhöhen siegreich die italienische Trikolore geschwenkt wurde –, in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages aber warf Radetzky die ganze Macht seiner Truppen gegen die erschöpften italienischen Einheiten und fegte sie von den Hängen herab.136
Karl Alberts Streitkräfte zogen sich nach Mailand zurück, das sich als bloße Durchgangsstation auf dem Rückzug der Piemonteser aus dem Krieg erweisen sollte. In der lombardischen Hauptstadt glitt jetzt den verrufenen Monarchisten die Macht aus den Händen und fiel stattdessen den Republikanern zu, die sich auf Rat Mazzinis zum Widerstand gegen die Österreicher rüsteten, indem sie Erdwälle aufschütteten, Barrikaden bauten und alles an Geld, Munition und Proviant einsammelten, was nach einer solch kurzen Vorankündigung nur möglich war. Nahrungsmittel und Munition waren rar, und der größte Teil der verfügbaren Artillerie stand in Piacenza. Während Karl Albert noch am 5. August den Einwohnern versicherte, er wolle kämpfen, handelte er mit Radetzky bereits die Vertragsbedingungen aus. Man kam überein, dass die Piemonteser am 6. August aus Mailand abziehen und dann einen Tag Zeit haben sollten, sich ganz aus der Lombardei zu entfernen, wobei sie all jene mitnehmen durften, die sich in der Revolution »kompromittiert« hätten. Am nächsten Tag wollte Radetzky die Stadt einnehmen. Als in der Nacht vom 5. zum 6. August etwas von diesem Handel durchsickerte, sammelte sich eine zornige Menschenmenge rund um den Palazzo Greppi, wo sich Karl Albert aufhielt. Mittels seiner Soldaten, die eigentlich schon mit dem Abmarsch begonnen hatten, konnte der König befreit werden.137 »Mailand ist unser«, schrieb ein triumphierender Radetzky vierundzwanzig Stunden später: »Auf lombardischem Boden bleiben keine Feinde zurück«.138 Am 9. August unterzeichnete der piemontesische General Salasco den Waffenstillstand.
Feldmarschall Johann Joseph Graf Radetzky im Jahr 1850. (akg-images)
Radetzkys Mut – immerhin hatte er sich stur geweigert, dem Befehl der Regierung zu folgen und Verhandlungen zu führen – sowie seine militärischen Fähigkeiten hatten Österreich die Macht in Italien zurückgegeben. Weil er den Druck auf Wien deutlich verringerte, trug er so zum Überdauern des Habsburgerreiches im Jahr 1848 bei. Für die Italiener bedeutete Custoza nicht nur ein militärisches Debakel, sondern eine politische Zeitbombe: Der Glaube, dass Karl Albert und die monarchistische Führungsriege Italien befreien könnten, war erschüttert. Die Republikaner spürten, dass ihre Zeit gekommen war. Weithin waren Rufe nach einer costituente zu hören, einer gewählten verfassunggebenden Versammlung für ganz Italien, die über den Kopf der regierenden Monarchen hinweg einen vereinten Staat schaffen sollte. Carlo Cattaneo, der den piemontesischen Motiven immer skeptisch gegenübergestanden hatte, erklärte: »Jetzt sind wir unsere eigenen Herren«,139 floh aber dennoch am 8. August aus Mailand in die Sicherheit von Paris, wo er am 16. eintraf. Dort verfasste und veröffentlichte er L’Insurrection de Milan en 1848, ein Werk, das darauf abzielte, den Bemühungen von Karl Alberts Agenten entgegenzuwirken, die versuchten, den Republikanern die Schuld für das Desaster im Sommer in die Schuhe zu schieben. Das Buch wurde ein Bestseller.140
Mazzini hatte sich mittlerweile eine Muskete gegriffen und Mailand am 3. August verlassen, um sich Garibaldis Freiwilligen anzuschließen, die sich, nachdem sie von den Piemontesern übel abgewiesen worden waren, bei den Lombarden in Dienst begeben hatten. Noch trugen sie nicht ihre berühmten roten Hemden, sondern weiße Drillichjacken, die die Österreicher bei ihrem Rückzug zurückgelassen hatten: Ein Zeitzeuge fand, dass sie »wie ein Regiment von Köchen« aussahen.141 Auf die Nachrichten von Custoza hin zog sich Garibaldi nach Mailand zurück, um die Stadt zu verteidigen. Während er noch unterwegs war, erfuhr er vom Waffenstillstand. »Waffenstillstand, Kapitulation, Flucht – die Nachrichten ereilten uns wie aufeinanderfolgende Blitze und verbreiteten unter den Leuten und den Soldaten Angst und Mutlosigkeit.«142 So mancher desertierte, doch der Rest marschierte nordwärts nach Como, da Garibaldi hoffte, von dort zwischen Seen und Bergen einen Partisanenkrieg führen zu können. Mazzini, der mit seinen Anhängern unter dem Banner »Für Gott und das Volk« marschierte, trennte sich bei Como von Garibaldi und betrat Schweizer Boden, von wo aus er den Widerstand zu steuern hoffte. Mit Cattaneos Zustimmung schuf er in Lugano ein italienisches Nationalkomitee, das verkündete: »Der Krieg des Königs ist zu Ende; der Krieg des Volkes beginnt«.143
Es war eine Ironie des Schicksals, dass Mazzini sich ausgerechnet mit dem Mann entzweite, der den Kampf fortsetzte – Garibaldi. »Ich hatte den Fehler gemacht, und das verzieh mir Mazzini nie«, erklärte Garibaldi später, »ihn darauf hinzuweisen, dass es falsch war, die Unterstützung junger Männer zu gewinnen und daran festzuhalten, indem man ihnen zu einer Zeit, in der die Armee und die Freiwilligen in Kämpfen mit den Österreichern verwickelt waren, die Aussicht auf eine Republik vor Augen hielt.«144 Als die italienische Einheit 1860 endlich erreicht war, war dies zu einem nicht geringen Teil Garibaldis Bereitschaft zu verdanken, seine republikanischen Prinzipien der Sache der Einheit unterzuordnen. Doch die beiden Männer, die die italienische Vereinigung verkörpern sollten, waren auch in Fragen der Taktik zerstritten. Garibaldi, der trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten noch immer Befehle von Mazzini entgegennahm, rückte zum idyllischen Lago Maggiore aus, wo er und seine Männer über zwei Dampfer verfügten. Unter den Jubelrufen von Frauen und Kindern, die auf den Balkonen ihrer Seevillen Trikoloren schwenkten – nahmen sie Luino ein und schlugen dort einen österreichischen Angriff zurück.145 Mazzini hatte gehofft, mit einer kleinen Demonstration des Widerstands einen breiter angelegten Aufstand in den Bergen der Lombardei zu entfachen, doch Garibaldi mit seiner Erfahrung aus den Partisaneneinsätzen in Südamerika schätzte die Situation an der Basis anders ein: »Zum ersten Mal«, schrieb er desillusioniert, »sah ich, wie wenig die Sache der Nation die hiesigen Landbewohner interessierte.« Durch Desertionen geschwächt, bahnte sich sein kleiner Haufen bei einem Nachtmarsch über schwierige Gebirgspfade einen Weg in die Schweiz. Als er die Grenze überschritt, waren ihm von den achthundert Männern, die Luino eingenommen hatten, nur dreißig geblieben.146
Anderswo in Italien erging es den Republikanern deutlich besser. Die gemäßigten, freiheitlichen Regierungen, die sich auf die Seite der Monarchie geschlagen hatten, standen nun unter erheblichem Druck. Das Ministerium in Piemont, dessen Mitglieder seit seiner Bestallung Anfang Juli quer durch das angebliche norditalienische Königreich ausgewählt worden waren und das unter Leitung des früheren Bürgermeisters von Mailand, Casati, stand, stimmte in den öffentlichen Aufschrei gegen den Waffenstillstand ein. Zwischen Piemonts erstem Verlust bei Custoza und der endgültigen Niederlage bei Novara im Jahr 1849 gab es nicht weniger als sechs Regierungen. Kritiker der aufeinanderfolgenden Kabinette, die verlangten, dass der Krieg wieder aufgenommen werden solle, wurden von dem Gezeter der rund 25 000 lombardischen Flüchtlinge unterstützt. Bis zum Herbst war die Kriegsbegeisterung geradezu überwältigend, und die Demokraten drohten mit einer neuen Revolution, insbesondere im unruhigen Hafen von Genua. Um dem Druck ein Ventil zu verschaffen, verstärkte die Regierung die Armee mit frisch rekrutierten 50 000 Mann.
Venedig war nun inmitten eines österreichischen Meeres restlos isoliert. Die Nachrichten von Custoza und dem Waffenstillstand »erreichten Venedig wie ein Blitz aus heiterem Himmel«, so der amerikanische Konsul Edmund Flagg.147 Der venezianische Wunsch nach einer »Fusion« hatte sich nun erledigt, und Daniele Manin ging mit neuem Vertrauensvorschuss aus der Krise hervor. Der kleine, bebrillte Republikaner hatte sich geweigert, Teil der provisorischen monarchistischen Regierung zu werden, die am 5. Juli bestellt worden war: »Ich bin und bleibe ein Republikaner. In einem monarchistischen Staat kann ich nichts sein.«148 Um dies zu demonstrieren, zog sich Manin seine Zivilgarde-Uniform an und übernahm im Rang eines Gefreiten seinen Dienst als Wachposten – ein einfacher Bürger, der sein Bestes für die Stadt tat. Die monarchistische »Juliregierung« setzte nun ihre Arbeit aus, da die Österreicher unter dem Kommando von Feldmarschall Franz Ludwig von Welden die Stadt von der Terra ferma isoliert hatten. Seine rund 9000 Soldaten wurden jetzt um die Lagune herum zu einem Sperrgürtel auseinandergezogen. Allerdings litten viele Soldaten an Malaria, und die Möglichkeit gegen eine Stadt loszuschlagen, die von nicht weniger als vierundfünfzig Kastellen bewacht wurde, davon nur drei auf der Terra ferma, gab es nicht. Das Kommando der 22 000 Mann starken venezianischen Streitkräfte (von denen 12 000 italienische Freiwillige und reguläre Soldaten aus ganz Italien waren) war am 15. Juli General Pepe übergeben worden, der Venedig zusammen mit den Resten seines neapolitanischen Regiments auf einem Dampfer aus Chioggia erreicht hatte.149
Die antimonarchistische Haltung der Einwohner war überaus deutlich: Während die Provinzen des Festlandes für einen Zusammenschluss gestimmt hatten, hatte die große Stadt dies abgelehnt. Angesichts der Nachrichten aus Custoza kochte in Venedig die Wut über. Am 3. August versammelten sich an die 150 Leute, teils durch Mazzinis Ideen aufgestachelt, im Casino dei Cento und gründeten den Italienischen Klub – angeblich um die Alltagsgeschäfte zu beraten, in Wahrheit aber als alternatives republikanisches Zentrum. Als vier Tage später die Piemonteser Bevollmächtigten nach Venedig entsandt wurden, um in Karl Alberts Namen die Macht zu übernehmen, wurden sie feindselig begrüßt. Am 10. August unterzeichneten die führenden Republikaner, unter ihnen Manin und Tommaseo, ein Protestschreiben und verlangten eine Zusammenkunft in der venezianischen Versammlung. Die Regierung machte sich außerordentlich unbeliebt, als sie taktlos die alten österreichischen Gesetze zitierte, um ihre Kritiker in Presse und Italienischem Klub zum Schweigen zu bringen. Doch schon einen Tag später lenkte sie ein und stimmte der Bildung eines Verteidigungsausschusses zu, der von der Versammlung gewählt werden sollte. Die piemontesischen Abgeordneten dankten ab, wurden aber trotzdem auf dem Markusplatz von einer venezianischen Horde gejagt, die Blut sehen wollte.150
Zu diesem delikaten Zeitpunkt war Manin fleißig dabei, einen Buchladen zu durchstöbern. Doch diese angenehme Beschäftigung musste er unterbrechen, als er zu einem Treffen mit der Regierung und den Abgeordneten gerufen wurde. Allein schon sein Erscheinen auf dem Balkon beschwichtigte den Aufruhr unten auf dem Platz. Manin versprach, dass die venezianische Versammlung am 13. August zusammenkommen und er solange die Macht übernehmen werde. Er rief die Venezianer auf, ihre Stadt zu verteidigen. Sein Publikum, das noch wenige Augenblicke zuvor Mordgelüste gehegt hatte, brach in ekstatischen Jubel aus: »Es lebe Manin! Zu den Festungen!« Die Stimmung in der Stadt schwenkte von Wut und Verwirrung um zu Optimismus. Später erinnerte sich der Sohn eines führenden Republikaners: »Mit welcher Zuversicht für die Rettung des Mutterlandes blieben wir auf, um zu sehen, wie die Morgendämmerung über der Eisenbahnbrücke und den zerstörten Schiffen unserer Flotte anbrach!« Manin war ein Husarenstück gelungen, und das nicht nur gegen die Monarchisten, er war auch den Mazzinianern zuvorgekommen, die ihrerseits gehofft hatten, die Macht an sich zu reißen. Immer hatte er die Herrschaft des Pöbels gefürchtet, und für ihn waren Mazzinis revolutionäre Ideen gleichbedeutend mit dieser Gefahr. Deshalb sah er es nun als seine Aufgabe an, die »Anarchie« zu verhindern. Die Junitage in Paris stellten für ihn genau das elende Chaos dar, in das auch Venedig leicht verfallen konnte, machte seine Führung nicht Recht und Ordnung zu ihrer vorrangigen Sache.151
Trotz allem war der Krieg gegen Österreich vordringlicher, und Venedig trug ihn praktisch allein aus. Als die Versammlung am 13. August zusammentrat, stimmte Manin zu, sich die Macht mit zwei Militärkommandeuren zu teilen, der eine, Oberst Giovanni Cavedalis, stand für das Heer, der andere, Admiral Leone Graziani, für die Marine. Um sicherzustellen, dass größtmögliche Einigkeit herrschte, ging Manin so weit zu verkünden, Venedig werde nicht noch einmal zur Republik erklärt. Die Regierung sei »in jeder Hinsicht« provisorisch. Das war ein weiterer Schlag ins Gesicht Mazzinis, die zu einer ernsthaften Herausforderung für das neue Triumvirat werden konnte, da er unter den nicht venezianischen Freiwilligen und Soldaten jede Menge Unterstützung fand. Doch Manins Popularität innerhalb der Bevölkerung war allemal größer, zudem genoss er den Rückhalt des Oberbefehlshabers Pepe. Aus diesem Grund widerstand er bis zum Herbst erfolgreich dem Druck vonseiten des Italienischen Klubs (und Mazzinis), Venedig in eine Hochburg des italienischen Republikanismus zu verwandeln, von der aus das restliche Land revolutioniert werden konnte.152
In der Toskana war die Reaktion auf Custoza sogar noch dramatischer als in Venedig. Cosimo Ridolfis Regierung, eine Koalition aus Konservativen und Gemäßigten, war lange von der liberalen Mitte-Links-Opposition unter Bettino Ricasoli für ihre lauwarme Unterstützung des Krieges kritisiert worden. Als die Nachrichten über die Schlacht Krawalle auslösten, trat Ridolfis Kabinett zurück: Florenz wimmelte von Arbeitslosen, Deserteuren, frustrierten Soldaten und kampfbereiten Freiwilligen, während die radikalen politischen Vereine laut nach einem mazzinianischen Volkskrieg schrien. Schließlich fand sich der gemäßigte Liberale Gino Capponi bereit, den Giftkelch anzunehmen und Ministerpräsident zu werden. Er versprach, die toskanischen Kriegsanstrengungen fortzusetzen, sollte der Waffenstillstand zwischen Österreich und Piemont fehlschlagen.
In Rom hatte Ministerpräsident Mamiani versucht, den Papst in die Rolle des verfassungsgemäßen Monarchen zu manövrieren, doch die füllte Pius IX. nur unter Schwierigkeiten aus. Nachdem das neu gewählte Parlament am 5. Juni eröffnet worden war, sah Mamiani von seinem radikalen Liberalismus ab und setzte sich für die nationale Sache Italiens ein, wobei er jedoch eine Liga mit dem Papst als Vermittler favorisierte. Dafür hasste ihn die radikale Minderheit im Parlament unter Führung des Fürsten von Canino, einem Angehörigen des Bonaparteclans, sowie Doktor Pietro Sterbini. Als die Österreicher im Juli Norditalien angriffen, dabei in den Kirchenstaat eindrangen und am 14. Juli kurzzeitig Ferrara besetzten, mobilisierten die Radikalen mittels der Klubs oder circoli die römische Meute, die Caninos Beispiel folgte und die Verhängung des Ausnahme- und des Kriegszustandes forderte. Mamiani weigerte sich, doch als die Menschenmenge in das römische Unterhaus vordrang und nach Waffen zur Verteidigung der Stadt schrie, war klar, dass das Parlament wenig unternehmen konnte, um die Demokraten unter Kontrolle zu halten. Custoza war der politische Gnadenschuss – Mamiani trat am 3. August zurück. Der Papst wollte den begabten und klugen Pellegrino Rossi berufen, aber weil der zu den ausgesprochen gemäßigten Liberalen gehörte, fand er wenig Akzeptanz, und so musste sich Pius mit einem sechswöchigen Interimsministerium begnügen. Inzwischen versuchten österreichische Truppen Bologna zu besetzen, um die Flut italienischer Freiwilliger einzudämmen, die unterwegs waren, um bei der Verteidigung Venedigs zu helfen. Die Soldaten in ihren weißen Mänteln erreichten am 8. August die Tore der Stadt, doch die Bewohner leisteten entschiedenen Widerstand: Die Armen, Studenten, Ladenbesitzer, Handwerker und Bürger ließen sich vom Bombardement der Feldgeschütze nicht einschüchtern und schafften es sogar, eine Kompanie auszuschalten, die die Befestigungsanlagen überwunden hatte. Binnen dreier Stunden zogen sich die Österreicher zurück. Sie hinterließen eine Stadt in revolutionärem Fieber und patriotischer Leidenschaft.153
In Süditalien wurde die erwachende freiheitliche Ordnung im Königreich Neapel noch in der Wiege stranguliert, seit am 15. Mai König Ferdinand mit Kanonen, Musketen und Bajonetten seine königliche Macht zurückerobert hatte. Doch solange Piemont im Norden Österreich herausforderte, fühlten sich die neapolitanischen Reaktionäre nicht stark genug, die Daumenschrauben fester anzuziehen: Keine italienische Regierung traute sich, das Verfassungsprinzip zu verraten, solange die Möglichkeit bestand, dass die liberale Sache mittels Waffen siegen konnte. Hinzu kam, dass Sizilien noch immer für seine Unabhängigkeit eintrat, weite Teile der ländlichen Gebiete des Festlandes sich in offenem Aufruhr befanden, es in den Abruzzen eine Erhebung gab und in Kalabrien einen größeren Aufstand. Für Ferdinand war es demnach ungünstig, nun die Versprechen zu brechen, die er seinen Untertanen noch im Januar gegeben hatte: Daher wurde nur eine milde Zensur eingeführt, und die Neuwahlen vom 15. Juni (mit strikterem Wahlrecht als zuvor) brachten ein Parlament mit einem starken liberalen Anteil zurück. Trotzdem reklamierte die alte Ordnung einmal mehr ihre Macht: Die Jesuiten wurden wieder im Königreich zugelassen, die königliche Polizei erschien auf den Straßen, Versammlungen waren verboten. Die politischen Gezeiten begannen allmählich zu Ferdinands Gunsten zu wechseln, auch weil es den Radikalen nicht gelang, die Bauernaufstände auf politische Ziele hin zu lenken. Eine Truppe von sechshundert Sizilianern, eingesetzt, um den kalabrischen Aufstand zu unterstützen, weigerte sich trotzig, mit den Bauern gemeinsame Sache zu machen. 8000 vom König entsandte Soldaten machten dem Aufstand schließlich ein Ende.
Mit der Nachricht von Custoza indessen sah der König, dass der Zeitpunkt für die volle Rückgewinnung seiner Macht gekommen war. Seine Hauptsorge galt nun Sizilien, das er unter Kontrolle bringen musste. Die Insel war Anfang März schon dabei gewesen, eine Wiederauflage der Verfassung von 1812 anzunehmen, als die Neuigkeiten von der Pariser Februarrevolution eintrafen. Das sizilianische Parlament, das zum ersten Mal am 25. März zusammentrat, erhöhte nun den Einsatz, indem es eine Verfassung forderte, die Sizilien praktisch unabhängig gemacht und als einzige Verbindung zu Neapel das Haus Bourbon vorgesehen hätte. Als die neapolitanische Regierung Siziliens Ambitionen abwies, bestimmte die Volksvertretung in Palermo – die vor allem aus Juristen, Intellektuellen und liberalen Adeligen bestand – am 13. April die Abschaffung der Monarchie: »Sizilien verlangt keine neuen Institutionen«, erklärte sie stolz, »sondern die Wiedereinsetzung von Rechten, die ihr jahrzehntelang eigen waren.«154 Für ein paar Monate war Sizilien tatsächlich ein unabhängiger Staat: Nicht einmal die italienische Trikolore nahm es als Flagge an, nur das dreibeinige Symbol der Insel. Neapel bezichtigte die Sizilianer denn auch des »Bürgerkriegs« gegen ein vereintes Italien. Doch obwohl es auch hier eine radikalrepublikanische Minderheit gab, darunter Francesco Crispi, traten die meisten sizilianischen Revolutionäre für die konstitutionelle Monarchie ein, und das Parlament setzte den angesehenen Veteranen der Liberalen, Ruggiero Settimo, als Präsidenten ein, bis ein neuer König gewählt werden konnte.
Doch jenseits dieser Körperschaft glitt die Insel in die Anarchie ab. Was noch an Polizei übrig war, wurde von den Squadristen umgebracht, die jetzt nicht mehr nur weite Gebiete auf dem Land unter Kontrolle hatten, sondern auch Einfluss in Palermo nahmen. Mit dem Zusammenbruch der bourbonischen Macht hatten sie die Kontrolle in ihren Dörfern an sich gerissen, um dann »ihre« Leute in die Hauptstadt marschieren zu lassen, die dort genussvoll Angst und Schrecken zu verbreiten suchten. Die Regierung rief eine Nationalgarde ins Leben. Diese sollte Eigentum und Leben der Bürger Siziliens verteidigen, denn Letztere liefen beständig Gefahr, entführt oder bedroht zu werden, zumindest so lange, bis sie Lösegeld zahlten.
Bei all dem Chaos blieb der Regierung wenig Handhabe, um eine Armee aufzustellen, der es gelungen wäre, Sizilien gegen einen neapolitanischen Gegenangriff zu verteidigen. Bis zum September konnte sich die Insel auf vielleicht 6000 Soldaten stützen, darunter zwei reguläre Bataillone, der Rest bestand aus schlecht ausgebildeten Nationalgardisten, ergänzt von abgebrühtem Straßenvolk und gewalttätigen Squadristen. Im August ließ Ferdinand schließlich an der kalabrischen Küste, gegenüber der Straße von Messina, ein 10 000 Mann starkes Expeditionskorps antreten. Dieses kam der königlichen Besatzung in der Zitadelle von Messina zu Hilfe, jenem Brückenkopf, an den sich die Neapolitaner seit dem Beginn der Revolution geklammert hatten. Zwischen dem 1. und dem 6. September besorgten Geschütze der Festung ein Bombardement ohne Gnade, während gleichzeitig die Truppen vorrückten und auf die schlecht vorbereiteten Zivilgardisten und die Bewohner trafen. Als die Schlacht vorbei war, lagen zwei Drittel der Stadt in Schutt und Asche. Von nun an war Ferdinand unter einem neuen Beinamen bekannt: Bomba. Ein sechsmonatiger Waffenstillstand, den die entsetzten Briten und Franzosen vermittelten, führte ab dem 11. September zu einer Kampfpause, doch die neapolitanische Rückeroberung Siziliens hatte mit aller Macht eingesetzt.155
1847 warnte der deutsche Schriftsteller August von Haxthausen seine Leser anschaulich vor der möglichen Katastrophe:
»Pauperismus und Proletariat sind die eiternden Geschwüre, die der Organismus der modernen Staaten geboren hat. Können sie geheilt werden? Die communistischen Heilkünstler schlagen eine völlige Zerstörung und Vernichtung des vorhandenen Organismus vor […] Eins ist sicher, gewinnen diese Leute die Macht zum Handeln, so giebt es keine politische, sondern eine sociale Revolution, einen Krieg wider alles Eigenthum, eine vollkommene Anarchie.«156
Obwohl er ein Konservativer war, der (mitfühlend) über Russland schrieb, drückte Harthausen das aus, was viele Europäer angesichts der Bedrohung durch die – im 19. Jahrhundert aus Armut und einschneidendem Wirtschaftswandel entstandene – »soziale Frage« empfanden. Auch die Liberalen befürchteten, dass die Radikalen nach den politischen Triumphen der ersten Monate des Jahres 1848 versuchen würden, das vielfache Elend zu nutzen, um die neue freiheitliche Ordnung im Keim zu ersticken, indem sie auf eine zweite, eine soziale Revolution drängten.
Die Gemäßigten lagen in der Tat richtig. Denn die Armut der städtischen Arbeiter war einer der wichtigsten Faktoren, die letztlich das Scheitern der freiheitlichen Regierungen des Jahres 1848 nach sich zogen. Und das, obwohl die Forderungen der Arbeiter gar nicht immer revolutionärer, sondern vor allem gesellschaftlicher Natur waren. Obwohl sie in keinem Land in der Mehrheit waren, wirkten sie doch vor allem im städtischen Milieu, und das versetzte sie in die Lage, die zentralen Institutionen der neuen Ordnung zu bedrohen. Die Liberalen waren nicht bereit, den Arbeitern mehr als bestimmte zivile und politische Rechte zu gewähren und durch öffentliche Arbeiten die größte Not etwas abzumildern. Mit den verfassungsrechtlichen Freiheiten und den nun im Entstehen begriffenen Regierungen waren sie ja auch erst mal zufrieden. Langfristig, so hofften sie, würden wirtschaftliche Erholung, dazu die neue Versammlungs-, Vereinigungs- und Gewerbefreiheit der Militanz der Arbeiter den Stachel ziehen. 1848/49 jedoch war eine wirtschaftliche Erholung nicht in Sicht (wozu die politische Ungewissheit dieser Jahre noch beitrug), und die Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut brachten allenfalls Linderung. Sie waren Pflaster, die die Wunden der Verzweiflung nur notdürftig abdeckten. Deshalb ließen sich die Forderungen der Arbeiter, selbst wenn sie gemäßigt waren und mehr dem Elend als der Militanz entsprungen, von den Radikalen für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren. Gleichzeitig war es für sie Konservativen allzu leicht, die machtvollen Demonstrationen der Arbeiterklasse ins Feld zu führen – die Junitage in Paris, den Augustaufstand in Wien oder die Septemberrevolte in Frankfurt – und zu behaupten, die Arbeiter wollten die gesellschaftliche Ordnung, wenn nicht sogar die Kultur zerstören. Viele Liberale und Angehörige des Mittelstands waren aus eigener Erfahrung nur allzu bereit, dies zu glauben und daher willens, hart erkämpfte politische Freiheiten wieder zu opfern, sollte das die Rückkehr von Recht und Ordnung garantieren. Doch unter diesen Umständen – mit Liberalen, die sich der Obrigkeit anschlossen, und mit Arbeitern, die sich mehr und mehr mit Radikalen verbündeten – sollte die Revolution von 1848 schon bald in eine verhängnisvolle Polarisierung münden. Noch bedrohlicher für die freiheitliche Ordnung jedoch waren soziale Spaltungen dort, wo sie von ethnischen Unterschieden überlagert wurden. Besonders unter den Bauern Zentral- und Mitteleuropas war dies der Fall und sehr gefährlich – gerade die Landbevölkerung sollte es sein, die 1848 die Gegenrevolution unterstützte.