Am Anfang dieses Buches stand 1847 Alexander Herzens hoffnungsvolle Reise durch Europa. Doch es endet mit seiner Enttäuschung. Die Jahre um die Jahrhundertmitte waren für den russischen Sozialisten eine Zeit der persönlichen und politische Tragödie. Nachdem sie von Frankreich aus ins Exil gegangen waren, lebten Herzen und seine Frau Natalie zuerst in Genua und anschließend mit Georg sowie später auch Emma Herwegh, den deutschen Republikanern, in Nizza. Anfang 1851 gestand Natalie, eine Affäre mit Georg gehabt zu haben, worauf Monate der Schuldzuweisungen und des Unglücks folgten. Dann aber schlug das Schicksal grausam zu: Im November kehrten Herzens Mutter und sein siebenjähriger Sohn Kolja von einem Besuch aus Paris zurück, ihr Schiff ging unter – beide fanden den Tod. Natalie starb im Mai des folgenden Jahres. Der gebrochene Herzen reiste den Sommer über quer durch Europa, bis er sich im Herbst 1852 mit seinem dreizehnjährigen Sohn Sascha in London niederließ.1 An diesen richtete er seine gehaltvollen Betrachtungen über die Revolutionen von 1848. Als er Vom anderen Ufer schrieb und am Neujahrstag 1855 seinem Sohn widmete, war er sehr ernüchtert. Dass die überkommene soziale und politische Ordnung durch eine Revolution zerstört würde, das war für Herzen historisch unumgänglich, wenn auch nicht im Jahr 1848. Aufgabe der gegenwärtigen Generation sei es, das alte Regime mit Stumpf und Stil auszureißen und zu zerstören. Menschen der Zukunft indessen würden die Früchte ernten: »Der Mensch unserer Zeit«, teilte er Sascha mit, »baut als trauriger pontifex maximus nur die Brücke – ein anderer, unbekannter, ein Mensch der Zukunft wird über sie hinschreiten. Du wirst ihn vielleicht zu sehen bekommen … bleib nicht am alten Ufer stehen … Es ist besser mit diesem Menschen unterzugehen als sich in das Versorgungsheim der Reaktion zu retten.«2
Folglich wurden die Revolutionen immer als Scheitern empfunden, doch man sollte nicht zu pessimistisch sein. Die Ereignisse von 1848 verschafften Millionen von Europäern eine erste Berührung mit der Politik: Arbeiter und Bauern stimmten bei Wahlen ab, ja kandidierten sogar und zogen in Parlamente ein. Die Bürgerrechte, die damals nur allzu kurz erblühten, schenkten den Europäern den Freiraum, durch die Mitgliedschaft in politischen Vereinigungen und Arbeiterorganisationen die Politik zu erkunden das galt auch für die Frauen. Dass so manche eher konservativer als liberaler Natur waren, tut der Sache keinen Abbruch, denn auch der Konservatismus war eine politische Einstellung und wurde von vielen Menschen aus dem Volk bewusst übernommen. Die vielleicht bedeutendste Errungenschaft damals war die Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft, der Frondienste und Abgaben. Ganz abgesehen von den sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Reform, zeitigte sie auch langfristige politische Folgen: Sie vergrößerte die Macht des Staates zulasten des grundbesitzenden Adels. Mit dem Ende der Leibeigenschaft war die Zerstörung der adeligen Gerichtsbarkeit über ebendiese Bauern verbunden, die in Zukunft der staatlichen Rechtsprechung unterstehen würden. Mit anderen Worten: Der Adel agierte nicht länger als Vermittler zwischen den Bauern und der Regierung, stattdessen hatte die Bauernschaft jetzt dieselben Rechtsansprüche wie alle anderen Untertanen. Auf diese Weise wurden sie allmählich zu normalen Bürgern eines modernen Staatswesens.3 Hinzu kommt, dass die Probleme, die 1848 an die Oberfläche drängten – Konstitutionalismus, Bürgerrechte, die soziale Frage, der Nationalismus – nicht einfach deshalb verschwanden, weil die Gegenrevolution Auseinandersetzungen darüber vereitelte. Nicht zuletzt aufgrund der Dynamisierung und der rasanten Veränderung von Wirtschaft und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mussten auch Konservative diese Dinge zur Kenntnis nehmen. Einige Konservative waren realistisch genug, das kurz nach dem Scheitern des Liberalismus zu erkennen: Der Historiker Leopold von Ranke sagte zu einem der Ratgeber von Friedrich Wilhelms IV., man müsse den Stürmen von heute mit den Institutionen von heute begegnen.4 Viele der Lösungsansätze, die schließlich übernommen wurden – Sozialreformen, nationale Einheit – mögen eher in autoritärer als konstitutioneller Manier eingeführt und zum Wohle der konservativen Interessen gestaltet worden sein, aber sie gingen oftmals aus Entwürfen von den »Achtundvierzigern« hervor. Gelegentlich wurden sie sogar mithilfe jener reumütigen Revolutionäre umgesetzt, die ihren Frieden mit der konservativen Ordnung gemacht hatten. Um nur ein Beispiel zu nennen: 1867 gab Franz Josephs absolute Monarchie in Österreich dem erneuten Druck nach und handelte – allerdings auf Kosten der anderen Nationalitäten – einen Kompromiss mit den Ungarn aus. Durch diesen wurde das österreichische Kaiserreich zu Österreich-Ungarn, bei dem beide Teile theoretisch gleichgestellt waren und für Ungarn, Österreich und das Reich als Ganzes repräsentative Organe bestanden. Bezeichnenderweise waren die führenden Architekten auf ungarischer Seite – Gyula Andrássy und Ferenc Deák – frühere »Achtundvierziger«. Der hartnäckige Lajos Kossuth dagegen blieb den Rest seines Lebens im Exil (er starb 1894 im Alter von 92 Jahren in Turin) und lehnte kategorisch jeden Handel mit den Österreichern ab.
Und doch hat die Nationalgeschichte mit ihren längeren Zeithorizonten 1848 als verpasste Chance gesehen, Europa auf einen liberalen, konstitutionellen Weg zu lenken. Die Schlussfolgerung daraus lautet natürlich, dass, wären die Revolutionen erfolgreich gewesen, die Gräuel des 20. Jahrhunderts vermieden worden wären. A. J. P. Taylor merkte an, dass 1848 ein historischer Wendepunkt gewesen sei, »Deutschland es jedoch nicht schaffte, sich zu wenden«.5 Historiker glauben, die deutsche Revolution hätte eine Einheit »von unten« schaffen können, keine wie später von Bismarck mit preußischer Militärmacht »von oben« erwirkte (ein Prozess, der 1871 seinen Abschluss fand). Auch wenn es den Parlamentarismus unter Bismarck gab, war das Kaiserreich doch autoritär und militaristisch. Weiterhin wird argumentiert, dass das Bürgertum – in Frankreich das Rückgrat der demokratischen und revolutionären Bewegung – sich in Deutschland den preußischen Junkern beugte. Und weil sie diesen Gedanken eines deutschen »Sonderwegs« historisch noch weiter fortspannen, sahen manche Historiker im autoritären deutschen Kaiserreich des späten 19. Jahrhunderts die Saat des sehr viel dunkleren, mörderischen Dritten Reichs des 20. Jahrhunderts.6 Aus diesem Blickwinkel war das Scheitern von 1848 eine Katastrophe. Die große Lehre, die aus der Revolution gezogen wurde, war, dass Deutschlands Einheit nur mit Gewalt zu erreichen sei – insbesondere mit preußischer Gewalt. 1848 schlug die Einigung fehl, weil den Revolutionären selbst keine militärischen Kräfte zur Verfügung standen, am Ende wurden sie kurzerhand von den Armeen der konservativen deutschen Staaten überrannt. Bismarck empörte liberale Preußen 1862, als er sagte: »Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse […] werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Blut und Eisen.«7 Doch die deutschen »Achtundvierziger« waren keine reinen Idealisten, auch sie waren an der Macht interessiert, besonders an deutscher Macht, wie ihre Diskussionen über den weiteren Kurs Deutschlands deutlich verrieten. Als sie gezwungen waren, zwischen nationaler Einheit und politischer Freiheit zu wählen, entschieden sie sich für Erstere – mit wenigen Ausnahmen, wie etwa Johann Jacoby. Das war vielleicht die größere Tragödie des Jahres 1848: Selbst die Liberalen opferten die Freiheit allzu bereitwillig der Macht.
Ein ähnlicher Prozess kann in Italien beobachtet werden. In den 1930er-Jahren versuchte der italienische Marxist Antonio Gramsci, der unter Mussolini im Gefängnis saß, zu erklären, wie Italien, das 1860 endlich zur Einheit fand, unter die Räder der faschistischen Diktatur geraten konnte. Er fand die Antwort in der Schwäche des liberalen italienischen Mittelstandes, also genau jener Leute, die 1848/49 an der Spitze des Kampfes um nationale Einheit und Freiheit standen. Die Lehre, die aus dem Scheitern der Revolutionen in Italien gezogen wurde, war genau wie im Falle Deutschlands, dass die Befreiung und Einigung nur durch das Militär des monarchistischen Piemonts und die Kooperation mit den besitzenden Eliten zu erreichen war. Folgerichtig war die Vereinigung eine »passive Revolution«, durch konservative Kräfte »von oben« verhängt und nicht (wie Mazzini und andere Republikaner es gern gesehen hätten) vom Volk ausgehend. Das italienische Königreich, das daraus hervorging, hatte somit von Anbeginn ein schwaches parlamentarisches System, das sich redlich mühte, eine vollwertige Demokratie zu werden. Genau aber das machte den Staat anfällig für die faschistische Gegenrevolution.8 Bereits im Jahre 1848 konnte man bei gewissen Revolutionären die Bereitschaft erkennen, demokratische oder liberale Ideale um des Machterhalts willen preiszugeben und so die Sache der nationalen Einung zu befördern. Auch streuten die italienischen Revolutionäre bisweilen eine kulturelle Saat aus, die viele Früchte der Unfreiheit tragen sollte. Die Revolution war wie ein Krieg, dessen opferbereite Helden nun vergöttert wurden. Inbegriff des selbstlosen Heroismus war Garibaldi, dessen Memoiren bekanntlich wenig dazu beitrugen, an diesem Mythos zu kratzen. Nicht nur, dass der nationalen Befreiungsbewegung ein militaristischer Keim eingepflanzt wurde, der Kontrast zwischen heroischer Überhöhung und realer Niederlage des Risorgimento beziehungsweise der nationalen »Wiederauferstehung« Italiens schuf hier auch den Beigeschmack von Niedergang und Verrat.9 Die Spannung zwischen Heroismus, militärischem Ruhm und Selbstopfer auf der einen, der Korruption von Politik und Gesellschaft auf der anderen Seite war ein Thema, das große Anziehungskraft auf jene ausübte, die später nach autoritären Lösungen für die Probleme Italiens suchen sollten.
Ganz anders dagegen waren die Erfahrungen der Franzosen. Während niemand behaupten würde, dass die kurze Zweite Republik ein Riesenerfolg war, wurde sie doch (so von Maurice Agulhon und anderen) als eine »Lehrzeit« betrachtet,10 eine Vorbereitung auf die dauerhafte parlamentarische Demokratie in Frankreich. Nach vielen stürmischen Dekaden wird denn auch die Entstehung der Dritten Republik nach 1870 als ein lange erwarteter Triumph der Prinzipien von 1789 gesehen, als das »Ankommen der Französischen Revolution im Hafen«, wie François Furet es formulierte.11 Und doch hat all dies kein Gewicht für den Fortbestand tiefer politischer Spaltungen innerhalb der französischen Gesellschaft, die sowohl in den 1890er-Jahren während der Dreyfus-Affäre als auch sehr schmerzlich während der nationalsozialistischen Besetzung und des Vichy-Regimes in den 1940er-Jahren aufbrachen. Die Historiker sehen sich noch immer herausgefordert, wenn sie erklären sollen, warum Frankreich nach einem so steinigen Weg nach 1945 endlich in einer dauerhaft parlamentarischen Demokratie ankam – einem Weg, auf dem es seit 1798 drei Monarchien, zwei bonapartistische Kaiserreiche, fünf Republiken und nicht weniger als fünfzehn Verfassungen gegeben hatte. Sieht man auch 1848 unter den Leichen liegen, die den Weg dieser grausamen Reise voller Umwege säumen, stellt sich allmählich weniger der Eindruck einer demokratischen Lehrzeit ein, als vielmehr der eines weiteren gescheiterten Versuchs, zur politischen Einigung zu kommen. Ein politisches System konnte in Frankreich nur überleben, wenn es die große Spaltung im Umgang mit dem liberalen demokratischen Erbe von 1789 überwand – oder musste, wie manche Historiker es nannten, im »francofranzösischen Krieg« enden.12
Zentral für die negative Einschätzung von 1848 war die Erkenntnis, dass Demokratie nicht immer gleichbedeutend mit fortschrittlich ist. Die französischen Wahlen vom April 1848 brachten einmal mehr ein streng konservatives Parlament ans Ruder, was Proudhon zu der bitteren Bemerkung veranlasste: »Allgemeines Wahlrecht heißt Gegenrevolution.«13 Diese Auffassung wurde bestärkt durch die Plebiszite zugunsten Louis-Napoleon Bonapartes und später durch Bismarck, der dem deutschen Sozialisten Ferdinand Lasalle gut zugehört hatte, als der ihm versprach: »Geben Sie mir das allgemeine Stimmrecht, so will ich Ihnen eine Million Stimmen bringen.«14 Durch Konservatismus und Nationalismus, beide in Europa weit verbreitet, gelang es den restaurativen Regierungen die liberale Opposition, die sich oft auf eine zahlenmäßig kleinere Mittelschicht und Besitzbürger stützte, zu überlisten und zu schwächen. Doch auch wenn man von der französischen Einzigartigkeit, dem deutschen »Sonderweg« oder der »passiven Revolution« in Italien spricht, ist es doch auch wichtig, nicht zu pessimistisch zu urteilen. Diese Interpretationen können zu einem Tunnelblick auf historische Entwicklungen führen: So kann zum Beispiel die Idee eines »Sonderwegs« im extremsten Fall den Eindruck vermitteln, dass alle deutschen Wege unaufhaltsam zu den Nationalsozialisten und zum Holocaust führten. Von 1848 zu 1933 war es noch ein langer Weg, doch ein desillusionierter deutscher »Achtundvierziger« und Vorbote der finsteren Zukunft, Richard Wagner, schrieb voller Sarkasmus, dass das deutsche Volk von 1848 die wahre Natur der »französisch-jüdisch-deutschen Demokratie« missverstanden habe und so »der eigentliche wahrhafte Deutsche sich und seinen Namen so plötzlich von einer Menschenart vertreten fand, die ihm ganz fremd war«.15 Doch auch wenn Wagner einen Antisemitismus an den Tag legte, der latent in der deutschen Gesellschaft vorhanden war, sollte sich dieser so lange nicht zu einem markanten Merkmal der politischen Landschaft entwickeln, bis im späten 19. Jahrhundert im Sog der deutschen Einigung und mit dem Aufkommen der Massenpolitik ultranationale populistische Strömungen in die Diskussionen Einzug hielten. Bis zu diesem Zeitpunkt strebten jüdische Liberale fröhlich nach der deutschen Einigung – ein Prozess, der ihrer Meinung nach einen weiteren Fortschritt auf dem Weg zu ihrer eigenen Emanzipation darstellte.
Man könnte behaupten (wie es der Autor dieses Buchs getan hat), dass die autoritären Tendenzen des 20. Jahrhunderts zwar ein Erbe der im 19. Jahrhundert wurzelnden Vorstellungen, Bewegungen und Probleme waren, doch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs und die gewaltige Belastung, die dieser für die europäische Politik und Gesellschaft mit sich brachte, in den Folgejahrzehnten in den Vordergrund traten.16 Dennoch kann man diese Tendenzen auch 1848 schon erkennen, nicht als den wild wuchernden Dschungel, zu dem sie im 20. Jahrhundert wurden, sondern als keimende Saat: In diesem Sinne war 1848, wie Lewis Namier vorschlug, »das Saatbeet der Geschichte«.17 Die Revolutionen stellten auch in anderer Hinsicht ein »Saatbeet« dar: Die »soziale Frage«, vor 1848 noch angstbesetzt, wurde in jenem Jahr mit Gewalt auf die politische Tagesordnung gebracht.
Als der deutsche Demokrat Ludwig Bamberger 1848 von den Pariser Junitagen erfuhr, dachte er sofort an eins der großen Probleme, die für das spätere Industriezeitalter so prägend sein sollten: Wie konnte man soziale Gerechtigkeit mit individueller Freiheit in Einklang bringen? Das war eine in jeder Hinsicht ganz entscheidende Frage, die viele verschiedene Antworten – vom Kommunismus bis zum liberalen Kapitalismus – produzieren sollte. »Die soziale Frage«, erkannte Bamberger, »hatte ihr Schwert in die Waagschale des politischen Kampfes geworfen, um nicht mehr aus dem Kampfe zu verschwinden und den Sieg der rein politischen Freiheit für alle Zeit zu erschweren, wenn nicht unmöglich zu machen.«18 Im Jahr 1848 vergiftete die soziale Frage die liberalen Regimes, weil es unter den Revolutionären keinen Konsens darüber gab. Erstens bestand keine Übereinstimmung über die Form, die die neue politische Ordnung annehmen sollte: Sollte sie republikanisch oder monarchistisch, demokratisch oder liberal, zentralistisch oder föderalistisch sein? Zweitens waren sich Liberale und Radikale nicht einig, in welchem Ausmaß die Revolutionen zugunsten der sozialen Verhältnisse eingreifen sollten – inwieweit der Staat intervenieren sollte, um der Armut abzuhelfen, bei Arbeitskämpfen zu schlichten und wirtschaftliche Aktivitäten zu regulieren. Mit anderen Worten: Bis zu welchem Grad sollte das neue Regime über politische Reformen hinausgehen und eine soziale Revolution ansteuern? Beide Aspekte waren miteinander verbunden, denn ein Scheitern bei der Lösung der ersten Frage bedeutete, dass es keinen gesetzlichen Rahmen geben würde, innerhalb dessen der zweite Problembereich politisch friedlich gelöst werden konnte. Das Versäumnis der 1848er-Revolutionen, die soziale Frage anzugehen, war deshalb untrennbar mit dem politischen Versäumnis der Revolutionäre verbunden, Verfassungen zu entwickeln, die jene mit einbezogen, die von der Wirtschaftskrise am stärksten betroffen waren.
Eine der großen Tragödien von 1848 war die Zerbrechlichkeit politischer und sozialer Bündnisse. Manche Historiker haben die Radikalen vor allem dafür verurteilt, dass sie die liberale Ordnung, selbst noch in ihrer zarten Entstehungsphase unwiederbringlich beschädigt hätten. Frank Eyck zum Beispiel glaubt, dass die Radikalen auf lange Sicht womöglich Recht behielten, »kurzfristig aber zerstörten sie den Konstitutionalismus und die zarten Anfänge des repräsentativen Regierungssystems, indem sie dort Gewalt anwendeten, wo sie durch Überzeugung nichts erreichen konnten. Sie waren es, die die Arbeit moderner liberaler Regierungen unmöglich machten.«19 Man mag dieser Ansicht zustimmen, wie es beim Autor des vorliegenden Bandes sicher der Fall ist. Doch selbst wenn es stimmt, dass die Radikalen mitnichten die Vertreter der verarmten Massen waren, deren Fürsprecher sie behaupteten zu sein, so brachten sie dennoch die weit verbreitete Enttäuschung über die soziale Frage zum Ausdruck und boten in manchen Fällen konstruktive (wenn auch manchmal unrealistische) Lösungen für das Armutsproblem an. Langfristig gesehen trifft es zu, dass der Kapitalismus den gesamten Lebensstandard in Europa drastisch verbesserte. Im Nachhinein scheint somit gerechtfertigt, dass Eyck die Ungeduld der Radikalen angesichts der Beschränkungen der entstehenden liberalen Ordnung im Jahr 1848 verurteilte. Mit etwas mehr Weitsicht, so könnte man einwenden, hätte es eine liberale Ordnung schaffen können. Auch wäre Europa damals vielleicht in nur einer Generation in den Genuss sowohl verfasster Regierungen als auch in den des Reichtums gekommen, den eine ausgereiftere Industrialisierung mit sich gebracht hätte. 1848 jedoch war ganz und gar nicht abzusehen, dass der Kapitalismus anhaltendes wirtschaftliches Wachstum und Reichtum bringen würde. Herzen formulierte dies während seines Aufenthalts 1848 in Paris so: »Wie wollen Sie den Arbeiter dazu überreden, Hunger und Not auszuhalten, bis sich die staatsbürgerliche Ordnung allmählich ändert?«20
Auch darauf passt Namiers Ausdruck des »Saatbeets der Geschichte«, weil die Revolutionen jenes Jahres die Grundspannung zwischen politischer Freizügigkeit und bürgerlicher Freiheit auf der einen und sozialer Gerechtigkeit auf der anderen Seite auf den Punkt brachte. Seit 1848 hatte diese Spannung Reaktionen hervorgebracht, die – mit sämtlichen Abstufungen dazwischen – vom liberalen Kapitalismus bis zum Totalitarismus reichten. Die meisten modernen Demokratien bewältigen die soziale Frage, weil sie sie innerhalb eines konstitutionellen Rahmens diskutieren, dem alle Parteien (mehr oder weniger) zustimmen und der die demokratischen Freiheiten schützt. 1848 aber gab es in den meisten europäischen Ländern solch einen politischen Konsens überhaupt nicht, weshalb die Revolutionen auch vor der großen Herausforderung aller modernen Staaten standen: Wie kann man die Massen in den Staat integrieren und die soziale Frage lösen, ohne Instabilität zu erzeugen? Manche Staaten, etwa die Dritte französische Republik oder England, schafften es, politische Übereinstimmung zu schaffen, indem sie sich auf Traditionen beriefen (im Falle Frankreichs auf das demokratische Erbe von 1789). Dadurch konnten sie im Rahmen des liberalen parlamentarischen Systems die ein oder andere Sozialreform anbieten. Andere verordneten Reformen von oben durch eher autoritäre Regierungen, etwa das Bismarck-Deutschland während der 1880er-Jahre. Eine dritte Lösung war Revolution, und zwar dort, wo die Integration der Massen scheiterte oder gar nicht erst ernsthaft versucht wurde und politische Entfremdung zu einer gewaltsamen Herausforderung der alten Ordnung führte wie in Russland, das die soziale Frage mit einem Totalitarismus beantwortete, der die Bedürfnisse der Gesellschaft und vor allem des Staates über die Freiheit des Individuums stellte.
Die Revolutionen von 1848 waren noch in einem weiteren Gesichtspunkt ein »Saatbeet«: Was Ziele und Vorstellungen betrifft, die Liberale und Radikale unterschiedlicher Nationalitäten vereinten, aber auch was die Umstände anging, die diese bald voneinander entfernen sollten, handelte es sich um ein wahrhaft europäisches Phänomen. Nur das Jahr 1989 mit dem Wegfall des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa kann es damit aufnehmen. Die Frage, ob 1848/49 wirklich eine »europäische« Revolution war oder nicht – und wenn ja, in welcher Hinsicht –, hat die Historiker in Atem gehalten.21 Dahinter steht die gewichtige Frage, ob Europas politische und soziale Entwicklung auf einer gemeinsamen historischen Erfahrung beruht oder ob umgekehrt die Unterschiede zwischen den Ländern so groß sind, dass die »europäische« Geschichte nichts weiter als die Summe ihrer Bestandteile ist. Manche Geschichtswissenschaftler argumentierten, 1848 sei derart vielschichtig gewesen, dass die Revolutionen keine Gemeinsamkeiten aufwiesen, sondern einfach nur die »Summe lokaler Ereignisse« waren.22 Selbstverständlich besteht kein Zweifel daran, dass es im Erleben von 1848 bedeutende nationale Unterschiede gab. Rudolph Stadelmann zum Beispiel betont, dass die Ziele der meisten liberalen deutschen Revolutionäre auf den Wunsch nach »Unabhängigkeit des deutschen Liberalismus von dem französischen Vorbild« hinwiesen, da sie sich eher auf die Staatsbildung unter einer konstitutionellen Monarchie konzentrierten, anstatt den republikanisch-sozialistischen Impuls für eine radikale politische Neuorientierung zu geben.23 Die Folgen lassen sich ganz unterschiedlich interpretieren: Entweder waren die deutschen Revolutionäre gemäßigter und mehr auf Legalität, Stabilität und Kontinuität bedacht, oder das deutsche Interesse für Staatsbildung und Monarchie räumte sowohl dem Nationalismus wie auch dem Konservatismus Vorrang vor der liberalen Freiheit ein. Hinzu kommt, dass nicht alle europäischen Länder eine Revolution durchmachten: England, Schweden-Norwegen, die Niederlande, Spanien, Portugal, Russland und das ottomanische Europa (mit Ausnahme der rumänischen Fürstentümer) wurden kaum in Unruhe versetzt.
Selbst wenn 1848 kein »europäisches« Phänomen in dem Sinne war, dass jedes Land eine Revolution sein Eigen nannte, trifft doch zu, dass auch Länder, die keine unmittelbare Rebellion erlebten, von den Erhebungen nicht unberührt blieben. England, Belgien, die Niederlande, Schweden und Norwegen bekamen zwar keine Revolten, aber doch Erschütterungen zu spüren. Und im größeren Rahmen internationaler Politik waren alle europäischen Mächte davon tangiert. England und Russland fühlten sich sogar mehrfach genötigt, in die Revolutionen einzugreifen. Beide übten diplomatischen Druck in der Schleswig-Holstein-Krise aus, und Russland schaltete sich auf militärischem Gebiet gegen die Revolutionen in Rumänien und Ungarn ein. Dass 1848 nicht zu einem großen europäischen Konflikt vom Umfang des Napoleonischen oder des Ersten Weltkriegs ausartete, war vor allem der Tatsache zu verdanken, dass die fünf europäischen Großmächte – England, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland – unter allen Umständen einen solchen Krieg vermeiden wollten. Alle Regierungen, selbst die Zweite französische Republik, verstanden, dass ein europäischer Flächenbrand die sowieso schon gefährliche politische Situation radikalisieren würde und zu einer völligen Auflösung der Vielvölkerreiche in Mittel- und Osteuropa führen könnte. Die Aufgabe, in den Nachwehen solcher Umbrüche den Frieden dauerhaft zu sichern, wäre sehr viel schwieriger geworden, als sie es sowieso schon war. Zudem verblieben, abgesehen von Frankreich, Außenpolitik und Heer unter Kontrolle eben der Monarchien, die das größte Interesse daran hatten, die europäische Ordnung unversehrt zu erhalten. Dementsprechend ließ sich die preußische Regierung von der Begeisterung der Liberalen für einen Krieg gegen Russland nicht verleiten und gab dem britischen und russischen Protest gegen einen Einmarsch in Schleswig-Holstein nach. Als Russland in Rumänien und Ungarn einmarschierte, verhielten sich England und Frankreich neutral; und natürlich erfolgte der russische Angriff im Falle Ungarns auf das Hilfegesuch Österreichs hin. Die französische Intervention in Rom fand 1849 vor dem Hintergrund internationaler Sorgen um den Papst statt, so dass die französischen Truppen die Stadt selbst einnahmen, während spanische, neapolitanische und österreichische Streitkräfte noch Teil eines größeren Konflikts waren. All diese Beispiele verdeutlichen, dass das paneuropäische Geflecht, das auf der Hegemonie der fünf Großmächte beruhte, intakt blieb, was am Ende die Gegenrevolution begünstigte.24 Es ist bezeichnend, dass in dem Moment, in dem die großen europäischen Staaten anderen Interessen den Vorrang gaben als der Aufrechterhaltung des internationalen Status quo, (das sollte im Krimkrieg 1854 bis 1856 nur allzu bald der Fall sein), eines der Kernziele der »Achtundvierziger« – die italienische, deutsche und rumänische Einheit – innerhalb von knapp zwei Jahrzehnten verwirklicht wurde.
Die 1848er-Revolutionen waren insofern auch europäisch, als sie auf dem ganzen Kontinent spontan auftraten. Hingegen erfolgte der Anschlag auf die alte europäische Ordnung nach der Französischen Revolution 1789 in verschiedenen Ländern zwar mit Unterstützung von Jakobinern vor Ort, doch der eigentliche Impuls ging unbestreitbar von Frankreich aus. Die Revision durch die napoleonische Ära wäre ohne das militärische Potenzial dieser Nation nicht möglich gewesen. Zwar ist richtig, dass der große Schock, der 1848 Europa ergriff, einmal mehr von einer französischen Revolution ausging, doch wirklich entscheidend war hier der Sturz Metternichs im März. Als sich in Italien, Ungarn, Siebenbürgen, Böhmen und Preußen die Lage zuspitzte, waren es nicht die Pariser Ereignisse, die einen neuen revolutionären Schub auslösten, sondern es war die Revolution in Wien. Mit anderen Worten, der Ausbruch der 1848er-Revolutionen war, gerade weil sie nicht alle einer einzigen Quelle entsprangen, ein genuin europäisches Phänomen. Die europäische Revolution von 1848 war im Wesentlichen polyzentrischer Natur und drückte sich in regionalen Formen des Liberalismus aus, allerdings verbunden durch starke Ähnlichkeit in der Zielsetzung, den Abläufen und den Problemen, denen sich die neu gebildeten Regierungen gegenübersahen.
Warum so unterschiedliche Länder 1848 eine Revolution erlebten, liegt auf der Hand: Überall war das Volk von einer schlimmen landwirtschaftlichen und industriellen Krise betroffen. Diese Ursache verlieh den Revolutionen eine stark paneuropäische Dimension. Ohne allerdings die zentrale Bedeutung dieses wirtschaftlichen Drucks herunterzuspielen, muss dennoch gesagt werden, dass die Revolutionen europaweit ganz ähnlichen Mustern folgten. Ihr Erfolg war zum einen der politischen Vertrauenskrise geschuldet, da man den Regierungen nicht zutraute, den Herausforderungen des sozialen Elends und der politischen Opposition begegnen zu können; zum anderen der politischen Geschlossenheit von Liberalen und Radikalen, die ein vorübergehendes Bündnis mit Bürgern, Arbeitern und Bauern (und manchmal sogar dem Adel) gegen die alte Ordnung eingingen. Die Probleme fingen an, als sich diese Einheit als brüchig erwies, Liberale und Radikale untereinander darum konkurrierten, wer die Richtung des neuen Regimes bestimmte, die Besitzenden versuchten, ihren Reichtum vor einer zweiten, radikaleren Revolution zu schützen, und Bauern sich wieder in eine Reihe mit den Konservativen stellten, nachdem sie im anfänglichen Aufstand erreicht hatten, was für sie zu erreichen war. Indem der allzu kurze revolutionäre Konsens auseinanderfiel (manchmal mit blutigen Folgen), kam es zu einer politischen Polarisierung und dem Verlust der Mitte, da sich die Gemäßigten zunehmend autoritäreren Lösungen zuwandten, um der Bedrohung durch eine zweite, eine »soziale« Revolution zu begegnen. In dieser Hinsicht waren die Revolutionen selbstzerstörerisch. Bis zum Jahresende jedoch hatten sich die Konservativen wieder gefangen und ihre gefürchteten Pluspunkte (Kontrolle über die Armee, die Loyalität der Bauernschaft) erneut zur Disposition. Sie hatten die Initiative zurückgewonnen.
Die europäischen Liberalen machten nicht nur ähnliche revolutionäre Erfahrungen, sondern teilten auch vergleichbare (im Sinne von John Breuilly »grundlegend ähnliche«) Ziele.25 Obwohl es bedeutsame regionale Unterschiede gab, waren die Liberalen Europas durch ein gemeinsames Ziel nach politischer Reform – vor allem was eine Verfassung mit begrenztem Wahlrecht betrifft sowie, mit Ausnahme Frankreichs, durch das gnädige Zepter der konstitutionellen Monarchie – miteinander verbunden. Die Radikalen dagegen verfolgten alle das Ziel des allgemeinen Wahlrechts (für Männer) und in den meisten Fällen das der Republik. Liberale und Radikale eines Landes waren sich durchaus bewusst, dass sie ähnliche Ziele verfolgten wie ihre europäischen Nachbarn. Hartmut Pogge von Strandmann zitiert das aufschlussreiche Beispiel eines deutschen Plakats der Republikaner, das zu Ehren der »großen europäischen Revolution« am 3. April 1848 zu einer Massenversammlung in Berlin aufrief, dabei Reden auf Deutsch, Englisch und Französisch versprach und in diesen drei Sprachen der Republik salutierte.26
Die Revolutionäre mit den »europäischsten« Anschauungen indessen waren in der Regel jene, deren nationale Bestrebungen am meisten von einer politischen Neugestaltung des Kontinents profitiert hätten. Carlo Cattaneo erinnerte in einer Rede, die er kurz nach den Märzrevolutionen vor dem ungarischen Landtag hielt, die Ungarn daran, dass Polen, Ungarn und Venedig jahrhundertelang links, rechts und im Zentrum als Speerspitzen gegen die Türken zusammengestanden hätten. Jetzt sollten ebendiese Nationen (für »Venedig« lese man »die Italiener«) Schulter an Schulter gegen den neuen Feind aller stehen: gegen Russland.27 Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Cattaneo – zumindest rhetorisch – genau die drei Nationalitäten als Verbündete nannte, die von einer Neuordnung des europäischen Staatensystems den größten Gewinn gehabt hätten. Vor allem die Polen, deren Heimat zwischen den drei großen »Ost«-Mächten aufgeteilt worden war, hätten von einer solchen Erhebung ungemein profitiert. Dies spiegelte sich in der wahrhaft internationalen Sprache wider, der sich die polnische Demokratische Gesellschaft bediente, als sie am 28. März 1848 an die Franzosen appellierte, zu den Waffen zu greifen:
»Franzosen! Eure Revolution hat nicht die legitimen Resultate erzielt! An dem Tag, an dem Eure Republik verkündet wurde, glaubte Europa, frei zu sein … Das aber ist es nicht. … Weil es kein unabhängiges Polen gibt, fehlt dem Gebäude der europäischen Freiheit das Dach, und so bleibt es den Stürmen der absolutistischen Reaktion ausgesetzt. Die Brüderlichkeit der Völker ist noch immer eine leere Phrase … Franzosen! Ist es das, was Ihr wollt? … Ist es das egoistische ›Jeder für sich‹ des monarchistischen Nationalismus? Nein, nein, tausendmal nein! Eure Regierung selbst hat so gesprochen, als sie mit dem Zerreißen der Protokolle von Wien den Willen der Völker – und nicht den der Kabinette – zum Ausgangspunkt künftiger internationaler Beziehungen erklärte.«28
Nicht zum ersten Mal sahen sich die polnischen Demokraten als Stützpfeiler Europas gegen die Kräfte der Unterdrückung und Restauration.
Obwohl solche Appelle auf einer allgemeinen europäischen Rhetorik beruhten, waren sie nicht pazifistisch, denn jeder verstand, dass vor allem die Wiederherstellung Polens einen Krieg erfordern würde, noch dazu einen Krieg von europäischer Dimension. Letztlich jedoch wollten alle europäischen Nationalisten 1848 zuallererst ihre eigenen Träume von Freiheit, Unabhängigkeit und Größe verwirklichen. Folglich handelte es sich bei der kosmopolitischen Sprache vor allem um Rhetorik. Da sich die nationalen Ambitionen der Liberalen eines Landes ausnahmslos mit denen ihrer Nachbarn überschnitten, war das Gerede von Europa und von internationaler Brüderlichkeit allzu oft leeres Geschwätz. Vielmehr agierten die Liberalen innerhalb ihres eigenen nationalen Gefüges und im Grunde ihres eigenen nationalen Interesses. Das aber ist einer der Hauptgründe für das Scheitern der Revolution.29 So behauptet Axel Körner: »Trotz seines Idealismus gehörte Europa nicht zu den Prioritäten der Revolution«.30 Die Europäer zahlten wohl einen schrecklichen Preis dafür, dass sie diese Lehre von 1848 nicht beherzigten: Erst nach zwei mörderischen Weltkriegen und schmerzlichen ethnischen Konflikten der jüngsten Vergangenheit bildeten sich wirkliche politische und wirtschaftliche Strukturen für Europa heraus. Man kann nur hoffen, dass diese die friedliche Lösung künftiger nationaler Interessen gewährleisten, die miteinander in Konflikt geraten. Die Extreme des europäischen Nationalismus und die Konflikte, den diese in den eineinhalb Jahrhunderten seit 1848 hervorriefen, sind nach Reinhart Koselleck Grund genug, den gemeinsamen Erfahrungsschatz der Revolutionen des 19. Jahrhunderts nicht zu vergessen.31
In manchen Gegenden Europas blieben sie tatsächlich in lebhafter Erinnerung und bildeten eine Quelle der Inspiration für spätere Generationen. Die Sozialisten betrachteten die blutige Niederwerfung im Sommer jenes Jahres als das Martyrium der Arbeiterklasse, das nur zeigte, dass ihre Interessen – und die Demokratie selbst – von der besitzenden Bourgeoisie immer verraten werde. In Ostdeutschland eignete sich das kommunistische Regime das Erbe von 1848 als »ein unverzichtbares Element in der revolutionären Traditionslinie der Deutschen Demokratischen Republik« an und behauptete: »Die Errungenschaften des sozialistischen deutschen Staates wurzeln auch in den Kämpfen und Bestrebungen der revolutionären Massen von 1848.«32 Für andere wieder war 1848 eine Bestätigung der demokratischen Prinzipien. Nach der Schaffung der Weimarer Republik im Jahr 1918 machte sich der sozialdemokratische Kanzler Friedrich Ebert dafür stark, eine Anbindung an das liberale Erbe von 1848 herzustellen. Bei einer Feier in der Frankfurter Paulskirche, die 1923 zum Gedenken an den 75. Jahrestag der Eröffnung des ersten deutschen Parlaments gehalten wurde, sagte er vor riesigem Publikum, dass der 18. Mai 1848 der Tag sei, an dem das deutsche Volk dem Griff der reaktionären Regierungen entglitten sei und sein Schicksal in die eigene Hand genommen habe. Nachdem ebendiese Kirche im Zweiten Weltkrieg bombardiert worden war, wurde sie nach Kriegsende rechtzeitig zur Hundertjahrfeier als »Wiege der deutschen Demokratie« wiederaufgebaut.33 Auch den Ungarn blieben die Erinnerungen an 1848 lieb und teuer. Als linke Demonstranten am 15. März 1941 gegen den Eintritt des totalitären Regimes an der Seite Nazi-Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg protestierten, legten sie Blumenkränze vor den Statuen Kossuths und Petöfis nieder. Während nach dem Krieg die Kommunisten diese Gestalten als Helden aus ihren eigenen Reihen vereinnahmten, entwickelten sie sich zugleich zu Symbolen des Widerstands gegen den Totalitarismus. Im antikommunistischen Ungarnaufstand von 1956 sangen die Rebellen Petöfis patriotische Hymnen; den staatlichen Radiosender nannten sie nach der Besetzung Radio Kossuth.34
Letztlich wiesen die Revolutionen von 1989 in Mittel- und Osteuropa starke Anklänge an die 1848er-Revolutionen auf. Die Parallelen stimmen zwar nicht exakt überein, und das nicht zuletzt, weil die vielen Intellektuellen und Dissidenten, die den antikommunistischen Widerstand anführten, unerbittlich den Wunsch verfolgten, mit Europas revolutionärem Erbe zu brechen, anstatt es wieder aufleben zu lassen. Vor allem wollten sie, dass ihre Revolution eine »Anti-Revolution« sei, eine Ablehnung der, wie der Romancier György Konrád (der ausdrücklich 1789 mit 1917 in Verbindung brachte) es nannte, »jakobinisch-leninistischen« Tradition, die den Osteuropäern nach 1945 aufgezwungen worden war. 1984 hatte der tschechische Dramatiker Václav Havel erklärt: »Ich bevorzuge ›antipolitische Politik‹«35, womit er sagen wollte, dass die Opposition gegen den Kommunismus kein gewaltsames Ansichreißen von Macht sei, sondern eher eine Entwicklung, durch die der kulturelle Widerstand innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu höherer Bedeutung gelangt als der repressive Staat. Konrád ist der Meinung, dass der revolutionären Tradition eine Absage erteilt werde, indem einer zentralisierten politischen Autorität das genaue Gegenteil entgegengesetzt wird: »dezentralisierte geistige Autorität«.36
Wie dem auch sei, die Revolutionen von 1989 führten zum Zusammenbruch des Kommunismus – und Havel selbst übernahm bekanntlich als erster postkommunistischer Staatspräsident der Tschechoslowakei die Macht. Es war eine Sache, als Dissident von »Antipolitik« zu sprechen, doch das alte Regime wurde nun von einer neuen demokratischen Ordnung ersetzt, die des Engagements jener bedurfte, die so viel getan hatten, um sie schaffen. Aus diesem Grund waren die Revolutionen von 1989 letztlich nicht nur die Absage des Vermächtnisses von 1917 durch die Völker Ost- und Mitteleuropas. Sie waren (vielleicht ein wenig wider Willen) auch die Instrumente, durch die sich diese Völker wieder mit der Tradition der Französischen Revolution von 1789 – den Prinzipien von »Freiheit, Demokratie, bürgerlicher Gesellschaft, nationaler Identität« – vertraut machten.37 Am Vorabend des kommunistischen Zusammenbruchs merkte Timothy Garton Ash an: »Tschechen, Slowaken, Ungarn und Polen sind dabei, ihre Geschichte wiederzuentdecken. Aber sie sind auch dabei, neue Geschichte zu machen.«38 Die Aufstände von 1989 mögen die kommunistische Revolutionstradition verworfen haben, aber dadurch verbanden sie ihre Völker aufs Neue mit den liberalen Revolutionen von 1848.