So mancher Zeitzeuge der Ereignisse von 1848 erwachte am Neujahrsmorgen im Gefühl düsterer Vorahnungen. Krisen, die in den letzten zwei Jahren sporadisch aufgetreten waren, erreichten plötzlich einen Höhepunkt. Am 29. Januar erhob sich Alexis de Tocqueville in der Abgeordnetenkammer und warnte seine Kollegen davor, dass sich das Murren der französischen Massen früher oder später in einer Revolution entladen würde: »Ich glaube, daß wir zur Stunde auf einem Vulkane schlafen … Fühlen Sie nicht auch intuitiv …, daß der Boden Europas aufs neue erzittert? Merken Sie … den Revolutionssturm nicht, der in der Luft liegt?« Er forderte das Parlament auf, parlamentarische Reformen zuzulassen und den Ruf der Korruption und Unnachgiebigkeit abzuschütteln, der ihm, dem Parlament, den Verlust des öffentlichen Vertrauens beschere. Tocqueville war kein Panikmacher, doch seine Rede wurde von der Regierungsmehrheit, die die Dramatik seines Einwurfs ins Lächerliche zog, verspottet, die liberale Opposition dagegen beklatschte höflich den Angriff eines unerwarteten konservativen Verbündeten gegen das Ministerium. Selbst Tocquevilles Freunde glaubten, er hätte seine Schauspielerei übertrieben.1 Doch der große Historiker und Sozialtheoretiker sollte Recht behalten: Fast der ganze Kontinent stand vor dem revolutionären Abgrund.
I
Die erste gewaltsame Auseinandersetzung des Jahres 1848 ging einher mit der vielleicht ersten konzertierten Anti-Raucher-Kampagne der Moderne in Mailand. Dort hatten sich die jungen Adeligen von Mailand im Jockey Club versammelt. Schon lange waren ihnen die wenigen Aufstiegsmöglichkeiten, die das deutschsprachige Regime ihnen bot, ein Dorn im Auge. Dazu noch von den liberalen Tönen aus dem Vatikan ermutigt, wollten sie die Österreicher dort treffen, wo es am meisten weh tat: am Staatssäckel. Da die italienischen Provinzen zu den lukrativsten Steuerquellen Österreichs gehörten, organisierten die italienischen Adeligen, angeregt vom Beispiel der Boston Tea Party des Jahres 1773, einen Boykott von Tabak, dessen Besteuerung die Wiener Staatskasse einen beträchtlichen Teil ihrer Einkünfte verdankte. Die Notabeln wussten zudem, dass das Steuerwesen unter den einfacheren lombardischen Bürgern eine Quelle des Unmuts darstellte, und so hatten sie keine Probleme, breite Unterstützung zu finden. Am Neujahrstag gaben die Mailänder das Rauchen auf. In Reaktion darauf fing die österreichische Besatzung, ermutigt von ihren Offizieren, mit Genuss das Rauchen an. Spätestens seit dem vergangenen Herbst waren die Beziehungen zwischen den Italienern und Österreichern angespannt, sodass das Temperament – sicherlich waren sie durch den Nikotinentzug gereizt – fast schon zwangsläufig mit ihnen durchging. Am 3. Januar schlug ein Mailänder, provoziert durch einen österreichischen Offizier, der demonstrativ eine Zigarre paffte, ihm diese von den Lippen. Es folgte ein Handgemenge, bei dem ein paar Bürger von Soldaten zusammengeschlagen wurden. Daraufhin versammelte sich eine Menschenmenge und rächte sich mit einem Angriff auf die Truppe. Die Garnison rückte in großer Zahl aus und schlug den »Zigarrenstreik« nieder, indem sie sechs Bürger tötete und fünfzig verwundete.2 Der Oberbefehlshaber über die österreichischen Truppen in Italien, Feldmarschall Joseph Radetzky, ermahnte Metternich, ihm Verstärkung zukommen zu lassen, um weitere Gewaltausbrüche in Grenzen zu halten, wurde jedoch nicht gehört.
Genau genommen wollten die Mailänder Notabeln keine Revolution provozieren, ihre Ziele waren prosaischer: Ein Mailänder Adeliger erklärte Metternich, dass sich die lombardischen Eliten vor allem bessere Zugangsmöglichkeiten zu den höheren Staatsämtern, die normalerweise den Österreichern vorbehalten waren, wünschten. Im benachbarten Venetien versuchten Daniele Manin und Nicolò Tommaseo die lotta legale weiterzuverfolgen und überreichten der Zentralkongregation der österreichischen Provinzen Petitionen für eine politische Reform, doch die österreichische Obrigkeit warf am 18. Januar beide Männer ins Gefängnis.
Der Zigarrenstreik und die Arretierung zweier beliebter venezianischer Wortführer erweckten viel Aufsehen und verschafften den Liberalen Zulauf. Inzwischen waren die Österreicher sicher, es mit Venedig und Mailand aufnehmen zu können. Am 16. Januar versicherte der unbeugsame, über achtzigjährige Radetzky seinen Männern, dass der italienische Liberalismus (»die Maschinerie des Fanatismus«) an ihrer Tapferkeit »wie Glas an einem Felsen« zerspringen werde.3 Die festgefahrenen Positionen beider Seiten führten dazu, dass Norditalien sich im »Stadium eines unerklärten Krieges« befand.4 Die Explosion sollte, als es soweit war, weitaus mehr nach sich ziehen als die begrenzten Reformen, die ursprünglich von der liberalen Führungsriege gefordert wurden.
Die Fronten im Norden hatten sich zum Teil in Reaktion auf Entwicklungen im Süden verschärft, wo in Sizilien die erste ausgewachsene Revolution des Jahres stattfand. Die erbittert nach Unabhängigkeit strebenden Insulaner waren schon seit Langem davon überzeugt, dass die autokratische bourbonische Monarchie in Neapel absichtlich ihre Interessen überging. Dieser Eindruck wurde noch durch das Unvermögen des Staates verstärkt, auf die extreme Armut, die sich in einem fürchterlichen Winter verfestigt hatte, einzugehen. Am 12. Januar »feierte« eine Menschenmenge in Palermo den Geburtstag des neapolitanischen Königs Ferdinand II., indem sie quer über die Straßen Barrikaden baute, die italienische Trikolore entfaltete und »Lang lebe Italien, die sizilianische Verfassung und Pius IX.!« rief. Zwielichtige Gestalten mit weniger hehren Motiven schlossen sich an. Kriminelle Kleinbauern aus der verarmten ländlichen Umgebung und Squadristen, Vorläufer der Mafia, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, von glücklosen Dorfbewohnern Schutzgelder zu erpressen, schlichen sich in die Innenstadt. Sie waren bis an die Zähne mit selbst gefertigten Gewehren, Fanghaken und Äxten aller Art bewaffnet und dabei, die neapolitanische Besatzung im Straßenkampf einzuschüchtern. Die Regierungstruppen bombardierten Palermo von der finsteren Bourbonen-Festung Castellamare aus, während Kanoniere ihre tödlichen Kartätschenladungen in die Menge vor dem Königspalast und der Kathedrale schleuderten, bevor die Aufständischen sie überwältigten. Das Hauptquartier der Polizei wurde gestürmt und alle Berichte wurden verbrannt. Etwa sechsunddreißig Menschen fanden den Tod, bevor sich die Armee aus der Stadt zurückzog. Als sich Bauern der Revolution anschlossen und in den Gemeindehäusern die Steuerakten und Grundbuchkataster in Brand steckten, stand innerhalb weniger Tage das sizilianische Hinterland buchstäblich in Flammen. Schließlich blieben als Einzige die königlichen Soldaten auf der Insel zurück, die in der Zitadelle von Messina belagert wurden. Unter dem Vorsitz des liberalen Fürsten Ruggero Settimo, Principe di Fitalìa, der ein Veteran des 1812 nach englischem Vorbild geschaffenen Parlaments war und an der Revolution von 1820 teilgenommen hatte, übernahm in Palermo ein Generalkomitee die Zuständigkeiten einer provisorischen Regierung. Es setzte sich sowohl aus gemäßigten Liberalen als auch aus radikaleren Demokraten zusammen, die zumindest vorübergehend zusammenarbeiten wollten, um das Leben der Menschen und den Besitz vor den marodierenden Bauern und den Armen aus den Städten zu schützen. Auch sahen sie sich mit der schwersten Aufgabe überhaupt konfrontiert: der Durchsetzung einer Herrschaft nach Recht und Gesetz dort, wo die Squadristen das Sagen hatten. Die revolutionäre Führungsspitze verlangte Wahlen zum sizilianischen Parlament, dem es seit der Vereinigung Siziliens mit Neapel im Jahr 1816 nicht mehr erlaubt worden war, zusammenzutreten.5
Als via Dampfboot die Nachrichten von der sizilianischen Revolution Neapel erreichten, ging dort die Bevölkerung auf die Straße. Inzwischen hatte König Ferdinand etwa 5000 Soldaten auf Dampfbooten in Richtung Sizilien eingeschifft, um den Aufstand niederzuschlagen, wodurch er das Festland gerade in dem Moment von Truppen entblößte, in dem die Revolution dorthin übergriff. Die Menge vergrößerte sich erheblich durch die berüchtigten lazzaroni, jene bitterarmen Massen aus den Elendsvierteln, die laut Herzen, der im Februar in der Stadt ankam, »verwilderte Züge … die niederträchtigen Manieren des neapolitanischen Pöbels« zeigten; sie seien eine Mischung aller Sklaven, die untere Schicht aller Verlorenen, das Relikt von zehn Nationen, vermischt und degeneriert.6 Normalerweise wurden sie durch staatliche Almosen in einem Zustand relativer Ruhe gehalten, doch die katastrophale wirtschaftliche Situation hatte sie äußerst hart getroffen, und – dieses Muster sollte sich in den kommenden Monaten andernorts wiederholen – die Regierung sich als unfähig erwiesen, ihnen aus den Tiefen ihres Elends herauszuhelfen. So wendeten sich die Lazzaroni gegen die Obrigkeit, und mittlerweile taten das auch die Bauern des Cilento gegen ihre Grundherren. Dieses – dazu das Gerücht, Zehntausende von ihnen würden auf die Stadt zumarschieren – weckte bei der verständnislosen Stadtbevölkerung die Angst vor einem Landpöbel mit schwingender Sense und reichte, um die neapolitanischen Adeligen und Großbürger zu Forderungen nach politischer Veränderung zu bewegen, durch die der Krise begegnet werden sollte. Auch der Hof selbst verfiel in Panik, und Ferdinand, der erkennen musste, dass seine Soldaten bestenfalls widerwillig kämpften, holte den liberalen Führer Carlo Poerio aus dem Gefängnis. Dadurch bekamen die Liberalen eine Leitfigur. Am 27. Januar organisierten sie auf der großen Piazza vor dem Königspalast eine Demonstration mit 25 000 Teilnehmern. Als die Kavallerie ausritt, um sie zu vertreiben, strömte die Menge auf die Reiter zu und überredete sie abzuziehen; der Kommandant bot sogar an, König Ferdinand eine Petition zu übergeben.7 Aus Angst, sein Königreich zu verlieren, versprach Ferdinand eine Verfassung, die am 10. Februar veröffentlicht wurde und zu großen Teilen auf der französischen Charte von 1814 basierte, also weit entfernt war vom allgemeinen Wahlrecht. Die Sizilianer blieben unversöhnlich, forderten sie doch die Wiedereinsetzung der Verfassung von 1812 sowie eine politische Selbstständigkeit, die sie mit Neapel allenfalls dynastisch verband. Neapolitanische Liberale allerdings hofften, Neapel würde sich am Ende dem unaufhaltsamen Strom anschließen, der in die italienische Einigung münden würde. Luigi Settembrini, einst Republikaner, jetzt gemäßigter Liberaler, kehrte am 7. Februar aus seinem Exil auf Malta in die Stadt zurück und fand einen unter lauter italienischen Trikoloren erblühten Hafen vor.8
Der Zusammenbruch der absoluten Monarchie im Süden strahlte über den bergigen Rücken Italiens nach Norden aus. Im Kirchenstaat verstärkte sich der öffentliche Druck auf Papst Pius IX., der jetzt das Tempo der Reform reduzieren wollte. Mit einem Gebetstag für den Frieden im Königreich beider Sizilien löste er lediglich eine nächtliche Demonstration auf dem Corso aus. Die Prachtstraße loderte geradezu im Fackelschein, als die Römer jubelten: »Viva Pio Nono«, dann jedoch hinzufügten: »e la costituzione e la libertà!« Die Zivilgarde, 1847 als Zugeständnis an die Liberalen ins Leben gerufen, riss provokativ die weiß-gelben päpstlichen Kokarden von ihren Hüten und steckte sich stattdessen die dreifarbigen an. Wenige Tage später sorgte das Gerücht, die Österreicher wollten mithilfe einer Armee die Ordnung in Italien wiederherstellen, für eine weitere große Protestaktion, die die Piazza del Popolo füllte. Diesmal verlangten die Demonstranten vom Papst die Aufstellung einer Armee zur Verteidigung der Grenzen. Dem belgischen Botschafter zufolge waren auch die Rufe »Tod den Kardinälen! Tod den Priestern!« zu hören. Der so zur Einsicht gebrachte Papst, der jedoch kaum Zwangsmittel zur Verfügung hatte, versprach, eine neue Regierung zu berufen, in der Laien wie Geistliche als Minister vertreten sein würden. Dennoch, schloss der belgische Diplomat am 12. Februar, werde »die Partei des Fortschritts, nun Herr des Geschehens, sich mitten in einer solch günstigen Entwicklung nicht selbst Einhalt gebieten, und ihr letztes Wort … ist eine Verfassung«.9
Etwa einen Monat bevor die Römer diese am 14. März von ihrem Papst erhielten, rettete weiter im Norden Leopold von Toskana seinen großherzoglichen Thron, indem er am 11. Februar eine Verfassung garantierte. Drei Tage zuvor hatte König Karl Albert von Sardinien-Piemont ebenfalls eine versprochen, der er am 4. März endgültig zustimmte. Für die italienische Politik kam dies einem Erdbeben gleich, denn die mächtigste Monarchie des Landes, das Haus Savoyen, hatte seine uralte absolutistische Tradition aufgegeben. Für die weitere Entwicklung Italiens würde dies schwer ins Gewicht fallen. Der Verkündung folgte eine farbenprächtige Reaktion der Turiner: Patriotische Frauen in schwarzen Reitkleidern schoben ihre Röcke hoch, unter denen sie rot-weiß-grüne Unterröcke enthüllten. Die Kirchenglocken läuteten dermaßen überschwänglich, dass die Bauern der Umgebung zu den Waffen griffen, glaubten sie doch, das Läuten sei Warnung vor einer österreichischen Invasion.10 Die Herzöge von Modena und Parma gaben vorerst nicht nach, allerdings nur weil sie unter dem Schutz der österreichischen Truppen standen, während die Lombardei und Venetien unentschieden waren. Es bedurfte größerer europäischer Ereignisse, bevor diese beiden Provinzen davon betroffen waren – und als das der Fall war, bekamen die Italiener endlich die lange ersehnte Möglichkeit, um die italienische Einheit zu kämpfen.
II
Das erste dieser europäischen Ereignisse war die Revolution in Paris, wo die Republikaner und die Opposition um politische Reformen kämpften. Im Parlament kamen sie aufgrund einer unnachgiebigen Regierung nicht weiter, mithilfe der Bankett-Kampagne hielten sie jedoch den Druck aufrecht. Eine dieser Zusammenkünfte geriet zum unerwarteten Funken für die Revolution in Frankreich und entzündete dabei auch die Explosionen, die Europa erschütterten. Das Bankett sollte im 12. Arrondissement von Paris abgehalten werden, das damals die Gegend um das Panthéon sowie eine der Hochburgen des Pariser Republikanismus umfasste und dessen radikale Tradition bis in die Tage der 1789er-Revolution zurückreichten. Diese Ortswahl weckte bei den Gemäßigten die Befürchtung, das Bankett könne Gelegenheit zu einer lautstarken Demonstration bieten. Aus diesem Grund hatte der Führer der dynastischen Opposition, Odilon Barrot, dem es zwar nicht an Mut mangelte, der aber politisch vorsichtig war, das Bankett für den 22. Februar auf den eleganten Champs-Elysées angesetzt, was die Republikaner dazu veranlasste, an jenem Tag zu einem Protestmarsch aufzurufen. Die Gemäßigten reagierten mit der kompletten Absetzung der Veranstaltung, was auf einem hastig für den Abend des 21. Februar angesetzten Treffen aller oppositionellen Abgeordneten und Journalisten in Barrots Haus beschlossen wurde. Selbst Armand Marrast, Herausgeber der republikanischen National, war einverstanden; alle schreckten vor einem Zusammenstoß mit der Obrigkeit und vor den radikalen Kräften zurück, die ein solch gewaltsames Vorgehen entfesseln konnte. Doch es war zu spät: Marrasts eigenes Blatt hatte den Protestmarsch angekündigt, und die radikalen Republikaner bestanden nun darauf, dass er stattfand. In derselben Nacht willigten die Radikalen auf einer Krisensitzung der Republikaner des linken Réforme-Flügels ein, dass der Protestzug zwar wie geplant abgehalten, beim ersten Anzeichen einer Machtdemonstration seitens der Staatsmacht aber aufgelöst werden solle, denn selbst sie wollten eine unkontrollierbare, unberechenbare Kollision mit der Regierung unbedingt vermeiden. Niemand sah eine Revolution voraus.11
Am nächsten Morgen erwachte Paris unter einem grauen, regenschweren Himmel, Windböen fegten Sprühregen über die Straßen, trotzdem fanden sich um 9 Uhr eine Menge Demonstranten – arbeitslose Arbeiter, Frauen und Kinder – am Ausgangspunkt der Demonstration, der Place de la Madeleine, ein. Die Obrigkeit hatte die Nationalgarde aufgeboten, doch die Ankunft von rund siebenhundert Studenten, die den Fluss mit der »Marseillaise« auf den Lippen überquert hatten, stärkte der Menge den Rücken. Laut Marie d’Agoult, Schriftsteller und Aktivist des linken Flügels, lud sich die Atmosphäre auf.12 Durch die Verstärkung ermutigt, drängte die Menge über die Place de la Concorde zur Deputiertenkammer, um Reformen einzufordern, musste aber erleben, wie sie von der Nationalgarde und den Dragonern zurückgedrängt wurde. Bei dem Kampf, der an diesem Nachmittag auf der Place de la Concorde vor- und zurückwogte, war es die Munizipalgarde, die die Enttäuschung der Leute am meisten zu spüren bekam:
»Dieses Elitekorps [erklärte Marie d’Agoult], das sich aus erfahrenen Männern zusammensetzte, die der Regierung dank eines hohen Solds treu ergeben waren, weckten wegen ihren Privilegien den Neid der Linientruppen und wurden wegen ihren Polizeifunktionen von den Menschen gehasst. Sie waren äußerst diszipliniert und führten ihre Befehle mit Härte aus. Ihre häufigen Zusammenstöße mit der Pariser Bevölkerung führten zu Feindseligkeiten, die sich unter Umständen wie diesem nur verschlimmern konnten.«13
Die Gewalt explodierte, als die Menge Steine gegen die Gardisten schleuderte, die sich daraufhin mit gezückten Säbeln den Weg durch den Tumult erzwangen und dabei Leute umstießen. Eines der Opfer, eine alte Frau, starb, als ihr Kopf auf das Pflaster prallte. Das erste Blut war vergossen, und jetzt brachen überall in der Stadt Kämpfe aus: in der Rue des Capucines vor Guizots Residenz im Außenministerium, auf den Champs-Elysées, auf der Place de la Bastille und bei der Börse. Zunächst hatten sich die Aufständischen mit Eisengittern bewaffnet, die sie aus Zäunen gerissen hatten, anschließend mit erbeuteten Waffen aus einem Waffengeschäft.14 Die Soldaten schafften es, die öffentlichen Gebäude zu schützen, doch die Leute zogen sich einfach in die labyrinthartigen Straßen der Handwerkerviertel zurück.
Während sich Paris im Aufruhr befand, sah sich Guizot mit Barrots Forderung nach Amtsenthebung wegen Korruption und Verrat an der Verfassung konfrontiert. Doch angesichts des Schreckgespensts einer Revolution, das jetzt über ihnen schwebte, waren die wenigsten oppositionellen Abgeordneten in der Stimmung, die Obrigkeit zu schwächen, und so standen unter dem Antrag nur dreiundfünfzig Unterschriften. Guizot erlaubte sich, die Anklagepunkte mit einem herablassenden Lächeln anzuhören.15 Hinzu kam, dass die Republikaner selbst nicht recht wussten, was zu tun sei, war es doch unerwartet und spontan zum Ausbruch der Kämpfe gekommen. Am Abend trafen sich die Journalisten von La Réforme diskret im Schatten der Arkaden des Palais Royale, konnten sich aber nicht auf eine Vorgehensweise einigen. Manche Republikaner wollten lieber abwarten, andere kehrten in ihre Stadtviertel zurück, um die revolutionären Geheimgesellschaften zu mobilisieren und sich den Aufstand zunutze zu machen.
Über Nacht wuchsen in den engen Straßen des Pariser Zentrums und des Ostens Barrikaden in die Höhe. Allein schon durch ihre Überzahl hätten die Ordnungskräfte weiterhin die Herrschaft über die Stadt behaupten können: Sie bestanden aus etwa 31 000 regulären Soldaten, 3000 Munizipal- und 85 000 Nationalgardisten aus Paris und den Vorstädten. Sie konnten allerdings nur auf Befehl des Polizeipräfekten hin handeln – und der königliche Rat empfahl aus Angst vor einer breit gestreuten Gegenreaktion klugerweise Besonnenheit.16 Was die Nationalgarde betrifft, so war sie eine Bürgermiliz, die sich aus Steuerzahlern zusammensetzte – eine bürgerliche Macht, von der Louis-Philippe dachte, dass er sich auf sie verlassen könne. Doch selbst die, die aus den westlichen Stadtteilen kamen, scheuten davor zurück, ein unpopuläres Ministerium zu verteidigen und bei der äußerst unangenehmen Aufgabe, die Aufständischen niederzukämpfen, Hilfe zu leisten. So mancher, der dem Aufruf gefolgt war, wurde umhergetrieben und dann durch eine Arbeitermenge abgeworben. Andere, vor allem die Angehörigen der radikalen Zwölften Legion, die das Bankett beim Panthéon zu besuchen vorgehabt hatten, beantworteten den Aufruf zur Bewaffnung mit dem herausfordernden Ruf »Vive la réforme!«. Die Nationalgarde trat daher nur in sehr kleinen Gruppen an und ließ die Munizipalgarde im Kampf um die Herrschaft über die Straßen fast allein. Die Aufständischen schnitten deren Wachposten, sofern sie abseitsstanden, von den anderen ab, griffen sie an und entwaffneten sie, während sich ihre Kameraden den regulären Truppen anschlossen. Die verbrachten eine schlimme Nacht bei Lagerfeuer und Regen.17
Am nächsten Tag spielten die Nationalgardisten bei der Schlichtung zwischen Aufständischen und Munizipalgardisten eine Schlüsselrolle. So verteidigte zum Beispiel eine Abteilung der Letzteren an einer Kreuzung der Rue Bourg l’Abbé das Waffengeschäft der Gebrüder Lepage, das sich mit seinen vielen Musketen als wahres Wespennest herausstellte: Am Nachmittag des 23. Februar wurde eine Straßenecke so unter Beschuss genommen, bis nur noch ein Haufen Bauschutt übrig war. Der Kampf endete erst, als ein Kommando der Nationalgarde einschritt und die beiden Seiten trennte, wobei es Étienne Arago, einem der Gründer der La Réforme, gelang, für die Munizipalgarde eine Kapitulation auszuhandeln.18
Da seine militärische Position schwächer war, als von ihm erwartet, entschloss sich Louis-Philippe, der sich bisher hartnäckig gegen Zugeständnisse verwahrt hatte, widerwillig dazu, seinen verhassten ersten Minister zu opfern. Am frühen Nachmittag des 23. Februar wurde Guizot in den Tuilerienpalast gerufen, wo ihm der König enttäuscht die Entlassung überbrachte. Als Guizot ins Parlament zurückkehrte, schien sein Atem laut d’Agoult »von einem inneren Gewicht erstickt« zu werden,19 doch er warf den Kopf in den Nacken, als hätte er, so Tocqueville, Angst, ihn hängen zu lassen. Die Opposition quittierte seine Entlassung so frenetisch, dass Guizot übertönt wurde, während er von regierungsnahen Abgeordneten, für die sein Fall den Verlust von Schutz, Stellung und Macht bedeutete, belagert wurde wie von einer Hundemeute, der man die Beute entrissen hatte: – so mit Bitterkeit Tocqueville.20 Die Führer der dynastischen Opposition, Barrot und Adolphe Thiers, gratulierten sich dazu, einen – wie sie glaubten – Ministerwechsel ohne Sturz der Monarchie erzwungen zu haben.
Für ein paar Stunden schien diese Vorstellung nicht unbegründet. Als Nationalgardisten und Abgeordnete von Barrikade zu Barrikade liefen und die Neuigkeit von Guizots Entlassung verbreiteten, wurde allmählich das Feuer eingestellt und die Menge begann zu feiern. Die Schicksalswaage der Regierung war aber noch nicht endgültig ausbalanciert. Der König hatte der Menge seinen Minister geopfert, doch die eigentliche politische und soziale Spannung blieb davon unberührt. Die Republikaner spürten, dass sie vielleicht mehr als nur den Sturz eines Ministers erreichen konnten. Sie redeten weiter auf die Handwerker und Nationalgardisten ein, die nicht so recht wussten, ob es an der Zeit war, die Barrikaden abzubauen. Wie so oft in solch prekären Momenten der Geschichte senkte ein Zufall die Waagschale gegen die Regierung. Während noch am Abend des 23. Februars bunte Lichtergirlanden die Boulevards schmückten, auf denen sich Trikolore schwingende Pariser versammelten hatten, um Guizots Entlassung zu feiern, traf dort um 21 Uhr 30 eine geordnete Phalanx von sechs- bis siebenhundert Arbeitern aus den radikalen östlichen Stadtteilen auf diese fröhliche Gesellschaft. Mit patriotischen Liedern schlossen sich die Feiernden dem Zug an. Nach François Pannier-Lafontaine, einem ehemaligen Armee-Zahlmeister, der in vorderster Reihe marschierte, schrien die Leute »Vive la Réforme! A bas Guizot!«, ohne aber die Stimme gegen den König zu erheben. Vor dem Büro des Le National blieben sie stehen, um Marrast zuzuhören, der die Menschen drängte, Reformen und die Amtsenthebung weiterer Minister einzufordern, doch davon, die Monarchie abzuschaffen, war nicht die Rede. Dennoch lag ein Zusammenstoß in der Luft, denn weiter den Boulevard hinunter hörten etwa zweihundert Männer des 14. Regiments, die Guizots Unterkunft im Außenministerium bewachten, die Gesänge und sahen, als die stark angewachsene Menschenmenge die Rue de Capucines erreichte, durch die Rauchschwaden den Schein von Fackeln. Aus reiner Vorsicht befahl der Kommandeur seinen Männern, den Boulevard abzuriegeln. Die Demonstranten kamen zum Stillstand, wobei sie sich gegen die Soldaten drängten. Offensichtlich in der Absicht sie ein wenig zurückzudrängen, gab der Offizier den Befehl »Präsentiert das Gewehr!«. Als die Truppe den Befehl ausführte, platzte ein mysteriöser Schuss durch die Nachtluft. Reflexartig feuerten die Soldaten daraufhin eine Salve ab. Die Kugeln töteten und verwundeten etwa fünfzig Menschen. Pannier-Lafontaine wurde niedergeschlagen und lag unter einem der Gefallenen begraben, während einer seiner Kameraden verwundet wurde. Panik machte sich breit, die Menschen flohen in alle Richtungen und suchten Schutz vor einer weiteren Salve, die aber nie erfolgte.21
Die Nachricht über das Gemetzel kursierte nun in der Stadt: Für die Pariser konnte das nur bedeuten, dass die Obrigkeit ihre Macht mit bloßer Gewalt wiederherzustellen versuchte. Nach Mitternacht wurden die Menschen, die sich verängstigt hinter geschlossenen Läden zusammenkauerten, von einem Schauspiel nach draußen gelockt, das, wie d’Agoult schrieb, eines Dante’schen Infernos ebenbürtig war: Pferd und Wagen, gezogen von einem muskulösen, nacktarmigen Arbeiter, transportierten fünf leblose Körper, darunter »die Leiche einer jungen Frau, deren Hals und Brust von einer langen, breiten Blutspur befleckt waren«. Die Szene wurde von den flackernden, rötlichen Lichtreflexen einer Fackel erleuchtet, die hochgehalten wurde von »einem Kind jener Leute, mit blasser Hautfarbe und brennenden Augen, die starrten …, als würde man den Racheengel vor sich sehen«. Hinter dem Karren schüttelte ein anderer Arbeiter seine Funken sprühende Fackel und »ließ einen grimmigen Blick über die Menge wandern: ›Rache! Rache! Sie schlachten unsere Leute ab!«. Erneut angestachelt, bereiteten sich die Aufständischen auf einen weiteren Kampf vor und eilten zurück zu den Barrikaden. »In diesem Augenblick«, so hielt d’Agoult fest, »besaß die Leiche einer Frau mehr Macht als die tapferste Armee der Welt.«22
Als Louis-Philippe von dem Massaker erfuhr, war er zu einem weiteren Opfer bereit, und rief Thiers und Barrot dazu auf, eine neue Regierung zu bilden, wohl wissend, dass dies nichts weiter war als ein Tropfen auf den heißen Stein. Zugleich zeigte er jedoch seine gepanzerte Faust, indem er Marschall Thomas Robert Bugeaud das Kommando über alle Truppen in Paris übertrug. Bugeaud war ein Veteran der gerade ausgefochtenen Kolonialkriege in Algerien und stand in dem üblen Ruf des »Schlächters« der Rue Transnonain. Thiers und Barrot verkündeten ihr neues Ministerium in der Hoffnung, der Regierungswechsel werde ausreichen, um die Pariser zur Einstellung des Feuers zu überreden. Mutig ritt Barrot von einer Befestigung zur nächsten, bat die Aufständischen, sich zurückzuhalten, wurde aber durch höhnische Rufe wie »Wir wollen keine Feiglinge! Keinen Thiers mehr! Keinen Barrot! Das Volk regiert!« zum Verstummen gebracht. Die Pariser hatten zu viele Opfer gebracht, um es zu einer Wiederholung von 1830 kommen zu lassen, jetzt stahlen sich die Journalisten der La Réforme von Barrikade zu Barrikade und sprachen das Zauberwort »République« aus.
In den frühen Stunden des 24. Februar sendete der entfesselte Bugeaud seine Soldaten und schickte vier große Truppenkolonnen durch die Stadt, die versuchen sollten, die Barrikaden wegzuräumen. Der König, dem klar war, dass weiteres Blutvergießen die Lage völlig aussichtslos machen würde, hatte allerdings die diensthabenden Offiziere angewiesen, nicht gleich auf die Aufständischen zu schießen, sondern erst zu verhandeln. Infolgedessen kam es überall in der Stadt zu Pattsituationen, die nicht weiterführten. Der Mangel an Entschiedenheit an der obersten Spitze zeigte, dass das Selbstvertrauen der Regierung ins Wanken geraten war. Bis zum Vormittag sollte selbst Bugeaud seine Strategie infrage stellen, und auch seine Offiziere sahen ein, dass ein Sieg über die Barrikaden nicht ohne Blutbad vonstattengehen würde. Die Nationalgardisten hatten sich entweder den Aufständischen angeschlossen oder wollten nicht gegen sie kämpfen, viele Barrikaden wurden belagert. Zudem hatten die Revolutionäre es geschafft, einen Konvoi mit Munition aus dem Arsenal in Vincennes in ihre Gewalt zu bringen. Der Marschall befahl deshalb den Truppen, sich der besseren Verteidigung des Königspalastes wegen in die Tuilerien zurückzuziehen. Tocqueville wurde Zeuge des schmählichen Rückzugs einer Infanteriekolonne, die unter dem Kommando von General Alphonse Bedeau stand: Er glich »einer Flucht. Die Reihen waren aufgelöst, die Soldaten marschierten in Unordnung, mit gesenktem Kopf und verlegenen und furchtsamen Mienen. Sobald einer von ihnen sich einmal aus der Masse löste, wurde er sofort umringt, gepackt, umarmt, entwaffnet und fortgeschickt; das alles geschah in einem Augenblick..23 Weiter östlich davon wurde das Hôtel de Ville, Sitz der Stadtregierung, von Nationalgardisten eingenommen, die sich mit den Revolutionären zusammengetan hatten. Westlich davon entging Tocqueville, der auf der Place de la Concorde von einer Gruppe Aufständischer erwischt worden war, den Prügeln oder noch Schlimmerem, in dem er gerade rechtzeitig ausrufen konnte: »›Es lebe die Reform! Wissen Sie, daß das Ministerium Guizot gestürzt ist?‹ – ›Jawohl, mein Herr, ich weiß es‹«, antwortete spöttisch ein kleiner, stämmiger Arbeiter, indem er auf die Tuilerien zeigte, ›aber wir wollen mehr als das‹.«24 Sowohl das Massaker von der Rue de Capucines als auch der Rückzug von Bedeaus Kolonne waren Symbole für den schrittweisen Verlust an Legitimation und Macht, den die Julimonarchie erlitt.25
Als die Revolutionäre sich dem Palast näherten, drängte Thiers den König, sich aus der Stadt zu entfernen, weitere reguläre Truppen aufzubieten und die Revolution mit Kraft von außen zu zerschlagen. Sehr viel später sollte Thiers diese Strategie gegen die Pariser Kommune von 1871 anwenden. 1848 jedoch wurde er von seinen entsetzten Kollegen, darunter Barrot, in die Schranken verwiesen, und Thiers, der noch keinen ganzen Tag im Amt war, gab nach und schlich sich aus dem Palast. Später wurde er von einer bedrohlich wirkenden Menschenmenge entdeckt und konnte sich nur durch einen Sprung in einen Einspänner retten, der ihn in Sicherheit brachte; während der ganzen Fahrt »gestikulierte, schluchzte und stieß [er] unzusammenhängende Worte aus«.26 Vor dem Palast, auf der Place du Carrousel, war der königliche Gelehrte und Diplomat Adolphe de Circourt mit einem Bataillon der Nationalgarde aufgezogen – einer jener fünf Einheiten (aus den reicheren, konservativeren westlichen Stadtteilen), die das Regime noch verteidigten. Louis-Philippe ritt an der Spitze dieser loyalen Truppen hinaus, wirkte auf Circourt aber »bleich und wie zu Stein erstarrt«. Nur wenige Hundert Meter entfernt tobte der Straßenkampf, »ein Gewitter aus Gebrüll und Sturmgetöse … Man hatte das vage Gefühl, dass hinter den ersten Einheiten, die sich ein Gefecht lieferten, eine unermessliche Menschenmenge dräute, die weder von einer moralischen noch von einer geistigen Macht länger aufgehalten oder zum Umkehren gebracht werden konnte.«27
Der vorerst letzte Widerstand erhob sich beim Château d’Eau, das eine der Hauptzufahrtsstraßen zu den Tuilerien bewachte. Das zweistöckige Wachhaus mit vergitterten Fenstern gleich bei der Brunnenanlage, von der es seinen Namen hatte, wurde von mehreren Hundert Männern des jetzt verhassten 14. Regiments und zehn Munizipalgardisten verteidigt. In dem erbitterten Kampf, lebhaft von Gustave Flaubert geschildert, schwirrte es von Kugeln, die Luft wurde von den Schreien der Verwundeten und den Trommelwirbeln zerrissen.28 Weil das Mauerwerk des Brunnens durch das Gemetzel der Musketen schwer beschädigt wurde, strömte nun das Wasser über den Platz, um sich mit dem Blut der Gefallenen und Verwundeten zu mischen. Daraufhin trafen die Aufständischen die schreckliche Entscheidung, den mörderischen Kampf zu beenden, indem sie Fuhrwerke, beladen mit brennendem Stroh und Petroleum, in das Wachhaus fahren ließen. Als dieses brannte, öffnete ein Offizier, der wegen des Feuers am Ersticken war, die Tür, um zu fliehen – und wurde erschossen. Seine Männer drängten hinter ihm hinaus und warfen die Waffen zu Boden, um verzweifelt ihre Kapitulation anzuzeigen. Die siegreichen Angreifer stürmten indessen vorwärts und bemühten sich, das Feuer zu löschen, wobei sie über geschwärzte Leichen und verkohlten Schutt stolperten.29 Unter den Verwundeten der revolutionären Seite befand sich der Schneider Buacher, der von mehreren Musketenkugeln getroffen worden war. Sein zerschmetterter Arm wurde später amputiert, und seine Unterschrift unter dem im Archiv aufbewahrten Testament weist das typische Zittern einer Schrift auf, die mit der falschen Hand geschrieben wurde.30
Während das Château d’Eau brannte, sackte der König unter den Augen seiner hilflosen Höflinge auf einem Stuhl in seinem Arbeitszimmer zusammen. Die Politiker erteilten ihm widersprüchliche Ratschläge, und es war der gerissene Zeitungsmann Émile Girardin, Herausgeber der La Presse, der am Mittag vortrat und Louis-Philippe barsch drängte: »Dankt ab, Sire!« Als man ihm sagte, dass eine weitere Verteidigung unmöglich sei, setzte sich der erschöpfte König an Napoleons alten Ahornschreibtisch und trat formal seinen Thron ab, den er nun seinem Enkel, dem zehnjährigen Grafen von Paris, überließ, wobei die Mutter des Jungen, Hélène, Herzogin von Orléans, als Prinzregentin fungierte. Gekleidet (wie er es so gern tat) in eine einfache bürgerliche Aufmachung, schritt Louis-Philippe mit seiner Gemahlin Marie-Amélie zügig durch die Gärten der Tuilerien. Dort bestiegen beide eine Kutsche, die schon auf der Place de la Concorde wartete, von wo aus sie abreisten, von königstreuen Kavalleristen eskortiert. Am 26. Februar erreichten sie Honfleur, wo ihnen der britische Vizekonsul (ob aus Fantasielosigkeit oder Sarkasmus) den Decknamen »Mr und Mrs Smith« gab. Am 3. März landeten sie in England, wo Louis-Philippe im August 1850 verstarb.31
Die letzten Stunden der Julimonarchie: Die Kämpfe rund um das brennende Château d’Eau, Paris 24. Februar 1848. Gemälde von Eugène Hagnauer. (Bridgeman Art Library)
Unterdessen stürmten die Revolutionäre triumphierend den verlassenen Palast. Dazu wieder Flaubert: »Schwindelerregende Wogen von bloßen Köpfen, Kappen, roten Mützen, Bajonetten und Schultern stürzten in […] gewaltigem Anprall die Treppen herauf.« Arbeiter nutzten die Gelegenheit, sich auf den Thron zu setzen (der Erste, so Flaubert, »mit dem heiter-stumpfsinnigen Aussehen eines häßlichen Affen«). Auf dem königlichen Sitz stand geschrieben: »Die Menschen von Paris an ganz Europa: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 24. Februar 1848«. Danach nahmen die Dinge eine unschöne Wendung: Die Menschenmenge zerstörte Möbel, Porzellan und Spiegel.32 Am nächsten Tag wurde der Thron zur Place de la Bastille gebracht und feierlich verbrannt.
Die Herzogin von Orléans hatte mit ihrem Sohn Zuflucht in der Abgeordnetenkammer gesucht, wo sie Zeugin der Abdankung der letzten Monarchie Frankreichs wurde, »in Trauerkleidung, blass und still«, wie Tocqueville festhielt, der ihren Mut bewunderte. Nationalgardisten mit wehenden Fahnen, drängten sich Seite an Seite mit begeisterten Parisern, die Säbel, Musketen und Bajonette schwangen. Als sie vom Zuschauerrang aufs Parkett strömten, wurde Barrot, der die Prinzregentin schützen wollte, übertönt. (Später sah man ihn ziellos, verwirrt und ungepflegt durch die Straßen irren.) Lamartine, mit »seiner langen, geraden und schlanken Gestalt«, kletterte auf die Tribüne.33 Obwohl kein Republikaner, wusste er doch als Historiker, dass in der französischen Vergangenheit Regentschaften zumeist katastrophal verlaufen waren.34 Unter dem Beifall der Menge verlas er eine Liste der Mitglieder einer provisorischen Regierung – zusammengestellt nach einer früheren Übereinkunft mit den Republikanern der National-Richtung. Zugleich war er gezwungen, die Rolle der Pariser bei der Revolution anzuerkennen, so reagierte der Schriftsteller auf den Ruf »Auf zum Hôtel de Ville!«, indem der vom Podium stieg und in den Gleichschritt des sympathischen, linksgerichteten und redegewandten Republikaners Alexandre Ledru-Rollin einfiel. Während sie zusammen zum traditionellen Sitz des Pariser Radikalismus marschierten, hatte der korpulente Ledru-Rollin Mühe, mit Lamartines langen Beinen Schritt zu halten. Auf seine atemlosen Klagen entgegnete Lamartine: »Wir ersteigen den Kalvarienberg, mein Freund.«35 Minister für Minister wurde nun aus den Fenstern des Ratssaals die provisorische Regierung verkündet, die einen Kompromiss zwischen der National- und der Réforme-Richtung darstellte. Die gemäßigte Mehrheit wurde durch Lamartine als Außenminister, François Arago, Astronom und Mitglied der Pariser Akademie der Wissenschaften, als Zuständigen für Heer und Marine, sowie Louis-Antoine Garnier-Pagès als Minister für Finanzen vertreten. Der Réforme-Richtung als starker Minderheit gehörten an: Ledru-Rollin als Innenminister und zwei Minister ohne Ressort – der Sozialist Louis Blanc und ein Arbeiter namens Alexandre Martin, bekannt als »Albert«, der sich seine republikanischen und revolutionären Sporen im Untergrund verdient hatte. Mit der symbolischen Ernennung des betagten republikanischen Veteranen Jacques-Charles Dupont de l’Eure zu einem weiteren Minister ohne Ressort war die lebende Rückbindung zur Ersten Republik geschaffen. In den frühen Morgenstunden des 25. Februar trat Lamartine theatralisch auf den Balkon und erklärte: »Die Republik wurde ausgerufen!« Seine Worte entfesselten begeisterten Jubel.
III
Beschleunigt durch die Wunder der modernen Welt – Eisenbahn, Dampfschiff und Telegraf – verbreitete sich die Nachricht von den Februartagen in Paris wie ein ein Lauffeuer und brachte Europa in Wallung. In den Worten von William H. Stiles, amerikanischer Chargé d’Affaires in Wien, »fiel sie wie eine Bombe unter die Staaten und Königreiche des Kontinents; und wie widerwillige Schuldner, denen man mit einer Klage droht, beeilten sich die Monarchen, ihren Untertanen die Verfassung zu entrichten, die sie ihnen schuldeten«.36 Die Neuigkeiten gelangten rasend schnell nach Deutschland. An der Universität Bonn wurde der achtzehnjährige, den Radikalen angehörende Student Carl Schurz in seiner Dachstube bei der Arbeit von einem Freund unterbrochen, der ihm die Neuigkeiten überbrachte. Kurzerhand warf der seine Feder hin und schloss sich einer Schar Studenten auf dem Marktplatz an: »Man war von einem vagen Gefühl beherrscht, als habe ein großer Ausbruch elementarer Kräfte begonnen, als sei ein Erdbeben im Gange, von dem man soeben den ersten Stoß gespürt habe, und man fühlte das instinktive Bedürfnis, sich mit andern zusammenzuscharen.« Das Schwarz-Rot-Gold der deutschen Einheit, früher als revolutionär verbannt, flatterte nun öffentlich, und selbst die anständigen, gemäßigten Bürger der Stadt trugen diese Farben an ihren Hüten.37
Der Enthusiasmus unter den deutschen Liberalen und Radikalen wirkte ansteckend. In Mannheim, zum Großherzogtum Baden gehörig, organisierte der republikanische Anwalt Gustav Struve eine politische Versammlung, auf der eine Petition entworfen wurde, die Pressefreiheit, Schwurgerichte, ein Volksheer, Verfassungen für jeden deutschen Staat und Wahlen zu einem gesamtdeutschen Parlament forderte. Angesichts einer großen Demonstration in seiner Hauptstadt Karlsruhe gab der Großherzog zwei Tage später nach, ernannte ein liberales Ministerium und erlaubte die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Struves Petition wurde in ganz Deutschland gedruckt, verteilt und dann den deutschen Herrschern während der beflügelnden Märztage vor die Füße geworfen, daher auch der Name »Märzforderungen«. Die Regenten von Württemberg und Nassau lenkten ein, und in Hessen-Darmstadt dankte der Großherzog lieber zugunsten seines Sohnes ab, als sich zu fügen. Der zweite deutsche Monarch, der 1848 seinen Thron verlor, war der unglückselige König Ludwig I. von Bayern, dessen Geliebte, schillernd und umstritten, die Tänzerin und Femme fatale Lola Montez, zur Zielscheibe der Opposition geworden war. Während sich Lola am 12. Februar dem Hass der Münchner durch Flucht außer Landes entzogen hatte, schlugen die Liberalen im darauffolgenden Monat zu, solange das Eisen der Revolution noch heiß war. Am 4. März wurde das königliche Zeughaus gestürmt, und zwei Tage später nahm Ludwig die Märzforderungen an. Doch seine Beziehung zu Lola hatte katholische Empfindlichkeiten am Hof brüskiert, und selbst die Konservativen ließen ihn fallen. Die Situation wurde allein durch den klugen Prinzen Karl von Leiningen geklärt, der ihn überredete, abzutreten und seinem Sohn Maximilian zu erlauben, das Ruder des freien Staates zu übernehmen. Während Leiningen der bayerischen Monarchie diesen Dienst tat, waren Bauern in seine eigenen Besitzungen in Amorbach eingedrungen und hatten dort alles geplündert. Weiter östlich, in Dresden, zwangen am 6. März Demonstrationen, die von dem radikalen Robert Blum und dem gemäßigten, liberalen Journalisten Karl Biedermann organisiert wurden, König Friedrich August II. von Sachsen zur Einberufung des Landtags, um Reformen zu verfügen und seinen unbeliebten konservativen Minister Falkenstein zu entlassen.
Während sich die einzelnen Staaten reformierten, witterten Liberale und Radikale die Gelegenheit, Deutschland eine neue, einheitlichere Form zu geben. Am 5. März fegte eine Versammlung aus 51 Delegierten der eben befreiten Staaten die Bundesversammlung des alten Deutschen Bundes davon – sie protestierte nur schwach – und bahnte sich den eigenen Weg in die Zukunft. Wie im Fieber beschloss sie die Einberufung »einer vollständigeren Versammlung von Männern des Vertrauens aller deutschen Volksstämme«,38 ein »Vorparlament«, das in Frankfurt zusammenkommen sollte, um die Wahlen für eine deutsche Nationalversammlung vorzubereiten, die ihrerseits eine gesamtdeutsche Verfassung ausarbeiten sollte.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die deutsche Revolution nur das »dritte Deutschland« erfasst – die kleineren Staaten zwischen den großen Machtblöcken Preußen und Österreich. Letztere hatten dem Sturm zunächst standgehalten. Im Westen wurde das preußische Rheinland von der Strömung mitgerissen, sodass es Delegierte zur Heidelberger Versammlung entsandte. Am 3. März kam es in Köln zu einer Demonstration von Arbeitern, an deren Spitze der radikale Sozialist Andreas Gottschalk stand, der unter anderem den Schutz der Arbeit, eine kostenlose Erziehung und Maßnahmen zum Schutz der Armen einklagte. Das Heer schritt ein, trieb die 3000 Protestierer auseinander und verhaftete die Anführer. Preußens Fundament war also noch intakt. Genauso verhielt es sich bei der anderen großen deutschen Macht Österreich, wo zwar der Griff der absoluten Monarchie lockerer wurde, doch nach wie vor das europäische Imperium zusammenhielt. Aus diesem Grund sollte ein Aufstand in der habsburgischen Hauptstadt Wien nicht nur der Revolution in Deutschland, sondern in ganz Europa frische Schwungkraft verleihen. Die Februarrevolution in Paris hatte zur ersten großen Erschütterung der Restauration im Jahr 1848 geführt, der zweite ebenso fundamentale Schlag gegen das alte Regime brachte den Sturz Metternichs.
Der alternde Kanzler wurde in einem Telegramm seines Freundes, des Bankiers Salamon Rothschild, von der Revolution in Frankreich unterrichtet. Dieses traf am 29. Februar um 17 Uhr bei ihm ein – und damit kurz bevor die Wiener Bevölkerung selbst aus einer der wenigen zugelassenen ausländischen Zeitungen, der Augsburger Zeitung, die Nachricht erfuhr. Der Diplomat William Stiles beobachtete damals, wie sich »die Menschen in Gruppen auf den Straßen, in den Cafés und Lesesälen zusammenfanden und sich mit einer Freizügigkeit und Ernsthaftigkeit mitteilten, wie es den Gewohnheiten der ruhigen und phlegmatischen Deutschen sonst fremd war«.39 Der Kanzler selbst indessen blieb optimistisch: Während der ersten zehn Märztage versicherte ihm der Polizeipräsident Graf Josef von Sedlnitzky, der das Risiko eines Umsturzes bestimmt nicht herunterspielen wollte, dass es in Wien keinen Grund zur Besorgnis gebe. Die Ereignisse im gewohnt schwierigen Ungarn sollten seine Vorhersage allerdings widerlegen. Am 1. März erreichte die Nachricht von der Pariser Revolution den ungarischen Landtag, der seit November in Preßburg tagte. Dort hatte man quälende Debatten um die Leibeigenschaft hinter sich, doch nun schien eine umfängliche Reform erstmals in Reichweite. Am 3. März erhob sich Lajos Kossuth im Abgeordnetenhaus und hielt eine Rede, die sich als »Antrittsrede der Revolution«40 erweisen sollte. Der Habsburger Absolutismus, so erklärte er, sei »verpestete Luft […], die unsere Nerven und sogar unsern Geistesflug bannt«. Ungarn solle »unabhängig, national und frei von fremder Einmischung« sein, an Österreich nur durch ein dynastisches Band gebunden, durch das der Kaiser weiterhin König von Ungarn sei. Kossuth ging weiter und führte aus, dass eine politische Generalüberholung Ungarns ohne eine Reformierung des übrigen Reiches nichts bringe, alle Untertanen des Kaisers bedürften des Wandels. »Das Haus Habsburg«, donnerte er, »muß also wählen zwischen seinem Eigeninteresse und der Aufrechterhaltung eines morsch gewordenen Systems.«41
Der Donnerhall sollte Folgen haben, erreichte er doch Wien als ein ins Deutsche übersetztes Manuskript, adressiert an den Juridisch-Politischen Leseverein. Schnell druckte man geheime Kopien davon und brachte sie in der Reichshauptstadt in Umlauf. Zunächst waren die Hoffnungen der Liberalen auf den niederösterreichischen Landtag gerichtet, der für den 13. März angesetzt war. In gespannter Erwartung sammelte eine radikale »Fortschrittspartei« unter Führung von Alexander Bach mehrere Tausend Unterschriften in einer Petition (die von Bach zu Pferd durch die Straßen befördert wurde), in der eine parlamentarische Regierungsform und die österreichische Beteiligung bei der Reformierung des Deutschen Bundes verlangt wurde.42 Doch die Staatskonferenz – der innere Kreis aus Familienmitgliedern und Ministern, der als beratende Körperschaft im Namen des Kaisers Ferdinand fungierte – war in sich gespalten: Die einen rieten zu Konzessionen, die anderen, darunter Metternich, drängten darauf, keine Schwäche zu zeigen. Zunächst setzten sich Letztere durch.
Dank Studenten der Wiener Universität erhielt die liberale Opposition eine Verjüngungskur. Viele der jungen Leute waren typische verarmte Studenten, die in Dachstuben lebten, die verbotene politische Literatur schmökerten, sich Geheimgesellschaften anschlossen und von angestaubten konservativen Professoren unterrichtet wurden. Berauscht von der politischen Erregung ließen sie jetzt eine »Adresse« zirkulieren, in der Rede- und Pressefreiheit, freie Religionsausübung, Lehrfreiheit, Verbesserungen im Bildungssektor, eine repräsentative Regierung und die Teilhabe aller deutschsprachigen Reichsteile am neuen Deutschland gefordert wurde. Sie begeisterten sich noch mehr, als am 12. März der liberale und beliebte Theologe Anton Füster in der sonntäglichen Frühmesse eine leidenschaftliche Predigt hielt, in der er erklärte, dass die Fastenzeit eine Zeit der Hoffnung sei und die Wahrheit siegen werde, solange die Studenten mutig handelten.43 Schließlich besetzten sie die Aula der Universität, wo die Petition in tumultartiger Begeisterung bald ganz mit Unterschriften bedeckt war. »Die Gewitterluft durchzog alle Herzen«, erinnert sich ein Student. »Die Studirenden[!] geboten zum ersten Male den Professoren, die verkehrte Welt trat ein, Zöpfe faßten sich bei den Haaren und meinten, die Welt gehe zu Grunde oder die ganze Jugend müsse beim nächsten Examen eine ›Zwei‹ bekommen … war doch am nächtlichen Himmel endlich ein Schein, ein Abglanz einer Morgenröte angebrochen! – Ob der Morgen wirklich kommen würde?«44 Die Studenten kamen überein, dass sie am folgenden Tag en masse zur Eröffnung des Landhauses marschieren wollten, um ihre Petition den niederösterreichischen Landständen zu präsentieren. Noch in der Nacht stahlen sich Studenten durch die Stadttore hinaus in die ärmeren Vororte, wo sie die Wiener Arbeiter weckten, um Schlagkraft für ihre Sache zu gewinnen. Um dem entgegenzutreten, stellten die Behörden die Tore unter strenge Bewachung, während es dem Hof allmählich dämmerte, dass Zugeständnisse womöglich nötig seien. Doch es war bereits fünf nach zwölf.
Früh am Morgen des 13. März strömten etwa 4000 Studenten aus ihren Vorlesungen, taub für die Warnungen ihrer Professoren, und marschierten zum Landhaus, das gleich um die Ecke von Metternichs Kanzleramt auf dem Ballhausplatz lag. Respektable, überwiegend bürgerliche Akademiker – darunter gut situierte Anwälte, Ärzte, Unternehmer, kauzige Bohèmedichter und extravagante Künstler – schlossen sich erwartungsvoll dem Pulk an, als die Ständeversammlung eröffnet wurde. Von ihrem Beobachtungsposten an einem Fenster des Kanzleramtes aus bemerkte Metternichs dritte Ehefrau Melanie verächtlich: »Sie brauchen nichts anderes als einen Würstchenstand, um glücklich zu sein.«45 Schließlich brachte ein blasser und bärtiger Arzt namens Adolf Fischhof das richtungslose Tohuwabohu zur Ruhe. Auf den Schultern von vier Genossen stehend, erklärte er lauthals: »Es ist ein großer, bedeutungsvoller Tag, an dem wir uns hier zusammenfinden«, worauf er die Leute drängte, den Landständen die Forderungen der liberalen Opposition zu übermitteln.46 Jetzt kletterte ein Sprecher nach dem anderen – »blass vor Schreck über die eigene Courage«,47 wie Stiles scharfsinnig feststellte – auf Brüstungen oder Balkone, um Ansprachen an das Publikum zu richten, das seinerseits die Redner bejubelte und seiner Wut auf Metternich Luft machte.
Gerade als der Präsident der Landstände, Graf Albert Montecuccoli, die Menge beruhigen wollte, indem er einer Abordnung die Übergabe der Petition erlaubte, kam ein Tiroler Journalist mit Namen Franz Putz auf den Platz. Er hielt Kopien von Kossuths Rede hoch und kletterte auf den Brunnen in der Mitte. Jeder wusste von der Rede des großen Ungarn, doch nur wenige kannten ihren Inhalt. Jetzt rief Putz aus vollem Hals die bedeutsamen Worte – darunter »Freiheit«, »Rechte« und »Verfassung« – über die Köpfe der Menge hinweg. Dann öffnete sich das Fenster des Landhauses quietschend und Kopien der Bittschrift, die die Landstände selbst eingereicht hatten, segelten auf die Menschenmenge hinunter. Diese war im Vergleich enttäuschend zahm und »jeder Paragraf … wurde mit schallendem Gelächter willkommen geheißen«.48 Die Katze der Verfassung war jetzt aus dem Sack: Verärgert zerrissen Studenten das Gesuch der Landstände. Rufe wie »Keine halben Sachen!«, »Kein Aufschieben!« und »Verfassung! Verfassung!« wurden in der Menge laut. Die Stimmung begann sich ins Bedrohliche zu wenden, und ein unbedeutender Fehler ließ sie in Gewalt umschlagen. Mit vorbildlicher, aber unter diesen Umständen unangemessener Tüchtigkeit erfüllte der Pförtner seine mittägliche Pflicht und schloss die Seitentür des Landhauses. Für die Leute, die nicht wussten, dass das Routine war, konnte dies nur bedeuten, dass man ihre zwölf Delegierten eingesperrt hatte. Eine Horde von Studenten und, wie Baron Carl von Hügel es ausdrückte, »Eindringlinge der besseren Klasse«49 schlugen die Tore ein und stürmten den Sitzungssaal. Um die Gemüter zu beruhigen, stimmte Montecuccoli zu, das liberale Programm zu billigen, zur königlichen Residenz in der Hofburg zu fahren und die Forderungen dem Kaiser vorzulegen.
Inzwischen hatte der kaiserliche Hof seine Soldaten unter dem Kommando von Erzherzog Albert aus den Kasernen beordert. Dessen Befehl lautete auf Zerstreuung des Auflaufs, aber wenn möglich ohne Verlust von Menschenleben. Die Menschenmenge strömte jetzt vom Landhaus über den Ballhausplatz und ergoss sich in Richtung Hofburg, wo sie Kanonenmündungen und einer Reihe aufgepflanzter Bajonette gegenüberstand. Sofort hagelte es für Soldaten Beleidigungen und Geschosse. Wien holte nun Atem für eine gewaltsame Auseinandersetzung: Händler vernagelten ihre Geschäfte mit Brettern, Arbeitergruppen, aus den Vorstädten hereingekommen, vagabundierten durch die Straßen, bewaffnet mit Werkzeugen, Eisenstangen, Mistgabeln und Holzdeichseln. Gegen diesen proletarischen Zustrom stemmte sich die Obrigkeit, indem sie alle Tore für den Verkehr schloss, doch die Arbeiter versuchten, sich den Weg freizuschlagen: Laternenpfosten, die das Glacis – den freien Platz vor den Stadtmauern – erhellten, wurden herausgerissen und als Rammböcke benutzt. Das zischend entweichende Gas entzündete sich und verbreitete bald darauf einen gespenstischen Schein über der Stadt. Die erste Schlacht um die Stadttore gewannen die Soldaten, die sofort Kanonen auf die Bastionen rollten. Ausgeschlossen von der Revolution, die innerhalb der Mauern stattfand, ließen die Arbeiter jetzt ihrer Frustration über die wirtschaftlichen Missstände freien Lauf. Sie brachen in Fabriken ein und zerschlugen die Maschinen, plünderten Bäckereien und Lebensmittelläden oder griffen die Anwesen der Großgrundbesitzer an.50
Vor der Hofburg wurde Erzbischof Albert von einem Stein getroffen, als er an die Bürger appellierte, nach Hause zurückzukehren. Schließlich rückten die Soldaten vor und wurden mit einem Bombardement aus Steinen empfangen, selbst Möbel schleuderte man aus den oberen Stockwerken. Die Nerven zum Zerreißen gespannt, brüllte ein Regimentskommandeur schließlich den Befehl: »Mit aufgepflanztem Bajonett vorwärts und Feuer!« Die ersten Schüsse der österreichischen Revolution sollten vier Menschenleben kosten, eine Frau wurde zu Tode getrampelt, als die Menge in Panik vor den rauchenden Musketen floh.51 Überall in der Stadt begannen nun Straßenkämpfe, und nur das rechtzeitige Eingreifen seiner Soldaten bewahrte Erzherzog Albert davor, vom Pferd geschleudert zu werden.52 Schließlich durchbrachen die Arbeiter der Vorstädte eines der Stadttore – das Schottentor – und versuchten erfolglos, das Arsenal zu stürmen. Die Soldaten konnten die Plätze und Hauptdurchfahrtsstraßen unter Kontrolle halten, doch die Studenten, Bürger und Arbeiter verteidigten mit Barrikaden die Seitenstraßen. Um 17 Uhr wurde ein instabiler Waffenstillstand ausgehandelt, die Bürgergarde versprach, die Ordnung aufrechtzuerhalten, vorausgesetzt die Truppen würden aus Wien abgezogen, die Studenten dürften ihre eigene Miliz gründen (eine »Akademische Legion«) und Metternich würde bis 21 Uhr entlassen. Allem stimmte die Regierung zu, mit Ausnahme von Metternichs Kopf. Der Bürgergarde und der Akademischen Legion gaben die Wiener bereitwillig nach, denn die Gewaltbereitschaft der Fabrikarbeiter hatte sie in Angst und Schrecken versetzt. Dieser Umstand und die revolutionäre Begeisterung waren auch der Grund dafür, dass die Zivilgarde sofort durch neue, dem Bürgertum entstammende Rekruten verstärkt wurde, die umgehend 40 000 Waffen aus dem Arsenal schafften.
Die Zeit verstrich, während die Staatskonferenz über das Schicksal Metternichs beriet. Der Kanzler, der unter Bewachung vom Ballhausplatz in die Hofburg gelangt war, prächtig anzusehen in seinem grünen Frack und mit Seidenkrawatte, den Gehstock mit Goldknauf in der Hand, wurde auf qualvolle Weise zum Rücktritt gedrängt. Minuten vor Ablauf des Ultimatums verließ er heimlich die Hofburg, in einem unauffälligen Fiaker reisten er und Melanie in der Nacht aus Wien ab, bestiegen außerhalb der Stadt eine neue Kutsche und fuhren zu dem Zug, der sie durch halb Europa bringen sollte. Fast vierzehn Tage brachten sie in Den Haag zu, wo sie darauf warteten, dass in London die revolutionäre Bedrohung durch die Chartisten vorbeiging. Am 21. April verkündete die Times ihre Ankunft auf einem Dampfboot aus Rotterdam.53
Als der 14. März anbrach, feierten die Wiener den Sturz Metternichs, bezweifelten aber völlig zu Recht, dass die Regierung auch nur einen weiteren Millimeter nachgeben würde, vielmehr glaubten sie, dass sie die Ordnung mittels Kriegsrecht wiederherzustellen hoffe. In einer letzten Amtshandlung hatte denn auch Metternich die Staatskonferenz überredet, dem feuerspeienden Prinzen Alfred Windischgrätz volle zivile und militärische Gewalt einzuräumen, um die kaiserliche Autorität in Wien wiederherzustellen. Vor den Stadtmauern war das Heer noch immer präsent, und, abgesehen von der Pressefreiheit und einer neuen Nationalgarde waren bürgerliche Freiheiten nicht in Sicht, geschweige denn eine Verfassung. Doch das Gleichgewicht der Kräfte wurde endgültig gestört, als Windischgrätz am 15. März den Ausnahmezustand über Wien verhängte. Die schwelende Revolution wurde einmal mehr angefacht – wobei sie in den Vorstädten nie erloschen war, da die Angriffe auf Fabriken und Geschäfte fast ungehindert weitergingen. Mittags wurde Ferdinand überredet, durch die Stadt zu reiten und die Gemüter zu beruhigen, und tatsächlich ließen ihn die versammelten Menschen hochleben. Doch seine Parade war nur ein Placebo, denn die Leute drückten sich am Nachmittag noch immer erwartungsvoll um die Hofburg herum. Schließlich wurde der Staatskonferenz, darunter auch Windischgrätz, klar, dass es besser sei, eine Verfassung zu garantieren und dann weiteren Forderungen zu widerstehen, als einen Massenaufstand zu riskieren. Am 15. März, um 17 Uhr, ritt ein Bote vor die Palasttore und verlas das kaiserliche Patent. Ganz Österreich wurde darin aufgefordert, Abgeordnete zu entsenden, um »die Verfassung, die Wir uns entschlossen haben, zu gewähren« zu besprechen.54 Die Reichshauptstadt jubelte:
»In Wien schien sich die ganze Angelegenheit gewendet zu haben, gleichsam wie von Zauberhand … Die Geheimpolizei war gänzlich aus den Straßen verschwunden; die Schaufenster in Buchhandlungen waren jetzt vollgestopft mit verbotenen Schriften, die wie Verbrecher lange Zeit vom Tageslicht ferngehalten worden waren; Jungen verkauften überall auf den Straßen Reden, Gedichte und Stiche, Anschauungsmaterial zur Revolution – die ersten Resultate einer von ihren Fesseln befreite Presse. Währenddessen formierten sich die neubewaffneten Bürger zu einer Nationalgarde, marschierten Schulter an Schulter mit dem regulären Heer und hielt in Einklang mit diesem die öffentliche Ordnung aufrecht.«55
Nach Aufhebung der Zensur verbreiteten sich Zeitungen rasant: Menschen (und ein Hund) aus allen Gesellschaftsschichten und allen Teilen des Habsburgerreichs, darunter auch ein Ungar, der seinen Schnurrbart zwirbelt, und ein bewaffneter Tiroler, strömen in Wien zusammen, um die Früchte der freien Presse zu genießen. (akg-images)
Ein Wiener schrieb aufgeregt, dass »das Wort ›Verfassung‹ dem Strom der Zeit eine neue Bewegung verleiht – eine Bewegung, die auf dem gesamten Globus zu spüren sein und manche Säule des Absolutismus mit Blitz und Donner schlagen wird«.56 Und während die Länder Mitteleuropas die Kunde aus Paris mit leisem Brodeln quittiert hatten, genügte nun ein Wort aus Wien, um sie zum Überschäumen zu bringen.
In den frühen Morgenstunden des 14. März wurde Erzherzog Stephan, Vizekönig beziehungsweise Palatin von Ungarn, von einem Boten aus Wien geweckt. Jener war auf donnernden Hufen herbeigeeilt, um die Nachricht von Metternichs Sturz zu überbringen. Stephan, dem an Ungarn gelegen war, berief sogleich eine Krisensitzung der Magnatentafel3* des ungarischen Landtags in Preßburg ein. Sofort war man sich dort einig, dass der Landtag eine eigene ungarische Regierung fordern solle, ebenso eine Reform der Verwaltungsbezirke, eine breitere Volksvertretung und (hier kam das Thema Nationalismus zum Tragen) die Vereinigung Siebenbürgens mit Ungarn. Zudem kam man überein, dass Delegationen beider Gremien nach Wien reisen und dem Kaiser persönlich eine Petition überreichen sollten. Noch am gleichen Abend wurde Kossuth von Studenten in einer Fackelprozession als Held bejubelt und dazu ermutigt, den liberalen Grafen Lajos Batthyány als nächsten ungarischen Ministerpräsidenten vorzustellen. Am nächsten Tag ging bei stürmischem Wetter eine 150 Mann starke ungarische Abordnung – darunter der feurige Kossuth und der gemäßigte Graf István Széchenyi – an Bord zweier Donaudampfschiffe mit Ziel Wien. Ihre Ankunft um 14 Uhr, gerade einmal zwei Stunden bevor der Kaiser seinen österreichischen Untertanen die Verfassung versprach, war triumphal. Wegen ihrer Ankunft per Schiff als »Argonauten« betitelt, glänzten die Magnaten mit federgeschmückten Pelzmützen, goldbortenbesetzten Gehröcken, roten Hosen, reich verzierten Schwertscheiden und kniehohen Stiefeln, an denen die Sporen klirrten.
Am 16. März wurde Kossuth morgens auf den Schultern jubelnder Österreicher zur Hofburg getragen. Am Hof stellten die Ungarn fest, dass der Kaiser – angeschlagen, blass und mit hängendem Kopf – von der Staatskonferenz schon präpariert worden war, allem zuzustimmen, was die Ungarn forderten. Tatsache war, dass Széchenyi und Batthyány in der Nacht in aller Stille Erzherzog Stephan dazu bewegt hatten, den Erzkonservativen am Hof gegenüber hart zu bleiben, denn nachzugeben sei besser, als einen Aufstand für die ungarische Unabhängigkeit zu riskieren. Jetzt gingen die Ungarn sogar noch weiter und forderten, dass Batthyány mit der Regierungsbildung beauftragt werde und jedes Gesetz, das vom ungarischen Landtag verabschiedet werde, automatisch ratifiziert sei. Dies ging dem inneren Kreis des Kaisers zu weit, er lehnte diese Forderungen rundheraus ab. Nun passierte das, was später dazu führen sollte, dass Batthyány sein Leben vor einem Exekutionskommando und Stephan seine politische Karriere im Exil beendete. Unter Umgehung der gesamten Staatskonferenz eilte Stephan direkt zum Kaiser und entlockte dem geistesschwachen Herrscher die persönliche Zustimmung, dass Batthyány zum Ministerpräsidenten von Ungarn ernannt würde. Somit gewährte der kaiserliche Erlass vom 17. März Ungarn eine eigene, dem Landtag verantwortliche Regierung und bestellte Stephan, ausgestattet mit voller Machtbefugnis, die Reformen durchzuführen, zum Statthalter des Kaisers. Unverzüglich ernannte er Batthyány zu seinem Ministerpräsidenten. Das neue Kabinett umfasste ein breites politisches Spektrum, angefangen bei Széchenyi, einem Verfechter schrittweiser Reformen, bis hin zum radikalen Kossuth. Ersterem sträubten sich bei dem Gedanken die Haare, zusammen mit Letzterem im Dienst des Landes zu stehen: »Ich habe eben mein Todesurteil unterschrieben«, notierte er und fügte später hinzu: »Ich werde mit Kossuth zusammen gehängt werden.«57
Die Staatskonferenz war deshalb so verhalten, weil ihre Macht allerorten am Schwinden schien – ob in Budapest oder Prag, ob in Mailand oder Venedig. Die Konzessionen wurden daher aus schierer Überlebensnotwendigkeit gemacht. Während die politischen Führer der Ungarn Wien weitreichende verfassungsrechtliche Konzessionen abrangen, fand derweil in Budapest eine Revolution statt, die ihrem Namen Ehre machte. Nachdem Kossuth am 3. März seine berühmte Rede gehalten hatte, eröffnete er nun in Erwartung einer harten konservativen Opposition eine zweite Front, indem er die Radikalen der Hauptstadt – darunter aufgeheizte Studenten und Journalisten – drängte, seiner vor dem Parlament gehaltenen Rede mit einer allgemeinen Petition mehr Gewicht zu verleihen. Die Radikalen setzten für den 19. März, den Tag einer großen Handelsmesse und somit ideal für das Unterschreiben der Petition durch Tausende, ein riesiges Bankett im französischen Stil an. Die Aufgabe, das Dokument zu entwerfen, fiel der »Gesellschaft der Zehn« zu, die sich aus dem »Jungen Ungarn« rekrutierte, einem Kreis demokratischer ungarischer Schriftsteller. Deren Anführer war der Dichter Sándor Petöfi, doch die Petition wurde von dem jungen Journalisten József Irinyi niedergeschrieben, dessen »Zwölf Punkte« sich zum Revolutionsprogramm der Ungarn entwickelten. Sie beinhalteten die klassischen Forderungen von 1848 – Redefreiheit, Ministerverantwortlichkeit (Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Parlament) und regelmäßig einberufene Landtage, bürgerliche Gleichberechtigung und freie Religionsausübung, eine Nationalgarde, Steuergleichheit und Schwurgerichtsverfahren. Sie verlangten eine Amnestie für alle politischen Gefangenen und das Ende jeglicher Feudallasten für die Bauern. Auch radikale nationalistische Inhalte waren darin zu finden: etwa ein eigenständiges Parlament in Budapest sowie der Abzug aller nicht ungarischen Soldaten von ungarischem Boden. Siebenbürgen sollte ohne Rücksicht auf die Ansichten der Rumänen ein Teil Ungarns werden. Dass Ungarn eigentlich ein Vielvölkerstaat war, ließ die Forderung nach einer Bürgerwehr noch einmal besonders akut werden. Schließlich betrachteten die Radikalen die ungarische Armee als reaktionäre Kraft, rekrutierte sie sich doch vor allem als Offizierskorps aus nicht magyarischen Bauern des Königreichs und deutschsprachigen Offizieren aus Adelskreisen.58
Während man die zwölf Punkte noch diskutierte, erreichte Budapest am 14. März per Dampfschiff die Nachricht von Metternichs Abreise. Am folgenden Tag beschloss eine kleine Gruppe Radikaler auf einer frühmorgendlichen Sitzung in Petöfis Wohnung, unverzüglich zu handeln. Später am Morgen gingen sie durch den strömenden Regen zu ihrem Stammlokal, dem Café Pilvax, wo sich eine jubelnde Menschenmenge erwartungsfroh versammelt hatte. »Im Café«, schrieb ein Augenzeuge, »gab es einen Riesenauflauf, hitzige Debatten und tumultartige Szenen.« Die zwölf Punkte wurden unter Hurrarufen und Applaus verlesen. Anschließend rezitierte Petöfi ein Gedicht, das er zwei Tage zuvor geschrieben hatte, das »Nationallied«, dessen Refrain großen Beifall fand: »Schwören wir beim Gott der Ahnen: / Nimmermehr / beugen wir uns den Tyrannen!«59 Um 15 Uhr sprach Petöfi vor dem Nationalmuseum zu 10 000 Menschen, anschließend führte er sie zum Pester Rathaus. Dort füllte die Menschenmenge den Platz »wie ein tosendes Meer vor dem Sturm«.60 Der entsetzte Präsident unterschrieb die »Zwölf Punkte«, und ein neuer Magistrat – das Komitee zur Aufrechterhaltung der Ordnung und allgemeinen Sicherheit – wurde berufen, in dem Radikale wie Petöfi, Adelige, die für Kossuth waren, sowie Liberale der alten Ratsversammlung saßen. Die Nationalgarde wurde gegründet, doch da sie eine Bürgermiliz war, gab es keine Uniform, abgesehen von Armbinden und Schärpen in den ungarischen Farben Rot, Weiß und Grün.61 Schließlich marschierten die Revolutionäre über eine Pontonbrücke (Széchenyis berühmte Kettenbrücke befand sich noch im Bau) zur Budaer Burg, wo der Rat des Vizekönigs tagte. »Wir marschierten«, schrieb der Radikale Alajos Degré, »mit grenzenloser Begeisterung zur Festung hoch, wo wir Artilleristen mit brennenden Zündschnüren in der Hand neben ihren Kanonen stehen sahen, während die Menge vor ihnen ›Lang lebe die Freiheit! Lang lebe die Gleichheit!‹ rief.«62 Da sich dort inzwischen immerhin 20 000 Menschen eingefunden hatten und in Ermangelung klarer Weisungen aus Wien, konnten die Räte des Palatins nichts anderes tun als nachzugeben. Genau genommen schienen beide Parteien von der Situation völlig überrascht. Der Sprecher des Sicherheitskomitees trug die »Zwölf Punkte« vor – »so untertänig und zitternd gestammelt wie ein Schuljunge vor dem Lehrer«, erinnerte sich Petöfi später spöttisch und fügte hinzu: »Die Exzellenzen, die Mitglieder der Statthalterei, waren bleich und geruhten zu zittern und willigten nach einer Beratung von fünf Minuten in alles ein.«63
Da sich Habsburgs Herrschaft nun auf ganzer Linie im Rückzug befand, konnten sich auch die Tschechen behaupten. Am 29. Februar feierte die Spitze der Prager Intellektuellen einen Maskenball, als spät in der Nacht die ersten Briefe aus Paris eintrafen und die Neuigkeiten der Republik übermittelten. Um die Spitzel der Polizei zu umgehen, wurde die Nachricht unter den Feiernden von Ohr zu Ohr geflüstert. Leise fanden sich Freunde zusammen und stießen an auf die Revolution.64 Die allgemeine Erwartung steigerte sich noch, als die Nachricht von Kossuths Rede hinzukam. Am 8. März hängte die liberale Organisation »Repeal« Plakate auf, auf denen für den 11. März zu einer öffentlichen Versammlung im St. Wenzelsbad eingeladen wurde. Der Veranstaltungsort lag gefährlich nah am Arbeiterviertel Podskalí, und der Zeitpunkt, 18 Uhr an einem Samstag, ließ den Arbeitern genügend Zeit, um vor dem Besuch ihren Lohn abzuholen und sich auf die Schnelle mit Alkohol zu versorgen. Die Zerstörungswut der Arbeiter hatte sich vier Jahre zuvor brutal gezeigt (und war ebenso brutal bekämpft worden), sodass sich einmal mehr Angst unter den Besitzenden breitmachte. Selbst die führenden Liberalen Böhmens, der Historiker František Palacký und der Journalist Karel Havlíček, standen den politischen Aktivitäten distanziert gegenüber, weil sie nur widerstrebend den Pfad der »Legalität« verließen. Der Bürgermeister Josef Müller rief die ehrbare Bürgerwache zusammen, lehnte aber die Forderungen der reichsten Prager – überwiegend deutschsprachige Industrielle – ab, allen Bürgern das Tragen von Waffen zu gestatten. Die Fabrikanten verlangten darüber hinaus, dass die Behörden die Versammlung ganz verboten. Der Statthalter von Böhmen, Rudolf Graf Stadion, kam dem, aus Angst eine Auseinandersetzung zu provozieren, nicht nach, versetzte aber die Garnison in Alarmbereitschaft.
Mehrere Tausend Menschen fanden sich am festgelegten Tag ein. Achthundert der »anständigen« Demonstranten – junge Intellektuelle, Beamte, Bürger, Handwerker, fast alles Tschechen – wurden von den Repeal-Saalordnern in das Bad eingelassen. Die ausgesperrten Arbeiter dagegen drängten sich bei strömendem Regen auf der Straße. Das fast gänzliche Fehlen von Deutschen bei der Versammlung lässt vermuten, dass sie eher Sympathisanten der tschechischen Nationalbewegung ansprach und jene das Gefühl hatten, von der politischen Mitbestimmung in Böhmen ausgeschlossen zu sein.65 Man verlas eine Petition, in der eine Verfassung, Pressefreiheit und Schwurgerichtsverfahren gefordert wurden sowie, radikaler noch, die Regelung von Arbeit und Entlohnung für die Arbeiter sowie die Abschaffung des Frondienstes (robot) und der grundherrschaftlichen Gerichtsbarkeit für die Bauern. Nationalistische Töne kamen in dem Wunsch nach einer Vertretung aller Länder der alten tschechischen Krone – Böhmen, Mähren und Schlesien – durch eine gemeinsame Ständeversammlung zum Ausdruck, weiterhin in der amtlichen Gleichstellung des Tschechischen mit dem Deutschen sowie der Verkleinerung des stehenden Heeres und im Ausschluss von »Auswärtigen«, dieser Begriff war doppeldeutig, von öffentlichen Ämtern. Die Versammlung endete mit der Wahl eines zwanzigköpfigen Ausschusses, der die Petition zur Unterschriftsreife bringen sollte. Erst jetzt fügte Palacký den Forderungen sein beträchtliches intellektuelles Potential hinzu.
Unter klarem blauem Himmel unterzeichneten am 15. März Tausende Menschen das Gesuch. Und während alles noch festlich gestimmt war, traf am gleichen Abend ein Zug aus Wien ein und brachte die Nachricht der kaiserlichen Zusage einer Verfassung. Wie eine Zeitung berichtete, »floss Sekt in Strömen«, auf den Straßen umarmten völlig Fremde einander. Plötzlich wurde das Wort »Verfassung« salonfähig, Handwerker machten sich daran, »Verfassungshüte und -sonnenschirme« herzustellen, während in den Öfen der Bäcker »Verfassungsgebäck« aufging. Die Zeitung Bohemia verwies darauf, dass es nicht mehr länger höflich sei, den Hut zum Gruß zu lüften, da es der Gleichheit, die eine Verfassung verhieß, zu widersprechen scheine und so oder so bei schlechtem Wetter unangenehm sei.66 Wie schon in Wien wurden nun auch in Böhmen und Mähren eine Nationalgarde und eine akademische Legion ins Leben gerufen, um für Ordnung zu sorgen. Beide rekrutierten sich aus Deutschen und Tschechen, aber der Wenzelsbad-Ausschuss gründete mit Svornost auch eine ausschließlich tschechische Miliz. Studenten fanden sich unterdessen zu einer politischen Verbindung zusammen, der Slavia oder auch Slawischen Linde.
Am 22. März empfing Kaiser Ferdinand eine Delegation aus Böhmen, die ihm das Wenzelsbad-Gesuch überreichte. Doch am Wiener Hof spürte man sehr wohl, dass die Deutschen aus Böhmen und Mähren nur widerstrebend dem tschechischen Nationalismus zustimmten, und so kam man noch einmal mit vagen Versprechungen auf Zugeständnisse davon. Die Feierlichkeiten, die man für Prag geplant hatte, wurden daraufhin abgesagt, und die allgemeine Wut über die vereitelten Hoffnungen richtete sich sogleich gegen die Delegierten, von denen so manchen die Fenster eingeworfen wurden.67 Am 28. März kam es zu einer stürmischen Versammlung, bei der die Mitglieder des Wenzelsbad-Ausschusses sich anstrengen mussten, um sich angesichts der lauten Rufe »Republik!« und den Schlachtrufen gegen den böhmischen Adel noch Gehör zu verschaffen. Der Ausschuss entwarf eine schärfere Petition, in der er die Vereinigung aller tschechischen Länder und deren Repräsentanz in einer modernen nationalen Volksvertretung forderte, gewählt auf der Basis eines breiten bürgerlichen Wahlrechts – die Landstände wurden bei der Gelegenheit als altmodisch über Bord geworfen. Wie die Ungarn strebten die Tschechen ein eigenes vereintes Königreich an, das nur noch dynastisch mit der habsburgischen Monarchie verbunden war. Diese neue Liste der Forderungen wurde von einer bewaffneter Miliz zu Stadions Amtsräumen gebracht. Der gänzlich aufgebrachte, gedemütigte Statthalter musste sein Siegel unter das Dokument setzen; kurz darauf trat er deshalb zurück – nicht ohne noch Baron Pillersdorf, den Innenminister im neuen österreichischen Kabinett, davor zu warnen, dass er »für nichts garantieren kann, wenn nicht alles bewilligt wird«.68
Diesmal sollte Wien nachgeben, allerdings nicht vollständig. Die kaiserliche Antwort vom 8. April versprach keine gesamttschechische Volksvertretung, sondern trennte die böhmischen und mährischen Landstände. Auch wurde das Wahlrecht auf Bürger mit Grundbesitz, Angestellte und Steuerzahler eingeschränkt, schloss also die städtische Arbeiterschaft, Hausangestellte und Landarbeiter aus. Die tschechische Sprache sollte neben der deutschen in allen Schulen gelehrt und innerhalb der tschechischen Länder auf allen Verwaltungsebenen verwendet werden.69 Diese Zugeständnisse bildeten zusammen mit der späteren Abschaffung der Fronarbeit der Bauern den Höhepunkt der revolutionären Errungenschaften von 1848.
Während der Absolutismus im österreichischen Kaiserreich zusammenbrach, konnte sich auch der zweite bedeutsame Pfeiler der restaurativen Ordnung in Deutschland, Preußen, nicht mehr lange halten. Damals war Adolphe de Circourt gerade frisch von den Pariser Straßenkämpfen weg zum französischen Botschafter in Berlin ernannt worden, wo er am 9. März eintraf. Weil nun eine deutsche Regierung nach der anderen kapitulierte, war er der Ansicht, dass Preußen von »einem Feuerkreis« umgeben sei.70 Als es schließlich zur Explosion kam, sollte die preußische Hauptstadt Schauplatz der heftigsten revolutionären Ausbrüche vom März 1848 werden. Vor allem Studenten hatten die Kaffeehäuser besucht, wo man von den europäischen Neuigkeiten lesen konnte, doch von den etwa tausendfünfhundert Studenten der Universität waren nur etwa hundert ernsthaft politisch engagiert. Der Fokus der allgemeinen Hoffnungen nämlich, der ständische Ausschuss des Vereinigten Landtags, der seit Januar tagte, wurde am 6. März vom König mit dem Argument entlassen, dass er in der Krise Einheit und keinen »Parteienzwist« brauche: »Schart euch um euren König, um euren besten Freund, wie eine eiserne Mauer.«71 Dies und Friedrich Wilhelms Zusage, dass der Landtag alle vier Jahre zusammentreten würde, war bald schon das Thema Nummer eins. Sonntags wanderten die Berliner – Handwerker, Arbeiter, Studenten, Büroangestellte, Journalisten – für gewöhnlich zu den Cafés, Wirtschaften und Würstchenbuden »In den Zelten« (gemeint sind die Zelte, die auf einem Platz im Tierpark als Bewirtungszelte standen und später durch feste Gebäude ersetzt wurden). Auch am 7. März fand sich dort eine Menschenmenge ein, als Journalisten und Studenten das Musikpodium bestiegen, um über die Zusage des Königs zu sprechen.72 Man setzte eine Petition auf, in der die sofortige Wiedereinberufung des Landtags und die Pressefreiheit verlangt wurden, und die an Ort und Stelle Tausende unterzeichneten. Als sich der König weigerte, diese Forderungen in Empfang zu nehmen, wurden sie ihm per Post zugestellt.
Am nächsten Tag wuchs die Menge »In den Zelten« noch an. Der Polizeipräsident warnte den König, er wisse nicht, ob er die Situation unter Kontrolle halten könne, und schlug vor, die 12 000 Mann starke Garnison zur Unterstützung anzufordern. Damit aber war das Schicksal Friedrich Wilhelms besiegelt.73 Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Versammelten verträglich gestimmt, ja sogar in Feierstimmung, doch das Auftauchen der Heerespatrouillen, die durch die Straßen polterten, ließ die Atmosphäre kippen. Darüber hinaus hatte der König die Garnison mit frischen Truppen aus anderen Provinzen verstärkte, wodurch die Militärpräsenz am Ende auf 20 000 Mann angewachsen war. Die Berliner jedoch hatten es noch nie gemocht, von Soldaten Befehle entgegenzunehmen, und als sich nun zwischen dem 13. und dem 18. März ein gewaltsamer Zwischenfall nach dem anderen ereignete, wurden die Leute allmählich wütend. Mit den ersten Ausschreitungen konnte die Armee, wie General Leopold von Gerlach, Generaladjutant des Königs, festhielt, noch leicht fertig werden. Genau das aber beförderte, wie er später notierte, eine gewisse Sorglosigkeit bei der Obrigkeit, von der man am 18. März mit Beginn des Aufstands prompt überrascht wurde.74 Der Anblick der Soldaten, die Versammlungen mit der flachen Säbelklinge auflösten oder Plätze mit der Bajonettspitze räumten, ließ die öffentliche Stimmung umschlagen. Auch Circourt fiel dieser Umschwung auf: »Überall gab es Zusammenkünfte, Rufe, Gepfeife oder Vagabunden, die auf ihren nächtlichen Streifzügen einen finsteren Eindruck machten.«75 Die Berliner buhten und warfen Steine auf die Soldaten, von denen viele aus den ländlichen Provinzen Ostpreußens abgezogen worden waren; sie waren nicht an das Stadtleben gewöhnt und standen der städtischen Lebensart argwöhnisch gegenüber.
Der Druck verstärkte sich, als am 16. März die Nachricht von Metternichs Entlassung in der preußischen Hauptstadt eintraf. Um die Lage zu entschärfen, überredete man Friedrich Wilhelm zu Konzessionen – allerdings erst nach einer scharfen Diskussion unter seinen Ministern, darunter eingefleischte Konservative wie Gerlach und der Prinz (der 1871 Kaiser des neuen vereinten Deutschland werden sollte), die laut ihre Überzeugung verkündeten, dass die Erschießung rebellischer Untertanen Eindruck machen würde. Stattdessen ließ Friedrich Wilhelm am 18. März verlautbaren, dass eine Bekanntmachung bevorstehe. Und tatsächlich las um 14 Uhr ein Bote der erwartungsvollen Menge, die sich vor der königlichen Residenz versammelt hatte, zwei Proklamationen vor: Mit der ersten wurde die Zensur abgeschafft, in der zweiten die Einberufung des preußischen Landtags für den 2. April sowie eine Reform des Deutschen Bundes versprochen, dazu ein Gesetzbuch, eine Fahne und die Schaffung einer deutschen Marine (Letzteres war ein sehnlicher Wunsch der Nationalen). Drinnen im Schloss tobte Gerlach: »Ich hätte mir eher die Hand abhacken lassen, bevor ich diese Edikte unterzeichnet hätte«,76 doch als Friedrich Wilhelm selbst auf dem Balkon erschien, wurde er von der Menschenmenge bejubelt.
Nur ein Versprechen war nicht gegeben worden: der Abzug der Soldaten aus der Stadt. Eine Gruppe von etwa zwanzig Bürgern in gepflegter Kleidung begann im Chor zu rufen: »Das Militär zurück!« – ein Schlachtruf, der bald allgemein übernommen wurde. Dies war der revolutionäre Dolchstoß in das Herz der preußischen Monarchie, denn die vordringlichste Rolle des Königs war der Oberbefehl über das preußische Heer, im Grunde ein Staat im Staate. Natürlich hätten die Liberalen es am liebsten gesehen, wenn der König seine Legitimität vom Volk und seinen Bürgern bezogen hätte, doch das hier bedeutete, an Friedrich Wilhelm gerichtet, die tragende Säule der preußischen Monarchie wegzuschlagen. Diese revolutionäre Herausforderung bestärkte denn auch Friedrich Wilhelms Entschlossenheit und die der Ultrakonservativen, den zögerlichen General Ernst von Pfuel durch den Zuchtmeister General von Prittwitz als Oberbefehlshaber der Truppen zu ersetzen. Diese bittere Pille wurde mit der Berufung eines neuen Kabinetts versüßt, dem auch der aus dem Rheinland stammende liberale Geschäftsmann Ludolf Camphausen angehörte. Von Prittwitz schließlich traf die schicksalhafte Entscheidung, den Schlossplatz räumen zu lassen. Die Dragoner ritten in leichtem Trab vorwärts, angeführt wurden sie durch von Prittwitz selbst, der seinen Säbel zog, um über den Tumult hinweg seine Befehle deutlich zu machen. Die Reiter folgten seinem Beispiel, wodurch ihr Vorstoß wie ein Angriff wirkte. Einige Zivilisten stürmten mit dem Ruf »Militär fort!« nach vorn, um die Zügel der Pferde zu packen. Als auch noch zwei Kompanien Infanteristen ausrückten, wurden zwei Schüsse abgegeben. Zwar gab es keine Verletzten, doch das Knallen der Musketen reichte aus, um die Menge in alle Richtungen auseinanderfahren zu lassen. Die Rufe »Verrat!« und »Sie bringen auf dem Schlossplatz Leute um!« waren zu hören. Der neu ernannte Ministerpräsident Graf von Arnim-Boitzenburg versuchte erfolglos, die Situation zu entschärfen, indem er – eine weiße Flagge schwenkend – auf dem Platz erschien. Man schenkte ihm keine Beachtung.77
Innerhalb von Stunden waren in den Straßen Hunderte von Barrikaden aufgetürmt und mit schwarz-rot-goldenen Bannern bedeckt. Provokativ wurde in Sichtweite des königlichen Schlosses eine Fahne auf der luxuriösen Konditorei d’Heureuse gehisst. Männer, Frauen und Kinder legten Hand an beim Bau der Barrikaden, der »mit staunenswürdiger Virtuosität, als wenn die Bevölkerung nie ein anderes Geschäft betrieben hätte, zustande gebracht ward«. Als Material nutzten sie alles, was die Stadt hergab: »Droschken, Omnibuswagen, auch ein angehaltener Postwagen, Wollsäcke, Balken, umgestürzte Brunnengehäuse«.78 Schwere Pflastersteine wurden aus Straßen gestemmt, Holzbretter von Häusern abgerissen. Ob Regenrinnen, Fässer, umgedrehte Kutschen oder Verkaufsstände: alles fand Verwendung. Der Platz vor dem Rosenthal-Tor glich einer Festung, mit Barrikaden vor jedem Durchgang. Die Schlacht, die nun folgte, war eine von Zivilisten gegen Soldaten, hier entlud sich der Zorn beider Seiten. Prittwitz selbst schrieb später: »die Soldaten wären froh gewesen, […] einen ganz bestimmten Feind vor sich und das Ende der bis dahin bestehenden Geduldsprobe erreicht zu haben.«79 Handwerker kletterten in die Kirchtürme und läuteten die Glocken, die Sturmglocken der Revolution. Besitzbürger, anständig gekleidet in Zylinder und schwarzen Gehrock, Journalisten und Akademiker, kleinbürgerliche Ladeninhaber, Beamte, Lehrer, an die hundert Studenten und natürlich Arbeiter bestiegen nun die Barrikaden. Durch die Glocken herbeigerufen, nahmen die Arbeiter der Borsig-Werke ihre Eisenstangen und Hämmer und schritten, noch immer in öligen Kitteln, zu etwa Neunhundert resolut Richtung Kampfgeschehen. Frauen und Kinder brachten den Aufständischen Essen und Trinken.
So mancher sehr verlustreiche Kampf fand in Berlin statt: Hier die beeindruckende Barrikade auf dem Alexanderplatz, die gegen die preußischen Soldaten standhält. (akg-images)
Die Schlacht um Berlin war eine der erbittertsten Schlachten in Europa von 1848. Während sie frontal auf die Befestigungen zumarschierten, setzten die Soldaten Geschütze ein. Gerlach, der die Truppen kommandierte, berichtet von Kanonenkugeln, die entlang der Straßen abprallten. Eine Barrikade nach der anderen mussten die Soldaten überwinden. »Man konnte drei, auch wohl vier Barrikaden hintereinander erkennen, an denen fortwährend in unserer Gegenwart gebaut worden war«, so Gerlach. »Auf das Artilleriefeuer lief Alles aus der ersten […] und auch aus der zweiten Barrikade davon; als die Truppen aber gegen die folgende Barrikade vordrangen, wurden sie mit einem heftigen Gewehrfeuer und mit sehr zahlreichen Steinwürfen aus den Häusern, vorzüglich aus den Enthäusern empfangen.« Auf der gegnerischen Seite schrieb ein Zeuge:
»Der Donner der Kanonen ertönte in immer rascher folgenden Schlägen, einzelne Barrikaden begannen schon in dieser Straße zusammenzustürzen, und die immer erbitterter und wüthender vordringenden Soldaten begannen ein gräßliches Gemetzel […]. Die ganze Straße schwimmt in Blut, die Häuser sind mit Todten und Verwundeten überfüllt. An der Ecke der Spandauer Straße werden Kanonen aufgefahren, deren Kugeln die Straße vollends säubern sollen. Die Häuser selbst werden unaufhörlich von Flintenkugeln bestrichen und zersetzt. Durch die Stadt begann um diese Zeit ein schauerliches Sturmläuten, welches von bewaffneten Handwerkern, die die Kirchthürme erstiegen hatten, die ganze Nacht unterhalten wurde.«80
Selbst die erfahrensten Offiziere waren nicht an so eine Schlacht gewöhnt, wie sie nun in den engen Berliner Straßen geführt wurde. Weil die Aufständischen erbittert kämpften, feuerten die frustrierten Soldaten wahllos auf Häuser, durch Türen und Fenster. Zwar hatten Gerlachs Männer Werkzeug dabei, mit dem sie in Gebäude eindringen konnten, aber sobald sie drinnen waren, wurden die Angreifer aus kürzester Entfernung niedergestochen oder erschossen.81 Häuser gingen in Flammen auf und brannten die ganze Nacht über. Insgesamt wurden an einem Nachmittag und in einer Nacht der Kämpfe rund neunhundert Menschen getötet – achthundert davon auf der Seite der Aufständischen.
Am Ende hatte das Heer die Hauptzugangsstraßen unter Kontrolle, und anders als in Paris bestand kaum die Gefahr, dass die Soldaten ob ihrer ländlichen Herkunft und eisernen Disziplin von den Revolutionären bekehrt werden würden. Trotzdem war sich von Prittwitz bewusst, dass die schreckliche Erfahrung des Straßenkampfes die Moral der Männer beeinflussen würde. In dieser Nacht berichtete er dem König, dass ihm nichts anderes übrig bleibe, als seine Truppen abzuziehen, die Stadt zu belagern und sie bis zur Aufgabe zu bombardieren, sollte der Aufstand nicht binnen Tagen niedergeschlagen sein. Der König war hin und her gerissen. Die Berliner waren rebellisch, aber ihr Blut auf diese Weise zu vergießen war für Friedrich Wilhelm absolut unmöglich. Als von Prittwitz das erste Mal um den Befehl zum Vordringen bat, hatte der König geschrien: »Nun ja, nur nicht schießen!«82 Beim ersten Krachen der Geschütze hatte er geweint. Und so kam es, dass Georg von Vincke, gemäßigter westfälischer Aristokrat und Anführer der Liberalen im Vereinigten Landtag, der in gestrecktem Galopp nach Berlin geeilt war, bereitwillig Audienz bei Friedrich Wilhelm erhielt, als er, noch in Reisekleidern, im Schloss erschien. Vincke brachte vor, dass der Kampf solange nicht enden würde, wie die Menschen kein Vertrauen zu ihrem König hätten. Würde man jedoch durch einen Truppenrückzug Zivilisten die Sicherheit des Königs anvertrauen, könnte das aufs Neue ihre Loyalität bestärken. Gerlach, der dies mit anhörte, schloss sich dem höhnischen Gelächter über die, wie er es nannte, »elende Kopffechterdialektik« des Politikers an, worauf der wütende Vincke fauchte, jetzt hätten sie noch gut lachen, aber nicht mehr lange.83
Diesem Argument folgend, befahl Friedrich Wilhelm von Prittwitz um Mitternacht, die Kampfhandlungen einzustellen, worauf er sich an seinen Schreibtisch setzte und eine weitere Proklamation, »An meine lieben Berliner«, verfasste, die eilig gedruckt und in den frühen Morgenstunden überall in der Stadt verteilt wurde. Der König versprach, die Truppen zurückzuziehen und nur noch zur Verteidigung des Schlosses, des Arsenals und anderer Regierungsgebäude einzusetzen, sobald die Untertanen »zum Frieden« zurückgekehrt und die Barrikaden geräumt hätten: »Hört die königliche Stimme Eures Königs, Bewohner meines treuen und schönen Berlin.«84 Die Berliner, übel zugerichtet und blutbefleckt, waren skeptisch. Dennoch wurde an diesem Sonntagmorgen in der ganzen Stadt ein prekärer Waffenstillstand eingehalten. Als Prittwitz selbst hinausging, um sich ein Bild zu machen, war die erste Person, die ihm begegnete, nicht etwa ein Aufständischer, sondern ein Dienstmädchen, das ausgesandt worden war, Kuchen zu kaufen.85 Auch den Kirchgängern gewährten die Revolutionäre freien Durchgang auf ihrem Weg zum Gottesdienst. Dadurch ermutigt, gab der König bei einer Zusammenkunft mit von Prittwitz und dem Prinzen von Preußen im Roten Eckzimmer des Berliner Schlosses den Befehl zum Rückzug aller Truppen in die Kasernen.86 Voller Verachtung warf der Prinz daraufhin sein Schwert auf den Tisch.
Nun, da das Schloss fast ganz von Soldaten geräumt war, bahnten sich die Aufständischen ihren Weg durch schuttbeladene Straßen und versammelten sich vor dem Palais. Dieses Mal waren sie nicht in der Stimmung, den König hochleben zu lassen. Dafür zogen sie Bahren hinter sich her, auf denen die blumenbedeckten Leichen der Gefallenen lagen. »Gebt ihn raus, oder wir werfen diese Toten direkt vor seine Tür!«, schrien sie zu den Fenstern hoch.87 Der König trat auf den Balkon, an seiner Seite die besorgte Königin. Die Bahren wurden näher herangebracht, worauf der König in einer symbolischen Geste der Demut den Hut zog und die Königin in Ohnmacht fiel. An diesem Punkt stimmte die Menge im Beisein des Königspaares den Choral »Jesu, meine Zuversicht« an, worauf die Prozession sich entfernte. Inzwischen marschierte die Armee zum Schlag der Trommeln aus der Stadt hinaus. Um die Ordnung aufrechtzuerhalten, musste nun schnell eine Bürgerwehr organisiert werden. Am 12. März traf der König, selbstbewusst mit Armbinde in den deutschen Farben Schwarz-Rot-Gold, die Kommandeure, um ihnen für die Wiederherstellung des Friedens in der Hauptstadt zu danken. Man salutierte ihm mit dem Ruf »Lang lebe der deutsche Kaiser!«. Von der allgemeinen Stimmung getragen, erließ er am Abend eine weitere Proklamation, in der er erklärte: »Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen und Mich und Mein Volk unter das ehrwürdige Banner des deutschen Reichs gestellt. Preußen geht fortan in Deutschland auf.«88 Dies war bewusst vage, doch im Augenblick die Antwort auf den Ruf nach preußischer Führung in einem vereinten Deutschland.
Am 22. März wurden die Toten der Straßenkämpfe beigesetzt. An diesem Trauertag verkündete Friedrich Wilhelm endlich, dass er eine Verfassung gewähren werde. Trotzdem passte die Rolle eines revolutionären Monarchen nicht zu einem König, der die meisten Zugeständnisse nur unter Zwang gemacht hatte. Nicht zuletzt deshalb verließen er und seine Familie drei Tage später unter dem Schutz des Garderegiments die Stadt in Richtung Potsdam und Schloss Sanssouci. Sicher in seinem Palast angekommen, wurde dem König klar, welche Demütigung die Märzrevolution letztlich bedeutet hatte.89 Hier nun war er von Hardlinern umgeben, darunter der Prinz von Preußen oder Gerlach, die alle auf eine Konterrevolution brannten.90 Auch Otto von Bismarck gehörte dazu, der von seinem Anwesen in Schönhausen nach Potsdam gereist war, um dem König den Dienst seiner gehorsamen, bewaffneten Bauern anzubieten. Als von Prittwitz die Frage stellte, was am besten zu tun sei, um die königliche Autorität wiederherzustellen, begann der Junker, auf einem Klavier den Infanteriemarsch zum Angriff zu spielen.91
VI
Von allen Verfassungen, die man den italienischen Herrschern in den ersten Monaten des Jahres 1848 abnötigte, sollte sich die piemontesische Verfassung, Statuto genannt, als die bedeutendste für die Zukunft Italiens erweisen. Am 4. März 1860 wurde sie zur Verfassung des vereinigten Italien und blieb das tragende Grundgesetz des Landes bis 1946. In ihr wurde die Macht zwischen dem König und der Volksvertretung, die aus einem Senat und einer Abgeordnetenkammer bestand, aufgeteilt. Der Monarch behielt die Oberhoheit über Streitkräfte und Außenpolitik und konnte zudem das Parlament einberufen oder entlassen. Alle Finanzen jedoch, einschließlich der Besteuerung, mussten von beiden Kammern gebilligt werden. Sollte der König das Parlament aussetzen, musste es innerhalb von vier Monaten wieder einbestellt werden, damit kein Machtvakuum entstehen konnte. Die Bürgerrechte waren garantiert.92 Das Statuto fand über die Grenze hinweg Widerhall in der österreichisch regierten Lombardei, wo Mailänder Liberale nun von der Möglichkeit einer militärischen Invasion durch die piemontesische Armee zu träumen wagten, die die Österreicher unter Androhung von »100 000 Bajonetten« vertreiben würde. Die Lombarden gefielen sich darin, in Nachahmung der Uniformen von Karl Alberts Armee graue Umhänge zu tragen. Um die Träume in Erfüllung gehen zu lassen, drängten Graf Carlo d’Adda, ein lombardischer Exilant, der Zuflucht in Turin gesucht hatte, und Graf Enrico Martini als Agenten des liberalen Mailänder Adels den König, einen entschlossenen Schlag gegen die österreichische Herrschaft zu führen.93
In Mailand und Venedig, den großen Städten von Österreichs beiden italienischen Provinzen, brodelte es seit dem Zigarrenstreik Anfang Januar. Während seiner letzten Wochen im Amt wurde Metternich immer stärker von den italienischen Angelegenheiten in Anspruch genommen, doch er war entschlossen, dort dem Vordringen der Revolution zu widerstehen. Zu diesem Zweck wollte er sichergehen, dass alle österreichischen Befehlsgewalten, militärische wie zivile, ihre Bemühungen koordinierten, und zwar nicht nur untereinander, sondern auch mit jenen italienischen Staaten, die von der Strömung noch nicht mitgerissen worden waren. Dazu benötigte er einen vertrauenswürdigen Diplomaten, der in ständigem Kontakt mit den verschiedenen italienischen Regierungen bleiben konnte, um sie zu ermutigen, sich der Revolution zu widersetzen, sie des militärischen Beistands durch Österreich zu versichern und über die Presse die österreichische Perspektive zu verbreiten. Der Mann, den er für diese Aufgabe auswählte und der am 21. Februar in Wien seinen Einsatzbefehl erhielt, war Graf Joseph Alexander von Hübner. Mit der Bemerkung, dass ihn Metternichs Vertrauen in seine Fähigkeiten »mehr erschrecke, als schmeichle«, bestieg dieser am 2. März den Zug in Wien, wechselte dann auf Postpferde und kam zweiundsiebzig Stunden später in Mailand an. Noch wusste er nicht, dass die Kunde von der Pariser Revolution die Liberalen ermutigt hatte, in friedlichem Protest Österreich aufzufordern, der Lombardei größere Eigenständigkeit innerhalb der habsburgischen Monarchie zu gewähren – einschließlich Pressefreiheit und Bürgermiliz. Am 25. Februar wurde der Ausnahmezustand über die Lombardei und Venedig verhängt, und so fand Hübner die Stadt in gespannter Atmosphäre und die österreichische Obrigkeit in einem Zustand der Lähmung vor. Graf Ficquelmont, den Metternich im August des zurückliegenden Jahres zu Verhandlungen nach Mailand geschickt hatte, erzählte ihm am 5. März beim Abendessen: »Man hat […] von mir das Unmögliche verlangt. Alles was ich that und was Sie thun werden, war und wird vergebene Mühe sein.«94 Wenige Tage später verließen Ficquelmont und seine Gattin Mailand in Richtung Wien, wo er Außenminister der ersten Nach-Metternich’schen Regierung wurde.
Als nun die Nachrichten von Metternichs Sturz und der kaiserlichen Zusage einer Verfassung Mailand am 17. März erreichten, wurde alles nur noch schlimmer: An diesem Abend trafen sich die Anführer der liberalen Opposition, um ihre Reaktion zu besprechen. Einerseits konnten sie abwarten und zusehen, welchen Gewinn die in Aussicht gestellte Verfassung bringen würde, oder sie konnten die Schwäche des Regimes ausnutzen und versuchen, die Österreicher hinauszuwerfen. Letztere Möglichkeit barg große Risiken: Der Oberbefehlshaber über die österreichischen Streitkräfte in Italien, der verschlagene und gefürchtete Marschall Joseph Radetzky, herrschte über eine 13 000 Mann starke Garnison. Deren kaiserliche Soldaten waren der eisernen Disziplin unterworfen, zugleich sie ihrem Kommandanten jedoch loyal und respektvoll verbunden. Der republikanische Lehrer und Intellektuelle Carlo Cattaneo warf ein, dass es gegen eine solche Übermacht keine Erhebung geben könne: Weder hätten die Leute die militärische Führung noch die Waffen für ein solches Vorhaben. Später gab er offen zu, dass er die Gemäßigten im Verdacht hatte, einen vorzeitigen Aufstand provozieren zu wollen, welcher geeignet war, Karl Albert von Piemont zu einer Intervention gegen die Österreicher zu provozieren, um so der Revolution einen monarchischen Stempel zu verpassen und damit die Entwicklung einer republikanischen Bewegung zu schwächen. Nach langer Debatte stimmten die Mailänder schließlich einer friedlichen Demonstration unter der Führung von Graf Gabriel Casati, dem Bürgermeister (podestà) von Mailand, zu. Als der ranghöchste Italiener in einer Kommunalverwaltung hatte er eng mit den Österreichern zusammengearbeitet, war aber auch Patriot. Dieser Loyalitätskonflikt hatte ihn schließlich dazu veranlasst, einem Sohn den Dienst in der piemontesischen Artillerie zu erlauben, dem anderen ein Studium an der Universität von Innsbruck. Dazu bemerkte Cattaneo ironisch, dass »Casati sich am liebsten halbiert hätte, um gleichzeitig beiden Höfen zu dienen; doch da er das nicht konnte, teilte er stattdessen seine Familie«.95 Dennoch leistete Cattaneo früh am nächsten Morgen einen erstklassigen Dienst, als er den Vizepräsidenten Enrico O’Donnell davon überzeugen konnte, die Garnison nicht ausrücken zu lassen, hätte dies die Lage doch nur verschärft. Sicherheitshalber ließ Radetzky seine Männer gefechtsbereit machen, die Stadttore durch Artillerie befestigen und die Wachen auf den Mauern verstärken. Am 17. März fiel Hübner die unheimliche Stille in den nächtlichen Straßen auf: »Hier und da standen wohl einige Männer beisammen die leise sprachen und bei unserem Herannahen auseinander gingen.«96 Der österreichische Vizekönig, Erzherzog Rainer, brach zu seiner eigenen Sicherheit klugerweise nach Verona auf.
Am 18. März erscholl der Ruf: »Männer auf die Straßen, Frauen an die Fenster!« Etwa 15 000 Menschen marschierten, angefeuert und bewunken mit roten, weißen und grünen Taschentüchern. Casati selbst, obwohl ordentlich mit schwarzem Anzug bekleidet, trug eine dreifarbige Rosette, über seinem Kopf flatterte eine italienische Flagge. Frauen warfen dreifarbige Bänder aus den Fenstern. Beim Palazzo del Governo wurde eine Handvoll Wachposten von der allgemeinen Flut mitgerissen. Hunderte von Menschen strömten die Treppen hinauf und fanden O’Donnell im Ratsaal. Der hatte in letzter Minute eingewilligt, die Zensur aufzuheben, doch jetzt, wo ihm eine potenziell gefährliche Menschenmenge gegenüberstand, blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als den Befehl zur Einberufung einer Bürgerwehr zu geben, die sich aus vermögenden Mailändern zusammensetzen würde. Zur Sicherheit wurde der glücklose Vizepräsident als Geisel mitgenommen.
Nun aber schlug der enttäuschte Radetzky zurück, hatte er doch die Ereignisse von der Seitenlinie aus vor Wut schäumend verfolgen müssen. Schon eilten seine Truppen im Sturmschritt durch die Straßen, um Gebäude wie das Polizeipräsidium, den Gerichtshof und das Heeresdepot für Geräte zu schützen. Tiroler Scharfschützen wurden hoch über den marmornen Spitzen des Mailänder Doms postiert, von wo aus sie aus dem Hinterhalt auf alles und jeden schossen – egal ob Aufständische oder Bürger, die ins Kreuzfeuer geraten waren. Schnell türmten die Mailänder in den engen Straßen der Altstadt Barrikaden auf. Von den Kirchtürmen läuteten die Glocken, um die Menschen zu den Verteidigungsanlagen zu rufen. Anfangs waren diese Befestigungen Notbehelfe aus umgedrehten Kutschen, Fässern und hastig gefällten Bäumen. Doch schon bald wurden sie mit Pflastersteinen, Sofas, Betten, Klavieren und Kirchenmobiliar verstärkt. Unter den Ersten, die sie erklommen, waren junge demokratische Republikaner wie der siebenundzwanzigjährige Enrico Cernuschi, Spitzname »der kleine Robespierre«. Der hatte Jura studiert, bevor er das Studium für die Arbeit in einer Zuckerraffinerie aufgab.97 Handwerker und Arbeiter schlossen sich ihnen an. Sie bildeten die Basis dieser spontanen Erhebung. Der Republikaner Carlo Osio etwa eilte von der Demonstration nach Hause, griff eine Pistole, ein Stilett und eine Eisenstange – was ihm mehr das Aussehen eines Straßenräubers als das eines Arztes verlieh, der er eigentlich war. Dann rannte er zurück und half seinem Bruder Enrico und den anderen beim Barrikadenbau. Dabei raste er geradewegs in eine Polizeipatrouille, entkam knapp ihren Kugeln, trat wieder den Rückzug nach Hause an, dieses Mal um Gewehr, Bajonett und Munition zu holen, die er dort deponiert hatte. Er war ein lebendes Arsenal.98
Die konservativen Patrizier hingegen beschworen die Aufständischen, sich zurückzuhalten und das »unvermeidliche Massaker« abzuwenden.99 Doch kaum jemand hörte auf sie – weder die gut betuchten Kaufleute, die ihre Lager öffneten, um den Revolutionären den Zugriff auf Waffen und Wehrmaterial zu erlauben, noch die Apotheker, die bei der Herstellung von Schießpulver halfen, und auch nicht die Studenten, Arbeiter, Frauen und Kinder, die Barrikaden bauten und sich später bei den Kämpfen beteiligten. Als Hübner die Piazza vor dem Dom überquerte, wurde er von einer Menge eingeholt, die mit Schlagstöcken bewaffnet war, »hie und da finstere hohläugige Gestalten, wie man deren in Paris vor Ausbruch eines Aufstands sieht«. Der Himmel, der vom dumpfen Lärm widerhallte, »war bleifarbig, und ein feiner Regen, der später in Strömen fiel, vermehrte das unheimliche der Scene.«100
Während die Mailänder die engen Straßen des Altstadtkerns besetzten, hatten sich die habsburgischen Streitkräfte – größtenteils Kroaten und Ungarn – in den wichtigsten Gebäuden verschanzt und die Stadt eingekreist, indem sie die Mauern besetzt hielten. In den ersten Tagen war das Schicksal des Aufstands, der weder Plan noch Führung folgte, äußerst ungewiss:
»Die Gegenden der Stadt, in denen die Erhebung am meisten Fortschritt zeigte, standen nicht alle miteinander im Austausch … darunter befanden sich sehr breite Straßen, die kaum besiedelt und sehr schwer zu verbarrikadieren waren, auf die das gegnerische Feuer fallen konnte … Man rechnete aus, dass in der ganzen Stadt in jener ersten Nacht nur drei- bis vierhundert Gewehre aller Art zur Verfügung standen.«101
Von der Casa Vidiserti aus wurde eilig eine Bürgerwehr organisiert. Die Villa fungierte anfangs als improvisiertes Hauptquartier der Aufständischen, weil dort Casati, ihr Anführer wider Willen, Zuflucht gesucht hatte. Osio, der wie viele der Aufrührer dort auftauchte, um Befehle entgegenzunehmen, wurde in der neuen Streitmacht zum Korporal ernannt und schließlich dem jungen, demokratischen Adeligen Luciano Manara unterstellt, dessen Abteilung die nächsten vier Tage fast pausenlos im Einsatz war. Zu den ersten Aufgaben Osios gehörte es, den gefangen genommenen Vizepräsidenten O’Donnell zu bewachen, der in die sicherere Casa Taverna in der Contrada de’Bigli überstellt worden war.102 Hier versuchten die Republikaner unter Cattaneo am 19. März die politische Initiative zu übernehmen, indem sie einen vierköpfigen Kriegsrat ins Leben riefen, dem unter anderem Cattaneo selbst und Cernuschi angehörten. Anfangs war dessen Hauptzweck die Einrichtung einer ständigen Führung und die Koordination der militärischen Vorgehensweise: Cattaneo musste seine ganze große Überredungskraft einsetzen, um die jüngeren Hitzköpfe davon abzubringen, hier und jetzt eine Mailänder Republik auszurufen. Wie, so fragte er, solle die Lombardei in diesem Fall die Unterstützung der übrigen italienischen Staaten gewinnen, die noch unter der Herrschaft von Monarchien standen und deren Verfassungen gerade erst das Licht der Welt erblickten? Statt die Freiheit zu genießen, würde Italien in einem Bürgerkrieg versinken. Das war eine kluge Analyse, doch der Kriegsrat schuf dennoch ein republikanisches Machtzentrum – einen Gegenentwurf zu Casatis liberaler monarchistischer Stadtverwaltung.103
Am 20. März war schon bei Sonnenaufgang klar, dass die kaiserlichen Truppen im Straßenkampf alle Mühe hatten. Hübner, der aufgrund der Kämpfe seit dem 18. März nahe des Doms in einer Wohnung festsaß, warf gelegentlich einen Blick über die Balkonbrüstung, von wo aus er Zeuge eines Blutbades wurde. Er sah nämlich, wie zwei berittene ungarische Soldaten durch Gewehrfeuer niedergestreckt wurden und kroatische Infanteristen stoisch in einen Hagel aus Musketenkugeln marschierten. Unter den Aufständischen »konnte keiner gesehen werden: Da gab es Männer, die mit Gewehren, Frauen, die mit Steinen und Kannen voll kochendem Wasser bewaffnet waren, verborgen hinter geschlossenen Fensterläden, sehend, ohne selbst gesehen zu werden. Dieser unsichtbare Feind war es, der eher zu töten als zu kämpfen schien, der auf die Fantasie eines Soldaten einwirkte, die wiederum seine Nerven reizte und ihn demoralisierte.« Der Lärm war ohrenbetäubend: »der Höllenlärm der Schreie, die Evviva-Rufe vermischt mit dem lästigen Läuten der Glocken und dem Maestoso der Kanonen von Vater Radetzky«. Am dritten Tag waren die Fensterläden der Wohnung von Geschossen durchlöchert, von der Straße wehte Pulverqualm herein. Auf dem Dach und im obersten Stockwerk waren Rebellen und feuerten auf die Österreicher hinunter, während die Soldaten ihrerseits nach oben schossen. Ab und an zerrissen Querschläger die Luft um die verängstigten Bewohner, allesamt Frauen. Zu ihrer eigenen Sicherheit brachte Hübner sie in einen innenliegenden Raum, wo sie sich hinter Matratzen zusammenkauerten. (Besonders faszinierte den jungen Österreicher die Gelassenheit einer jungen Schweizerin, »auf deren Beruf ich nicht neugierig war«, die aber an die rauen Sitten des Straßenlebens gewöhnt zu sein schien.)104
Die Zeugen auf der Mailänder Seite waren nicht weniger entsetzt von den Schrecken des Kampfes. Als der Aufstand auf die östlichen Stadtteile übergriff, musste Cattaneo über einen Kanal rudern, um die Lage in der Gegend der Porta Ticinese zu erkunden. Dort bot sich ihm ein hoffnungsloser Anblick. Abseits der Barrikaden »lagen die breiten Straßen leer und verlassen da, alle Häuser waren verschlossen; Geschützdonner … und das unaufhörliche Krachen von Gewehrsalven drangen in die Totenstille; dicker Rauch warf über alles eine trostlose Blässe«. Die Österreicher hatten Mauerlöcher in Wohnungen, Gärten und Stallungen geschlagen, um unbehelligt vom Gewehrfeuer der Straße vorrücken zu können. Frauen und Kinder, die zwischen die beiden Parteien geraten waren, kauerten sich angstvoll in den Häusern zusammen und verstellten Türen und Fenster, um sich vor abprallenden Geschossen zu schützen.105
Später klagten sich beide Seiten begangener Gräueltaten an. Die Mailänder hatten angeblich einen österreichischen Soldaten entdeckt, der eine Frauenhand wegtrug, die der Ringe an ihren Fingern wegen abgetrennt worden war. Ganze Familien sollen den Berichten nach von den habsburgischen Streitkräften eingeschlossen und bei lebendigem Leib verbrannt worden sein. Die Österreicher behaupteten, einer ihrer Soldaten sei an ein Wachhäuschen gekreuzigt worden, auch hätten Mailänder Gefangene geblendet. So wie die Kampfhandlungen sich zugetragen hatten, ist es schwierig, die Behauptungen zu verifizieren, sie beweisen jedoch in jedem Fall, wie aufgeheizt die Stimmung auf beiden Seiten war.106
Immer mehr Aufständische kamen nun an Waffen, entweder weil sie sie gefallenen österreichischen Soldaten abnahmen oder weil sie mit bloßer Übermacht gleich ganze Abteilungen überfielen. Der Bedarf an Munition ließ nach, als eine österreichische Kaserne nach der anderen fiel.107 Radetzky war gezwungen, sein Palais zu verlassen und sich im Schloss einzurichten. Die Barrikaden zu verringern, so sein Entschluss, war nicht möglich, da das Heer für eine zerstörte sofort eine weitere vorfand. Er zog deshalb seine Truppen an die Stadtmauer zurück, von wo aus er die Stadt belagern wollte. Nachdem sich das Kampfgeschehen nun in Richtung Peripherie verlagert hatte, kämpften sich Hübner und die Frauen durch die Straßen und brachten sich im Haus eines Tiroler Bankiers in Sicherheit. Der einzige Weg aus Mailand hinaus führte für den österreichischen Diplomaten Hübner über Verhandlungen mit der Stadtregierung. Dadurch aber wurde er letztlich doch noch zum Gefangenen der Aufständischen. Am 21. März wurde er verhaftet, musste durch Straßen marschieren, in denen die Trikolore flatterte und ein »Lang lebe Italien! Lang lebe Pius IX.!« erschallte.108 Doch schon bald wurde die Kluft zwischen den Mailänder Monarchisten und den Republikanern größer. Als noch am selben Tag Radetzky einen seiner Offiziere für Verhandlungen um einen Waffenstillstand sandte, zögerte Casati, der in dem Angebot vielleicht eine Möglichkeit sah, Zeit zu gewinnen, bis Karl Albert endlich die Zusage machen würde, sein Heer gegen die Österreicher zu schicken. Aus ebendiesem Grund weigerte sich Cattaneo, Verhandlungen über eine Kampfpause auch nur in Erwägung zu ziehen.109 Der Machtkampf zwischen liberalen Monarchisten und Republikanern – die Bruchstelle, die sich durch die ganze italienische Revolution von 1848/48 ziehen sollte – nahm hier bereits Gestalt an.
Mittlerweile brachten die Mailänder ihren ganzen Einfallsreichtum ins Spiel, um den Belagerungszustand aufzubrechen:
»Astronomen und Optiker stiegen die Observatorien und Glockentürme hinauf, um die Bewegungen des Feindes auf den Bastionen auszukundschaften und schickten stündlich Bulletins. Um keine Zeit mit Treppensteigen zu vergeuden … hefteten sie ihre Berichte an einen kleinen Ring, den sie am Ende eines Eisendrahtes nach unten ließen. Cernuschi organisierte auf der Stelle ein Nachrichtensystem, das von den Schülern der Waisenhausschulen bedient wurde … An ihren Uniformen erkennbar, schlüpften sie schnell durch die Menschenmassen, die sich um die Barrikaden sammelten und erfüllten diese Aufgabe mit eben soviel Intelligenz wie Genauigkeit. Bald darauf kam jemand auf den Gedanken, kleine Ballons mit Proklamationen steigen zu lassen, die in der ländlichen Umgebung verteilt werden sollten. Die Kroaten, die auf den Bollwerken campierten, feuerten ihre Gewehre umsonst danach ab … Man unternahm den Versuch, hölzerne Kanonen herzustellen, die von Eisenringen zusammengehalten wurden und eine kleine Anzahl von Schüssen abzugeben vermochten.«110
Mailands originelle Luftpost trug Appelle zu den Lombarden, den Aufstand zu unterstützen. Manche trieben nach Piemont, während andere bis in die Schweiz geweht wurden. Schon wurde dem Ruf Folge geleistet, denn die unabhängig gesinnten Bauern der oberen Lombardei hatten sich erhoben und marschierten in Provinzstädten wie Como und Monza ein, wo sie die Besatzungen der kleinen österreichischen Garnisonen zwangen, schnell den Rückzug anzutreten. Inzwischen hatten Casati und die Gemäßigten durch das überraschende Auftauchen Graf Martinis, der heimlich in die belagerte Stadt gelangt war, Auftrieb erhalten. Dieser und d’Adda hatten am 19. März mit König Karl Albert gesprochen und um militärische Unterstützung gegen Österreich gebeten. Der piemontesische Monarch war bereit, sein Heer zu schicken, vorausgesetzt der Mailänder Magistrat bitte offiziell um Hilfe. Schließlich würde er seine Invasion den anderen europäischen Mächten gegenüber rechtfertigen müssen. Zudem sah sich Karl Albert vor einer heimischen Herausforderung durch piemontesische Radikale, die mit einer eigenen Revolution drohten, sollte der König sich nicht in den Dienst der italienischen Einigung stellen und Soldaten gegen Österreich schicken. Sein wichtigstes Motiv aber waren seine dynastischen Ambitionen: ein norditalienisches Königreich unter der Herrschaft der Savoyer durch eine Annektierung der Lombardei und Venetiens. Auch aus diesem Grund war es nötig, die republikanische Bewegung im Keim zu ersticken, denn diese würde für eine weitergehende italienische Vereinigung auf demokratischer Basis eintreten. Und so kam es, dass Martini zurück nach Mailand kam, die Botschaft des Königs im Gepäck. Verkleidet als Arbeiter, der Salz zu liefern hat, stahl er sich in der Nacht vom 21. zum 22. März in die Stadt.111
Nachdem er die Führungsriege nicht dazu bewegen konnte, Karl Alberts Angebot abzulehnen, fügte sich Cattaneo dem Magistrat und willigte in einen Kompromiss ein. Daraufhin erging die Bitte um Beistand im Namen Mailands an »alle Völker und alle Fürsten Italiens, insbesondere jene von Piemont, ihren streitbaren Nachbarn«.112 Bewaffnet mit diesem Appell kehrte Martini nach Turin zurück. In den frühen Morgenstunden des 22. März bildete Casati schließlich eine provisorische Regierung, die unmissverständlich die Führung des Aufstands beanspruchte. Cattaneo erkannte sie sofort an. Darüber hinaus unterschrieb er eine Bekanntmachung der provisorischen Regierung, in der erklärt wurde, dass politische Auseinandersetzungen bis nach dem Ende der Kämpfe verschoben würden: »Nach dem Sieg [A causa vinta] wird es an der Nation sein, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen.« – »A causa vinta« lautete Cattaneos großes Zugeständnis, es sei, sagte er, »der einzige Befehl, der die Explosion politischer Leidenschaften hinauszuzögern vermochte«.113
Doch die Zeit war auf der Seite der Monarchisten. Es dauerte nicht lange, bis die piemontesische Armee auftauchte und das politische Gleichgewicht entschieden zu ihren Gunsten verschob. Nicht zum letzten Mal hatte ein italienischer Republikaner die Chance auf Machtübernahme vertan. Warum Cattaneo es tat, ist eine interessante Frage. Rückblickend erklärte er es damit, dass die Republikaner ihr Eigeninteresse und ihre Ideale zum Wohle des übergeordneten Kampfes um Unabhängigkeit zurückzustellen bereit waren.114 Wahrscheinlich stimmt es, dass Cattaneo um jeden Preis einen Bürgerkrieg vermeiden wollte, und es scheint, als habe er erkannt, dass die republikanische Bewegung gegenüber den Monarchisten in der Minderheit war. Trotzdem hat er vielleicht das Ausmaß an Unterstützung und Ansehen, das die Radikalen inzwischen genossen, unterschätzt: Der Aufstand hatte die republikanische Bewegung popularisiert, es gab sogar Hinweise auf republikanische Gesinnung in den kleinen Städten und Dörfern der Umgebung. Dennoch war es nicht einfach, diese aufkeimende Sympathie in eine wahrhaft revolutionäre Bewegung zu überführen. Die Handvoll radikaler Anführer in den ländlichen Gegenden konnte sich nicht gegen den dominanten konservativen Einfluss der Großgrundbesitzer und Priester durchsetzen, die die Monarchisten unterstützten. In Mailand selbst konnte sich die provisorische Regierung »a causa vinta« etablieren und die politischen Früchte des Siegs über die Österreicher ernten.115
Höhepunkt der fünf Mailänder Tage: Der Sturm auf die Porta Tosa am 22. März. Das Gemälde zeigt die Einheit unter den Aufständischen: Ein Priester schwenkt die italienische Trikolore, ein Bürger mit Zylinder schließt sich neben Handwerkern dem Kampfgeschehen an, Frauen leisten Unterstützung. (akg-images)
Dieser Sieg wurde untermauert, als die Mailänder am 22. März in einer eintägigen Schlacht einen beherzten Vorstoß gegen die Porta Tosa unternahmen. An der Tosa kamen die österreichischen Bastionen dem Stadtkern am nächsten, und Mailänder Offiziere gaben den entschiedenen Rat, den Feind genau an dieser Stelle zurückzudrängen. Dahinter stand die Idee, nicht nur die Innenstadt zu sichern, sondern das Tor für die lombardischen Rebellen zu öffnen, die man schon in der Ferne erspäht hatte und die nun zu Hunderten die Berge herunterströmten. Nachdem Carlo Osio von den Hausdächern herab die Lage inspiziert hatte, konnte der Kampf beginnen. Um 7 Uhr feuerten die Italiener mit Kanonen und Gewehren Salven aus Fenstern, von Dächern und hinter Gartenmauern hervor auf die österreichischen Posten auf dem Tor, in der Zollstation und der nahegelegenen Casa Tragella. Die kaiserlichen Truppen antworteten mit Congreve-Raketen, wobei ein Haus in Flammen aufging. Der letzte Angriff fand unter dem genialen Schutz beweglicher Barrikaden statt. Was nun folgte, war ein erbitterter Schusswechsel – Osio berichtete später, er allein hätte 150 Kartätschen abgefeuert.116 Manara und ein weiterer Aristokrat mit demokratischen Prinzipien, Enrico Dandolo, waren die Ersten, denen der finale Schlag gegen das Zollhaus gelang. Manara schwenkte die Trikolore, während die restlichen Angreifer hinter ihnen nachdrängten. Frauen, die von benachbarten Balkonen aus zuschauten, feuerten sie an. Schließlich gelang es ihnen, das Tor einzuschlagen. Am Ende konnten die siegreichen Mailänder, die nur noch den Graben auf der anderen Seite des Bollwerks überqueren mussten, endlich die lombardischen Bauern und kleinstädtischen Handwerker in die Arme schließen, die, angeführt von Akademikern und Priestern ihrer Heimat, nun in die Stadt strömten. Radetzkys Belagerung war durchbrochen.
Ab jetzt musste jener also mit der drohenden piemontesischen Invasion und dem Bauernaufstand in den nördlich liegenden Bergen fertig werden. Seine erschöpften Truppen waren zwar noch geordnet, nicht aber imstande, zugleich Mailand zurückzuerobern, der Erhebung auf dem Land zu begegnen und einer Übermacht von Karl Alberts Armee standzuhalten. Um angesichts dieser nicht an die Mauern der Stadt gedrückt zu werden, befahl Radetzky seinen Truppen den Rückzug – nachdem seine Artillerie zur Vergeltung ein Trommelfeuer auf die Stadt hatte niederprasseln lassen. Hübner, der mit seinen Entführern in einem Keller Schutz gesucht hatte, verbrachte dort eine ungemütliche Nacht, während er auf das dumpfe Dröhnen der Gewehre lauschte, auf das »ein eigenthümliches Getöse folgte, etwa wie das Klappern der Holzschuhe eines Mannes, welcher rasch eine Wendeltreppe herabläuft« − das Geräusch einstürzenden Mauerwerks. Das Bombardement dauerte bis ein Uhr nachts, und zu den schlimmsten Zerstörungen kam es in der Nähe des Schlosses, wo die meisten österreichischen Gewehre in Stellung gebracht waren. Der Dom, Kirchen und öffentliche Gebäude indessen wurden nicht beschädigt, hatte Radetzky doch seinen Schützen befohlen, sie zu verschonen. Für ihn stand außer Frage, dass die Österreicher sie schon bald wieder besetzen würden.117 Trotzdem war die Innenstadt mit Bauschutt übersät, Mauern waren mit Einschüssen durchsetzt. Platten lagen über die Straßen verstreut, und noch immer stieg Rauch aus verkohlten Häusern auf. Am 23. März zogen Radetzkys Truppen nach Norden zum sogenannten Festungsviereck Verona–Peschiera–Mantua–Legnano, das den Weg nach Österreich versperrte. Am selben Tag erklärte Karl Albert dem Kaiserreich den Krieg und schickte seine Armee über den Fluss Ticino, seinen persönlichen Rubikon, der ihn von seinen herrschaftlichen Ambitionen trennte. Die ruhmreichen »fünf Tage von Mailand« waren vorbei. Unter den Feiernden befand sich auch Giuseppe Verdi, der noch in Paris weilte, als er die Kunde vernahm. Zügig eilte er nach Mailand zurück, kam aber erst Anfang April dort an. Sogleich schrieb er einem Freund: »Ja, ja, noch ein paar Jahre, vielleicht nur noch ein paar Monate und Italien wird frei, vereint und eine Republik sein. Was sollte es auch sonst sein?«118 Er war nicht allein, denn ein anderer großer Italiener war ebenfalls in Mailand angekommen: der republikanische Revolutionär Giuseppe Mazzini. Der Aufstand war vorbei, doch die komplizierte Politik der italienischen Revolution hatte eben erst begonnen.
Mit ihrer Verhaftung im Januar hatten sich die Venezianer um die beiden Berühmtheiten Daniele Manin und Nicolò Tommaseo geschart. Sobald die Nachricht von Metternichs Sturz am 17. März Venedig mit Lloyds Liniendampfer aus Triest erreichte, konnte nichts mehr die Versammelten zurückhalten. Wie eine Flut brandete die Masse auf den Markusplatz und forderte die Freilassung der beiden politischen Gefangenen. Dann stürmte sie den Sitz des Zivilgouverneurs auf der Piazza, wo sie an der Treppe die verängstigten Bewohner traf, Aloys Graf Pálffy und dessen erschütterte Gattin. Freunde von Manin hasteten unterdessen zum nahe gelegenen Gefängnis, um die beiden Männer zu befreien. Die Kerkermeister dachten sich klugerweise, dass es sicherer sei, zu kapitulieren als Widerstand zu leisten, und brachten die beiden Gefangenen herbei. Manin konnte davon überzeugt werden, dass die Zeit für die Befreiung Venedigs von der österreichischen Herrschaft günstig sei. Als am 18. März kroatische und ungarische Soldaten versuchten, die italienischen Trikoloren einzuholen, die seit dem Tag zuvor auf dem Markusplatz wehten, wurden die Einsätze erhöht. Nun lachte die Menge die Soldaten aus, worauf ein wütender Offizier den Befehl zum Schießen erteilte. Nachdem sich der Rauch von zwei Salven verzogen hatte, lagen neun Venezianer tot oder verwundet da. Weil die Stimmung der Massen jederzeit in Raserei umschlagen konnte, trat Manin mit dem Vorschlag an Pálffy heran, zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Verteidigung des Besitzes, eine Bürgergarde ins Leben zu rufen. Als gemäßigter Republikaner wünschte sich Manin aufrichtig, eine Revolution zu vermeiden, doch natürlich hoffte er auch darauf, die neue Bürgergarde gegen die Österreicher einzusetzen, sobald die Zeit dafür reif war. Pálffy, der hoffte, dass Radetzky schon bald Soldaten zu seiner Hilfe schicken würde, versuchte Manin mit dem Versprechen hinzuhalten, den Vizekönig, Erzherzog Rainer, der gerade in Verona weilte, zurate zu ziehen. Manin durchschaute die List und organisierte trotzig eine zweitausend Mann starke Miliz. In jener Nacht patrouillierten Männer mit weißen Schärpen in den Straßen der Stadt.119
Man hätte den österreichischen Behörden nachsehen können, dass sie meinten, den Sturm vom 19. März überstanden zu haben, als das Versprechen einer kaiserlichen Verfassung aus Triest eintraf. Unter den Rufen »Lang lebe Italien! Lang lebe der Kaiser!« verlas Pálffy der begeisterten Menge die Proklamation Ferdinands. In dieser Nacht ließ das Publikum ihn und seine Frau bei einem Konzert im Theater La Fenice hochleben. Doch es war eben nicht alles in Ordnung! Niemand mochte glauben, dass der habsburgische Kaiser freiwillig eine Verfassung garantierte. Noch immer war die Garnison stark besetzt, und man munkelte, die Armee werde versuchen, die Stadt vom Arsenal aus durch ein Bombardement in die Knie zu zwingen. In diese Angst mischte sich jedoch auch neue Hoffnung: Geschichten über den Aufstand in Mailand machten inzwischen die Runde und hielten den Enthusiasmus der Venezianer am Leben. Manin entschied, dass es jetzt an der Zeit sei, zu handeln, zumal er erfuhr, dass die kroatischen Truppen im Arsenal bald Verstärkung erhalten sollten. Am Abend traf er sich mit anderen venezianischen Revolutionären, sie sondierten ihre umstürzlerischen Kontakte zur kaiserlichen Marine, darunter ein Offizier namens Antonio Paolucci, der versuchen sollte, die italienischen Matrosen für die Unterstützung eines Anschlags auf das Arsenal zu gewinnen. Entscheidend aber waren die fünfzehnhundert Arbeiter – die arsenalotti –, die mit ihren österreichischen Arbeitgebern unzufrieden waren. Dies betraf vor allem ihren Arsenalkommandanten Kapitän Marinovich, der sich geweigert hatte, Zulagen zu gewähren, und den Arbeitern verbot, ihr Einkommen in überlieferter Manier durch das Reparieren von Gondeln und die Beschaffung »herrenloser« Marinevorräte aufzubessern. Das Datum für den Aufstand wurde auf den 22. März festgesetzt. Dann sollte die Bürgergarde mittags durch die Tore des Arsenals einfallen und es mithilfe der Arbeiter zur Kapitulation zwingen.
An diesem Tag agierten die arsenalotti zunächst spontan, sie waren einfach wütend auf Marinovich. Der Kapitän stand praktisch wehrlos da, als der Marineoberkommandant Venedigs, Admiral Martini, aus Angst, die Massen zu provozieren, der kroatischen Wache befahl, sich zurückzuhalten. Paolucci versuchte Marinovich zu helfen, der in einer überdachten Gondel vor den arsenalotti fliehen wollte, doch der glücklose Kapitän wurde gesichtet und auf das Dach gejagt. Man schleifte ihn die Treppen hinunter, schlug ihn zusammen und ließ ihn sterbend in einem Bootshaus zurück. Entsetzt angesichts dieser Brutalität, schickte Manin einen Vortrupp der Bürgerwehr los, um weitere Gewalttaten zu verhindern. Als er selbst mit dem Rest der Miliz eintraf, zitierte er die Arbeiter durch das Läuten der großen Arsenalglocke herbei und übernahm von einem einsichtigen Martini die offizielle Leitung. Ein österreichischer Versuch, das Arsenal zurückzuerobern, misslang, weil die überwiegend italienischen Soldaten sich weigerten, den Befehlen zu gehorchen. Stattdessen richteten sie ihre Gewehre gegen ihren ungarischen Offizier, der dem sicheren Tod nur dank der Vermittlung durch einen Verbündeten Manins entging. Angesichts dieser Meuterei gab der Rest der Italiener in der Garnison auf, sie schlossen sich der Revolution an, rissen sich den österreichischen Adler von den Kappen und ersetzten ihn durch die italienische Trikolore: Die schwarz-goldenen habsburgischen Embleme sah man später zu Hunderten in den Kanälen der Stadt treiben.
Eine Abteilung der Bürgerwehr nahm mühelos die Kanonen ein, die vor dem Markusdom aufgereiht standen. Ihre Geschütze wurden so lange herumgerollt, bis sie auf den Dogenpalast zeigten, wo ein verzweifelter Pálffy Venedigs Magistrat versammelt hatte – fast alles Adelige, die die Stadt davor bewahren wollten, in die schmutzigen Hände von Bürgern und Republikanern wie Manin zu fallen. Während Räte und Zivilgouverneur noch über das beste Vorgehen diskutierten, drang immer mehr Lärm von draußen zu ihnen hinein. Manins Gefolgsleute hatten eine riesige Trikolore mit einer Jakobinermütze obendrauf entfaltet, während Manin selbst vor dem Café Florian auf einem Tisch stand und begeistert »Lang lebe die Republik! Lang lebe Sankt Markus!« rief. Der einzige Republikaner unter den Ratsherren, der freimütige Anwalt Gian Francisco Avesani, forderte den Rückzug aller nicht italienischen Truppen aus Venedig sowie die Übergabe der Festungen, einschließlich der Geschütze, Waffen und Regimentskassen. Außer sich vor Wut legte Pálffy sein Amt als Zivilgouverneur nieder und übergab die Verantwortung dem Kommandeur der österreichischen Garnison, Graf Ferdinand Zichy. Glücklicherweise war der nicht so uneinsichtig wie Radetzky: Er schreckte vor dem Gedanken zurück, Venedig in Schutt und Asche zu schießen, liebte er doch die Stadt. Deshalb übergab er um 18 Uhr 30 die Kontrolle dem Magistrat, dessen Führung jetzt an Avesani fiel. Doch schnell war klar, dass die Venezianer eine Regierung ohne Manin, dem Helden des Tages, niemals akzeptieren würden. Deshalb trat Avesani in den frühen Morgenstunden des 23. März zurück und Daniele Manin wurde zum Präsidenten der neuen Übergangsregierung der Repubblica di San Marco ernannt. Die kaiserliche Armee verließ die Stadt, der offizielle Bericht nach Wien sollte mit den Worten beginnen: »Venedig ist tatsächlich gefallen.«
Kurz bevor Daniele Manin intellektueller Kopf der venezianischen Republik werden sollte, wird er am 17. März aus der Haft befreit und auf den Schultern getragen. Gemälde von Napoleone Nani 1874–76. (akg-images)
VII
Nicht alle europäischen Staaten erlebten im Jahr 1848 eine gewaltsame Revolution. Über die Pyrenäen zum Beispiel drangen nur Ausläufer der französischen Revolutionswellen: In Katalonien gab es gewisse Regungen, in Madrid einen verpfuschten Aufstand und in Sevilla eine Meuterei beim Militär, doch (außer in Madrid) ist nicht klar erkennbar, welchen Anteil die republikanische Bewegung daran hatte. So stellte in Katalonien eine »Carlisten-« oder ultramonarchistische Revolte die größte Bedrohung für die Regierung dar. Die damalige Regierung unter General Ramón María Narváez reagierte auf die europäischen Märzrevolutionen, indem sie in den Cortes4* die Aussetzung der Bürgerrechte, Sondermittel zur Bekämpfung möglicher Erhebungen und die zeitweilige Auflösung des Parlaments (was schließlich neun Monate lang dauern sollte) durchsetzte.120 Mitunter schien Narváez den reaktionären spanischen Militarismus zu verkörpern. Auf seinem Totenbett entgegnete er auf die Bitte, seinen Gegnern zu verzeihen: »Das muss ich nicht, weil ich sie alle erschossen habe.« Doch wenn er auch von autoritären Methoden nicht frei war, hatte er auch liberalere Seiten: So versuchte er zeitlebens, einen gemäßigten konstitutionellen Kurs zwischen katholischem Royalismus und republikanischer Revolution zu halten, allerdings handelte es sich um einen Konstitutionalismus, der – das war seine tiefe Überzeugung – nur den vermögenden Eliten die Macht übereignen sollte. Durch die Unterstützung von Königin Isabella und dem Ruf, Garant politischer und sozialer Stabilität zu sein, schaffte es Narváez, Spanien durch die Revolutionsstürme von 1848 zu führen. Das benachbarte Portugal wiederum stand seit 1846 mit Rückendeckung durch England, Frankreich und Spanien unter der Führung von General Saldhanha, der wie Narváez eine konservative konstitutionelle Ordnung mit der Brechstange gegen Reaktionäre wie Radikale verteidigte.121
England, das zur selben Zeit mit einem kleineren Aufstand in Irland konfrontiert war, verließ sich auf die Stärke seiner Verfassung und die breite Zustimmung seitens der Bürgerlichen, um der radikalen Herausforderung durch die Chartisten zu begegnen, die in den fünf Punkten ihrer People’s Charter von 1838 forderten: allgemeines Wahlrecht für Männer, geheime Wahlen einmal jährlich, gleichmäßig eingeteilte Wahlbezirke, Diäten für Parlamentsabgeordnete, die Abschaffung der Vermögensqualifikation für Abgeordnete. Die Stärke der Chartisten lag in dem politischen Radikalismus der britischen Handwerker und Facharbeiter, doch die Bewegung umfasste verschiedene, manchmal sich widerstreitende Richtungen. Ein radikaler Flügel, verkörpert von Männern wie Bronterre O’Brien und Feargus O’Connor, zog Streiks und Gewalt – oder zumindest ihre Androhung – als notwendige Taktik in Betracht, während eine gemäßigtere Seite, etwa der Londoner Möbelschreiner William Lovett (einer der Autoren der People’s Charter), Druck durch Erziehung, Weiterbildung und Überzeugungsarbeit ausüben wollte. Auf der linken Seite wies die Bewegung eindeutig eine rosafarbene, sozialistische Schattierung auf, auch war sie mit der nationalistischen Opposition in Irland verbunden. In der wirtschaftlichen Not der 1840er-Jahre konnte O’Connor mit scharfer Rhetorik und seiner Zeitung Northern Star, die in einer Auflage von 30 000 erschien, Boden gewinnen.122
Obwohl vieles bloß revolutionäre Rhetorik war, lösten die Nachrichten von der Februarrevolution in Paris in den offiziellen Kreisen die Sorge aus, dass die chartistische Agitation an Schärfe zunehmen und nicht mehr auf Propaganda oder geduldige Eingaben für eine parlamentarische Reform allein setzen würde. Die Alarmglocken läuteten schriller, als es am 6. März in Glasgow und London im Zuge eines parlamentarischen Antrags für eine (tatsächlich zurückgezogene) Erhöhung der Einkommenssteuer zu Gewaltausbrüchen kam. In Glasgow war die Lage ernster: Die meisten Demonstranten waren arbeitslose Arbeiter, die Bäckereien plünderten und Geländer herausrissen, um sie als Waffen zu benutzen, bevor die Obrigkeit schließlich Soldaten aufbot, um ihnen die Leviten zu lesen. Bei der anschließenden Schießerei wurde ein Demonstrant getötet, zwei wurden tödlich verwundet. »Wie ein Buschfeuer«, berichtete die Times, »verbreitete sich der Weckruf in der Stadt und führte im Verbund mit den letzten Ereignissen in Paris überall zur Sorge vor politischen Unruhen.«123 Die Londoner Krawalle spielten sich auf dem Trafalgar Square ab, wo eine Kundgebung, obwohl von der Polizei verboten, rund zehntausend Leute anzog. Sie lauschten den chartistischen Rednern, die von den Herrlichkeiten der französischen Republik erzählten und mit Hochrufen auf die People’s Charter und das neue Regime in Frankreich schlossen. Es folgten Handgemenge mit der Polizei, und eine kleine Gruppe von etwa zweihundert Protestlern warf Schaufenster ein und Straßenlaternen um. Die Kutsche einer Dame wurde zum Stehen gebracht und sie selbst als »Aristokratin« beschimpft. Doch da ihr Ehemann erst kürzlich in den Adelsstand erhoben worden war, verzeichnete sie dies als Lob. Alles in allem zeigte dieser Tag, dass der »Londoner Pöbel zwar weder heroisch noch poetisch, weder patriotisch, aufgeklärt noch sauber, eine vergleichsweise gutmütige Gesellschaft ist«, kommentierte die Times mit patriotischer Distanziertheit.124
Doch die Gefahr war wohl noch nicht gebannt, denn drei Tage später riefen die Chartisten für den 10. April 200 000 Menschen zu einer Kundgebung auf dem Kennington Common im Süden Londons auf, von wo aus die Demonstranten zum Parlament marschieren wollten, um der geforderten Parlamentsreform Nachdruck zu verleihen. Sollte dies, wie der sozialistische Chartist Ernest Jones meinte, in anderen Städten Nachahmung finden, dann würde das Parlament unter dem großen Druck nachgeben und die People’s Charter zum Gesetz erhoben. Die Angst vor einer drohenden Revolution befiel nun die Öffentlichkeit, und das umso mehr, als am 4. April in London eine Versammlung der Chartisten stattfand. Einer Bevölkerung, die in der Presse über die Pariser Revolution und deren sozialistische Clubs gelesen hatte, erschien dies als unheilvoller Versuch einer britischen Nachahmung. Und die Rhetorik der Chartisten trug das Ihre dazu bei, diese Ängste zu schüren: Am Vorabend der Demonstration sagte Jones der jubelnden Versammlung: »So wahr mir Gott helfe, ich werde morgen in der ersten Reihe marschieren, und sollten sie irgendwie Gewalt ausüben, werden sie keinen Tag länger im Abgeordnetenhaus sitzen.«125 Die Regierung war so weit alarmiert, dass sie Königin Viktoria und ihre Familie bat, sich auf ihren Landsitz Osborne House auf der Isle of Wright zu begeben. Unter Mitwirkung des betagten Herzogs von Wellington bereitete sich die Obrigkeit auf eventuelle Schwierigkeiten vor, indem sie auf den Themsebrücken Polizisten stationierte, während sie die Truppen diskret außer Sichtweite, aber doch nahe an strategisch wichtigen Punkten beließ. Die Bank von England wurde mit Sandsäcken und Kanonen bewehrt. An die 85 000 Einwohner wurden als Sonderpolizisten vereidigt, was Charles Dickens dazu veranlasste, diese Angelegenheit mit der Begründung abzulehnen, dass »Sonderpolizisteritis« ansteckend sei.126 In der Tat machte die überwältigende Unterstützung der Regierung durch den Mittelstand, angefangen bei den Wohlhabendsten bis hinunter zum Kleinbürgertum der Ladenbesitzer, Angestellten und dergleichen, die Situation in London vom April zu einer gänzlich anderen als die vom Februar in Paris.127
Auch die Chartisten selbst übten Zurückhaltung. Trotz der starken Worte wollte der Protest in erster Linie Druck erzeugen und nicht die Säuberung des Parlaments oder den Sturz der Regierung bewirken. Jetzt, da man sah, welche Machtmittel aufgeboten wurden, zeigte sich selbst der hitzköpfige Feargus O’Connor einigermaßen erleichtert, als er von der Polizei erfuhr, dass die Massenveranstaltung, nicht aber der Marsch zum Parlament genehmigt worden sei, während er noch auf ein Fuhrwerk kletterte und den angespannten Chartisten befahl, »ihre Sache nicht durch Unbeherrschtheit und Unfug zu gefährden«. Auch ein widerwilliger Jones stimmte zu, da er den Eindruck hatte, die Bewegung sei noch nicht reif für den »Versuch eines Zusammenstoßes mit der Obrigkeit«.128 Am Ende wurden die Forderungen der Chartisten von einer kleinen Delegation unter der Führung O’Connors überreicht. Im Parlament verspottete man die Petition – insbesondere amüsierten sich die Abgeordneten über die gefälschten Unterschriften (ein Witzbold hatte als »Königin Victoria« unterzeichnet). Es könnte allerdings sein, dass das Gelächter weniger dem Spott als vielmehr der Erleichterung geschuldet war. Ein erleichterter Palmerston, damals englischer Außenminister, erklärte den 10. April zum siegreichen »Waterloo des Friedens und der Ordnung«.129 Und auch wenn es nicht sofort deutlich wurde, so war den Chartisten doch der Wind aus den Segeln genommen worden, und während noch ein radikaler Flügel im Sommer auf Gewalt setzen sollte, wurden doch die meisten ihrer Anführer, darunter Jones, inhaftiert.
Die Niederlage der Chartisten 1848 war auf jeden Fall für das Scheitern des Widerstands in Irland mitverantwortlich, denn nun brauchte die Whig-Regierung in London keine Zugeständnisse an die irischen Nationalisten zu machen, als sie mit ganzer Kraft gegen eine revolutionäre Bedrohung in Großbritannien vorging. Fast augenblicklich verstärkte auch der Lord Lieutenant im Dublin Castle den Druck: Im März wurden die Anführer der nationalistischen Bewegung des »Jungen Irland« – William Smith O’Brien, Thomas Francis Meagher und John Mitchel – inhaftiert und der Volksverhetzung angeklagt. Unruhestifter wollte die Regierung zum Schweigen bringen, bevor sie einen Revolutionssturm unter einer Bevölkerung entfachen konnten, die durch die Hungersnot am Boden lag (O’Brien hatte die britische Regierung bereits beschuldigt, dass sie Hunderttausende von Iren absichtlich habe sterben lassen).130 Der Präventivschlag war jedoch kontraproduktiv, denn dadurch wurden die drei Männer zu Nationalhelden. Der Prozess gegen die ersten beiden indessen scheiterte, weil die Geschworenen zu keinem Urteil fanden, und als Mitchel zu vierzehn Jahren Deportation verurteilt wurde, wurde die zuvor in sich zerstrittene nationalistische Bewegung zur Einigkeit gedrängt. Die Gemäßigten der »Repeal Association« (sie wurde so genannt, weil sie die seit 1800 bestehende Union Irlands mit Englands rückgängig machen wollte) unter John O’Connell verbanden sich mit dem eher militanten »Jungen Irland« zur »Irish League«. Die mehr als siebzig »Confederate Clubs« des »Jungen Irland«, mit insgesamt rund 20 000 Mitgliedern, die meisten davon aus Städten (etwa die Hälfte aus Dublin) durften sich bewaffnen und fungierten als irische »Nationalgarde«. Im Falle eines Falles waren die Waffenbestände jedoch knapp, zudem hatten die Konföderierten nicht genug Zeit für eine angemessene Ausbildung. Dennoch provozierte das ganze Gepolter eine weitere Phase der Unterdrückung seitens der Regierung: Im Juli verbot sie in Dublin den Besitz von Waffen, setzte die Habeas-Corpus-Akte aus und inhaftierte mehrere Konföderierte. In Anbetracht der Repressionen war es für diese schwer, einen Kurs der Mitte zu halten, doch die Führungsriege der League stimmte – wenn auch mit sehr knappem Vorsprung – dafür, auf eine bessere Gelegenheit zum Aufstand zu warten. Sie autorisierte die konföderierten Clubs, sich mit Waffengewalt zu verteidigen, aber nicht, sich zu erheben. Nur Smith O’Brien und ein paar andere Mitglieder des Jungen Irland, darunter Meagher, machten unermüdlich weiter. Ende Juli versuchten sie, die Gegend um Kilkenny zu einer Revolte aufzustacheln, konnten aber nur ein paar Hundert Rekruten zusammenbringen. Smith O’Brien und seine engsten Mitstreiter zogen letztlich in einem Gehöft und seinen Kohlbeeten Stellung. Es kam zu heftigen Schusswechseln, bei denen die Blitze aus den Polizeimusketen das Dunkel erleuchtet haben sollen. Meagher, der später mit Auszeichnungen auf der Seite der Union im Amerikanischen Bürgerkrieg diente, behauptete rückblickend, die irischen Revolutionäre hätten an diesem Tag so viel gefeuert wie er in Gettysburg.131 Die Aufständischen zerstreuten sich, Smith O’Brien aber wurde später an einem Bahnhof aufgegriffen und nach Tasmanien deportiert.132
Die überkommene Ordnung auf den Britischen Inseln ging somit aus dem Trauma von 1848 unbeschadet hervor. Andere europäische Regierungen – etwa die der Niederlande und Belgiens – machten rechtzeitig Zugeständnisse, bevor die oppositionelle Dünung zu einer ernsthaften Flutwelle anschwellen konnte. Russland schlug indessen den entgegengesetzten Kurs ein und unterdrückte schonungslos das Aufflackern jedweder revolutionären Opposition, auch die schwedische Regierung setzte Gewalt ein, um Forderungen nach einer Reform eine Abfuhr zu erteilen.
In den Niederlanden hatte König Wilhelm II., der unter parlamentarischen Einschränkungen regierte, die in der Verfassung von 1815 so nicht existierten, im Vorfeld der europäischen Revolutionen erklärt, dass er bereit sei, sich die Vorschläge der Generalstaaten über eine sanfte konstitutionelle Reform anzuhören. Als jedoch die Zeit für die Debatte am 9. März gekommen war, ergoss sich gerade die Revolutionswelle einer Kaskade gleich über den Kontinent. Wilhelm ignorierte den Rat einer Kabinettsminderheit und stemmte sich gegen jede Reform, die über den ursprünglichen Verfassungsentwurf hinausging. Die allgemeine Enttäuschung darüber fasste der Führer der Liberalen, Johan Thorbecke zusammen, indem er das Gesetz »einen kleinen, armseligen Löffel voll aus unserem Wasserkessel« nannte.133 Doch vier Tage später, unter dem Einfluss von (unglaubwürdigen) Berichten, nach denen die Einwohner von Amsterdam unruhig würden, schwenkte der König, ohne zuvor sein Kabinett konsultiert zu haben, um und berief die Abgeordnetenkammer ein, um ein tiefgreifenderes Reformprogramm zu diskutieren. Seine konservativen Minister traten geschlossen zurück und lösten damit allgemeinen Jubel aus, der sich vom 14. bis 16. März in Den Haag schon bald in eine friedliche Demonstration verwandelte, um Thorbeckes Forderung nach einer unabhängigen Reformkommission Nachdruck zu verleihen. Nach langem Zögern (nicht zuletzt ausgelöst durch den plötzlichen Tod seines Sohnes) ernannte der König eine Kommission, die ihrerseits ein neues Kabinett einsetzte und weitreichende Reformen formulierte, darunter Presse-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Religionsfreiheit. (Dieser letzte Punkt war für die große katholische Minderheit, die sich bisher als Bürger zweiter Klasse gefühlt hatte, wesentlich.) Die Minister sollten dem Parlament verantwortlich sein, das – wenn auch mit eingeschränktem Wahlrecht – direkt und in gesetzlich festgelegten Abständen gewählt werden sollte. Als diese Vorschläge am 19. Juni dem Parlament vorgelegt wurden, lehnten die Konservativen das meiste davon ab. Damit befanden sich die Holländer in der (für 1848) eigentümlichen Situation, eine Regierung zu besitzen, die versuchte, ein politisches Reformprogramm umzusetzen, aber von einer gewählten Volksvertretung abgeschmettert wurde. Am Ende wurde ein Kompromiss herausgeschlagen, und die verschiedenen Zusatzvorschläge wurden alle durch das neue Parlament verabschiedet, das im September gewählt worden war. Das bedeutete, dass die Niederlande von 1848 bis 1853 eine liberale Regierung unter Thorbecke besaßen, während sich überall in Europa die Reaktion durchsetzte. Dem amerikanischen Botschafter zufolge bot dies »den Freunden der Freiheit in ganz Europa ein tröstendes Schauspiel«.134 Die Ereignisse von 1848 bestärkten die Niederlande außerdem in der Überzeugung, gerade weil sie ein kleines und schwaches europäisches Land ohne große internationale Mission waren (auch wenn sie noch immer zu den Kolonialmächten zählten), von der Notwendigkeit einer starken Regierung mit entsprechenden Sanktionen entbunden, und es sich leisten zu können, ihren Untertanen größere Freiheiten zu gewähren. So gesehen ermöglichten die Ereignisse von 1848 den Holländern, sich über den (seit dem späten 18. Jahrhundert) offensichtlichen Abstieg der Niederlande als Weltmacht hinwegzutrösten, durften sie doch annehmen, dass ebendiese Tatsache die holländischen Freiheiten überhaupt erst möglich gemacht hatten.135
Im benachbarten Belgien kam es indessen unter anderem deshalb zu keiner Revolution, weil die Verfassung (1831), hervorgegangen aus dem Kampf um Unabhängigkeit von den Niederlanden, noch sehr jung war: Vor 1848 wurde sie allerorten von Liberalen als Modell bewundert. Gerüstet mit einer parlamentarischen Ordnung, die überall in Europa oppositionelle Maßstäbe erfüllt hätte, wurde die konstitutionelle Monarchie Belgiens deshalb kaum von der republikanischen Bewegung erschüttert. Lediglich im Februar und März gab es hier ein kleines Strohfeuer. In dem am stärksten industrialisierten Land Europas herrschte viel Armut. Sozialistische Agitation und Märzkrawalle wurden allerdings unter der Regierung des klugen Liberalen Charles Roger schon am Zweiten des Monats mit einer Ausweitung des Wahlrechts beantwortet, was die potenzielle bürgerliche Führungsschicht der Opposition beschwichtigte. Die wirtschaftliche Not wurde durch Investitionen in öffentliche Bauvorhaben, die Gewährung von Armenhilfe und die Verbesserung des Armenhaussystems sowie der öffentlichen Pfandhäuser angegangen. Diese zeitlich beschränkten Maßnahmen halfen, die allgemeine Not zu lindern, und nahmen der radikalen Opposition den Stachel. Als sich die Regierung mit dem Einzug von ausgebürgerten Republikanern konfrontiert sah, die Ende März über die französische Grenze kamen, konnte sie dieser Bedrohung mühelos begegnen und ihr ein Ende bereiten. Auch fühlte sich die Obrigkeit stark genug, um die siebzehn Todesurteile, die über die Aufständischen verhängt wurden, nicht auszuführen. Bei den Wahlen im Juni siegte sie dennoch. Hinzu kommt, dass noch keine flämische Nationalbewegung existierte, die Belgien mit einem ethnischen Konflikt hätte bedrohen können.136
Der König von Dänemark, Friederich VII., setzte die Verfassungsreformen um, in die sein Vater Christian VII. gegen Ende seines Lebens unter dem Druck der Liberalen eingewilligt hatte. Er schuf die Vereinigte Ständeversammlung, die mit legislativer und fiskalischer Macht ausgestattet war. Als der neue König das Edikt unterschrieb, das den Absolutismus abschaffte, herrschte eine »so große Stille, dass die Striche der Feder deutlich zu hören waren«. Das war am 29. Januar 1848. Der Zeitpunkt war reiner Zufall.137
Während in den Niederlanden und Dänemark Zugeständnisse gemacht wurden, sah es in Russland und Schweden ganz anders aus. In Stockholm wurde am 18. März ein Bankett abgehalten, bei dem auf Bannern Reformen und eine Republik gefordert wurden. Sofort wurde die Armee aufgeboten. Dreißig Menschen wurden getötet, und die Hauptstadt blieb mehrere Tage lang unruhig, bevor wieder Stille einkehrte. König Oskar I., der vor 1848 im dem Ruf stand, liberal zu sein, stellte sich jetzt gegen eine politische Reform, und es sollte mehr als zehn Jahre lang keine Ausweitung des Stimmrechts in Schweden geben. In Norwegen, das sich seit 1815 in einer politischen Union mit Schweden befand, tagte in Oslo (damals Christiania genannt) eine Delegiertenversammlung, die die Sektionen einer den Chartisten ähnlichen Bewegung repräsentierte und unter der Führung des Sozialisten Marcus Thrane das allgemeine Wahlrecht für Männer sowie eine Sozialreform verlangte. Die Tagung wurde gewaltsam aufgelöst, 117 Anwesende wurden gefangen genommen, darunter Thrane, der vier Jahre bekam, bevor er in die USA ausreiste.138
Reagierten die Obrigkeiten in Schweden und Norwegen schon mit Härte, dann waren die anfänglichen Repressionen in Russland sogar noch stärker. Als er von der Februarrevolution in Paris erfuhr, stürzte Zar Nikolaus I. angeblich in einen Ballsaal des Palastes und verkündete: »Meine Herren, sattelt die Pferde! In Frankreich wurde eine Republik ausgerufen.«139 Tatsache war, dass sich der Zar weigerte, überstürzt zu handeln – zumindest in Sachen auswärtiger Politik. Er mobilisierte einen Teil der Streitkräfte entlang der westlichen Grenzen des Reiches und erklärte seine Bereitschaft, sich den Feinden zu stellen, »wo immer sie auftauchen«. Doch das war eine rein defensive Haltung, denn er erklärte auch, dass Russland in Europa nicht intervenieren werde, »solange nicht die Anarchie die Grenzen überschritt«.140 Nikolaus’ Ankündigungen legen nahe, dass er in auswärtigen Angelegenheiten besonnen verfahren würde, doch gleichzeitig wird deutlich, dass er besorgt war, die »politische Krankheit« könnte in sein Reich vordringen, das alles andere »als immun gegen Ansteckung« war, wie der preußische Gesandte schrieb.141 Aus diesem Grund war die russische Teilmobilmachung kein Vorbote eines gegenrevolutionären Angriffs auf Europa, sondern der Versuch, den kriegsähnlichen Tönen aus Deutschland zu begegnen, wo übereifrige Liberale, um Polen zu befreien und Deutschlands Einheit zu verfestigen, zu einem Revolutionskrieg gegen Russland aufriefen. Zugleich zielte sie darauf ab, den unterdrückten Polen deutlich zu machen, dass eine Erhebung, wie sie 1831 versucht worden war, nicht der Wiederholung wert sei. Obwohl viele Europäer (was vielleicht zu verstehen ist) Russlands Pläne fürchteten, hatte Nikolaus nicht die Absicht, einen großen europäischen Krieg zu provozieren. Ihm war sehr wohl bewusst, dass sich England zunehmend über die Ausweitung der russischen Einflusssphäre, insbesondere im Mittleren Osten und in Asien, beunruhigt zeigte; auch sah er England als die einzige Großmacht an, die von der Revolution unberührt geblieben war und als möglicher diplomatischer Partner bei der Wiederherstellung der Stabilität auf dem Kontinent infrage kam. Darüber hinaus fürchtete er, dass das Revolutionsvirus Russland infizieren könnte. Instinktiv zielte er deshalb nicht auf einen Schlag nach außen, sondern auf die Isolation seines Reiches vom restlichen Europa und eine Wendung nach innen, um jede Form von innerstaatlichem Protest zu unterdrücken.
Ende März verbot er die Veröffentlichung von Nachrichten, die die europäischen Revolutionen betrafen, beorderte alle russischen Untertanen, die sich im Ausland aufhielten, nach Hause zurück (was sich als kontraproduktiv erwies, weil nun mehr als 80 000 aufgebrachte oder auch besorgte Leute bei ihrer Heimkehr einfach die Geschichten, deren Zeuge sie geworden waren, zum Besten gaben). Ferner untersagte er allen Russen das Verlassen des Reiches und verbot Ausländern die Einreise (ausgenommen waren Kaufleute und solche, die die ausdrückliche Erlaubnis des Zaren besaßen). So wie er versucht hatte, Russland durch einen Kordon zu isolieren, versuchte Nikolaus jede Äußerung der Abweichung im Innern zwar sanft, aber zu unterbinden. Am 2. April (nach dem damals geltenden russischen Kalender, der zwölf Tage hinter der gregorianischen Version datiert) rief er ein Komitee ins Leben, das die staatlichen Zensoren überwachen sollte, die jetzt als zu locker galten. Zu den Ersten, die das Brennen des zaristischen Peitschenhiebs zu spüren bekamen, gehörten somit nicht die Revolutionäre, sondern treue Diener der Regierung. Einer der Gründe für die Einsetzung des »Komitees des 2. April« war, dass der Minister für Volksaufklärung, Sergei Uwarow, als zu »liberal« empfunden wurde – obwohl er der Schöpfer der vom Regime vertretenen Ideologie des »offiziellen Nationalismus« war, demzufolge ein treuer Untertan christlich-orthodox, gehorsam gegenüber dem Zaren und voller Liebe für Russland zu sein hatte. Uwarow mag durchaus zu den weniger naiven Ministern Nikolaus’ gehört haben, doch ein verrückter Radikaler war er nicht.142 Intellektuelle mussten schon immer sehr darauf achten, auf welche Weise sie ihre Ideen formulierten, aber Puschkin, Gogol, Lermontow und ihresgleichen gegenüber war man eher nachsichtig gewesen. Jetzt wurde es ausgesprochen eng. Den langfristig größten Schaden richtete allerdings an, dass Nikolaus, der scheinbar ernsthaft nach Wegen gesucht hatte, das Problem der Leibeigenschaft zu lösen, und zumindest eine Reihe von Erlassen auf den Weg gebracht hatte, die das Leben der Bauern erleichtern sollten, sich jetzt von jeglicher Reform distanzierte.
1849 wurden die Daumenschrauben sogar noch fester angezogen: Die Obrigkeit holte zu einem harten Schlag gegen einen Kreis von St. Petersburger Intellektuellen aus, an deren Spitze Michail Petraschewski stand. Während der 1840er-Jahre hatte sich diese Gruppe, zu der auch der angehende Schriftsteller Fjodor Dostojewski gehörte, getroffen, um über den Zustand der russischen Gesellschaft, über neue Ideen und die Zukunft − darunter sozialistische Lösungen für Armut, Leibeigenschaft und Unterdrückung − zu diskutieren. Mit der Publikation eines Fremdwörterbuchs hatten sich die Autoren 1845 einen Freiraum geschaffen, um ihre Konzepte zu besprechen und auch ihre Bedeutung zu definieren und so einige ihrer Ideen in Umlauf zu bringen. Trotz allem handelte es sich um keine revolutionäre Vereinigung. Es gab ein paar Hitzköpfe, allen voran Nikolai Speschnew, der bei der Nachricht von der Februarrevolution in Paris sofort einen Staatsstreich und die Ermordung des Zaren in Gang setzen wollte. Die meisten Petraschewzen, wie die Mitglieder des Kreises genannt wurden, waren begeisterte Revolutionäre, erinnerten sich aber an das Schicksal der Dekabristen – liberale Armeeoffiziere, die mit ihrem Versuch, den Zaren 1825 in einem Militärputsch zu stürzen, gescheitert waren. Diese vorsichtigere Mehrheit, zu der auch Petraschewski selbst gehörte, plädierte für eine langsame fabianische Vorgehensweise, sie wollte durch nachhaltige Propagandakampagnen bei den Bauern den Boden bereiten, die Herzen gewinnen und das Bewusstsein wandeln, damit die Revolution, wenn sie in der fernen Zukunft endlich ausbrechen würde, auf die Unterstützung der Massen zählen konnte. Es kam zu einer scharfen Spaltung, und Speschnew und die Extremisten begannen, sich auf eine bevorstehende Bauernrevolution vorzubereiten.
Doch die Zurückhaltung der Mehrheit ihrer Mitglieder nützte den Petraschewzen nichts. Seit Februar 1748 standen sie unter scharfer Beobachtung, und nur die langsame Beweisaufnahme verzögerte das unausweichliche Durchgreifen von Regierungsseite. Ein verdeckter Ermittler der Dritten Abteilung (der Geheimpolizei des Zaren) enthüllte 1849 seinen Vorgesetzten Speschnews Pläne. In der Nacht zum 23. April schlugen die Verantwortlichen zu und verhafteten 252 Leute, die alle verhört wurden. 51 wurden des Landes verwiesen und 21 zum Tode verurteilt.143 »Eine Handvoll unbedeutender, meist junger und sittenloser Menschen hat versucht, die heiligen Rechte der Religion, des Gesetzes und des Eigentums mit Füßen zu treten«, hieß es in der Urteilsbegründung.144 Die Todesurteile wurden umgewandelt, aber erst am Tag ihrer Vollstreckung, am 16. November. Zu den Opfern der Scheinexekution gehörte auch ein traumatisierter Dostojewski, sein Urteil wurde auf vier Jahre Zwangsarbeit in Sibirien verringert. Zu den Geschädigten im Umfeld der Petraschewzen gehörte auch Uwarow, der gezwungen wurde, als Minister für Volksbildung zurückzutreten, nachdem Nikolaus die Zulassungen zum Studium drastisch beschränkt hatte, da er die Universitäten als Brutstätte der politischen Abweichung betrachtete.
In der Konsequenz kam es in Russland zu keiner Revolution, aber langfristig gesehen zahlte das zaristische Regime wohl einen hohen Preis, handelte es sich doch um einen »Pyrrhussieg«.145 Bis 1848 hatten die Vertreter des politischen Systems und die Intelligenzija (Publizisten, Dichter, Historiker und andere, die meisten adeliger Herkunft, die für die bürgerliche Gesellschaft standen) zwar in einer Atmosphäre der geistigen Enge gelebt, aber wenigstens gab es in der beiderseitigen Beziehung ein gewisses Geben und Nehmen. Nach der kompromisslosen Unterdrückung wurde nun aus »getrennten Wegen«146 zwischen Staat und Intellektuellen ein beinahe unüberbrückbarer Abgrund. Die gescheiterte Aufhebung der Leibeigenschaft (Nikolaus hatte bereits deutlich gemacht, dass er sie nicht gänzlich abschaffen konnte) sorgte dafür, dass Russland hinter dem restlichen Europa zurückblieb, welches diese Einrichtung 1848 endgültig abschaffte. Hinzu kam, dass Nikolaus dadurch, dass er die nicht russische Bevölkerung seines Reiches unter der Knute hielt, die Feindseligkeit der Polen, Ukrainer und anderer ihm Untergebener schürte. Diesen politischen Sprengstoff hinterließ der Zar seinen Nachfolgern. Die Defizite des zaristischen Staates und der russischen Gesellschaft wurden in dem verheerenden Krimkrieg von 1854 bis 1856 deutlich, und es war an Zar Alexander, die Scherben aufzusammeln. Dieser unternahm bewundernswerte Schritte, schaffte 1861 die Leibeigenschaft ab und führte weitere Reformen durch. Doch Nikolaus’ harter Kurs gegen politisch Andersdenkende hatte auf beiden Seiten, zwischen dem Staat und dem harten Kern der Opposition, für eine Verhärtung der Positionen gesorgt. Der kompromisslose Charakter der Unterdrückung überzeugte die radikale Intelligenzija ein für alle Mal davon, dass es mit dem Regime keine konstruktive Verständigung geben könne und ein wirklicher Fortschritt nur mit Gewalt zu erreichen sei.147 Die Härte von Nikolaus’ Reaktion auf 1848 sollte dafür sorgen, dass die Kritiker des politischen Systems, die ab den 1860er-Jahren wieder auftauchten, ihrer Enttäuschung diesmal durch eine offene Revolution Luft machten.
Auch wenn diese Länder am Rand Europas nicht die Turbulenzen im Zentrum des Kontinents erlebten, zeigt sich doch, dass sie weder ganz unberührt blieben noch unbeschadet aus der Revolution hervorgingen. Doch trotz dieser Ausnahmen war das, was in den wenigen Wochen zwischen Ende Januar und Ende März geschah, in seiner Schnelligkeit und geografischen Ausdehnung atemberaubend. All diesen Revolutionen lag die Wirtschaftskrise der ausgehenden 1840er-Jahre zugrunde: Auch wenn sich die europäische Wirtschaft von einer Region zur nächsten deutlich unterschied und auch wenn die sozialen Strukturen und politischen Institutionen der Länder variierten, weckte der enorme wirtschaftliche Druck, dem fast alle Menschen auf dem Kontinent unterworfen waren, das allgemeine Gefühl der Not und der Enttäuschung über die Unfähigkeit der Regierungen, die Krise zu meistern. Dennoch erklärt das nicht die revolutionäre Natur der Reaktionen an so vielen Orten in so kurzer Zeit und auch nicht, warum die Revolutionen so erfolgreich waren.
Der erste Grund könnte darin liegen, dass den Aufständen von 1848 die flächendeckende – ja fast universale – Forderung nach politischen Reformen voranging, und zwar in ganz Europa, selbst in Ländern wie England, Schweden und Norwegen, Spanien und den Niederlanden, die es schafften, ohne größere revolutionäre Turbulenzen durch dieses stürmische Jahr zu steuern. Der politische Treibsatz von 1846/47, zu dem der galizische Aufstand, der Sonderbundskrieg in der Schweiz, die Wiederbelebung des Liberalismus in Deutschland, die Spannungen in Italien und die Bankettkampagne in Frankreich gehörten, war symptomatisch für die wachsende Unzufriedenheit der bürgerlichen Gesellschaft mit den Beschränkungen der Restauration. Das waren die Vorboten.
Durch die Eruption in Paris baute sich zunächst eine ordentliche Spannung zwischen den tektonischen Platten auf. Die französische Hauptstadt schickte Schockwellen durch Europa, weil die inzwischen etablierte revolutionäre Tradition Frankreich zur wichtigsten Quelle der Inspiration oder auch der Sorge (je nach Blickwinkel) gemacht hatte. Ob Reaktionäre, Reformer oder Revolutionäre: Alle hatten die große Französische Revolution von 1789 auf positive oder negative Lehren hin befragt. In den ersten drei Monaten von 1848 gab das historische Beispiel so mancher Regierung Anlass zu düsteren Prognosen. Würde es ihnen gelingen, die steigende Oppositionsflut einzudämmen? Dann wieder war es die Erinnerung an das revolutionäre Frankreich von 1790, das seine Dämme gesprengt und die Revolution in die Nachbarländer fluten ließ, welche andere Regierungen zu Zugeständnissen im eigenen Haus bereit machte, um so den erwarteten Herausforderungen durch die Franzosen besser begegnen zu können.
So kam es, dass die Februarrevolution in Paris – eher als die Eröffnungsschüsse, die im Januar in Palermo und Neapel zu hören waren – einen Flächenbrand in Europa entfachte. Die Forderungen, Ideale und selbst einige der Institutionen, die von den 1848er-Revolutionären ins Leben gerufen wurden, nahmen manches aus den Modellen von 1789 in sich auf: Sicherheitsausschuss und Nationalgarde der Budapester Märzrevolution sind einschlägige Beispiele. Doch auch gemäßigte Liberale hatten Erinnerungen an 1789, sie bewunderten die Freiheiten, die damals errungen wurden, waren aber ängstlich darauf bedacht, dass es nicht zu einer Wiederholung der Ereignisse von 1792–94 kommen würde, hatte es sich doch gezeigt, dass Terror und soziale Konflikte die möglichen Konsequenzen einer Revolution – und vielleicht sogar der Demokratie – waren.148
Die Pariser Ereignisse waren 1848 nicht der einzige Impuls. Bezeichnend ist, dass die Februarrevolution in Frankreich in kleineren deutschen »Mittelstaaten« revolutionäre Bewegungen entzündete, nicht aber in der einen Hauptstadt der beiden im Bund dominierenden Mächte, in Berlin. Dagegen war es die aus der zweiten großen deutschen Metropole, aus Wien, kommende Nachricht vom Sturz Metternichs, die den politischen Druck in der preußischen Hauptstadt verstärkte, bis er am 18. März in einem Aufstand explodierte. Die Märzrevolution in Wien – nicht die Februarrevolution in Paris – brachte zudem die Auflösung der konservativen Ordnung im habsburgischen Reich mit sich. Es stimmt zwar, dass die Bürger von Budapest, Prag, Mailand und Venedig durch die Nachrichten aus Frankreich in Erregung gerieten, doch es bedurfte der Amtsenthebung Metternichs und des kaiserlichen Versprechens einer Verfassung, um die Liberalen zum entscheidenden revolutionären Schub anzutreiben.
Die Ereignisse von Paris und Wien waren zweifellos Initialzündungen, doch schon vor den Revolutionen vom Februar und März 1848 war überall die Opposition gewachsen, wenn auch unterschiedlich stark. Soziale und wirtschaftliche Not im Verein mit den konstitutionellen Forderungen, die ab Mitte der 1840er-Jahre an Dynamik gewannen – dazu die Schwäche und der Vertrauensmangel, die in den Reaktionen der Regierungen zutage traten –, verliehen den Revolutionen ihre explosive Macht und stellten ihren anfänglichen Sieg sicher. Doch die Geschwindigkeit, mit der die Revolution durch Europa fegte, verdankte sie auch der modernen Technologie. 1789 brauchte es – schnell zu Pferde oder unter Segeln – Wochen, bis die Neuigkeiten vom Fall der Bastille ganz Mittel- und Osteuropa erreicht hatten; 1848 wurden solche Nachrichten durch Dampfschiffe und das aufkommende Fernmeldewesen innerhalb von Tagen oder gar Minuten bekannt.
Zudem war die liberale Opposition in der Lage, sich die momentane Schwäche des alten Regimes zum Vorteil zu machen. Dessen Mängel – insbesondere seine Weigerung, etwas anderes zu gewähren als Reförmchen und die allernotwendigsten sozialen Eingriffe – wurden durch das wirtschaftliche Elend noch verstärkt. Das starke Absinken des Steueraufkommens als Folge der hohen Arbeitslosigkeit, des landwirtschaftlichen Desasters und des Abschwungs im Produktionsbereich ließ die Regierungen um den unbegrenzten Einsatz ihrer Streitkräfte fürchten. Doch die Vertrauenskrise war mehr als ein Problem von Finanzkraft und Stärke. Vielmehr hatten die offenere Atmosphäre und die Erwartungen der späteren 1840er-Jahre möglicherweise Minister und sogar einige Militärführer daran zweifeln lassen, ob es ihnen gelingen würde, der Krise zu begegnen. Das Versagen des alten Systems war daher ebenso ein Versagen der Führung, wie es ein Strukturproblem war, das sich in der wirtschaftlichen Krise zeigte sowie in der Kluft zwischen Regierung und bürgerlicher Gesellschaft. Vor entschlossenen Protest gestellt, der durch die reale oder unterschwellige Drohung eines Aufstands noch untermauert wurde, verloren die Obrigkeiten oft genug die Nerven und lenkten entweder kampflos ein oder zeigten konfuse, widersprüchliche Reaktionen auf die Herausforderung seitens der Opposition. Friedrich Wilhelms Schwanken während der Berliner Straßenkämpfe kommentierte General Leopold von Gerlach: »Wir waren damals sämmtlich in dieser Art der Kriegführung so unerfahren, daß wir nicht bedachten, wie jeder Aufschub die Sache verschlimmerte.«149 Der französische Gesandte Adolphe de Circourt, der den Rückzug der preußischen Armee aus Berlin beobachtete, bemerkte, dass die Soldaten »niedergeschlagen, gereizt, aber gehorsam« waren, »noch nie zuvor waren gute Truppen so unverdient von ihren Anführern im Stich gelassen, ja sogar verleugnet worden«.150 Selbst entschlossene und disziplinierte Soldaten wurden oft genug in die Schlacht entlassen, ohne die dahinterstehenden Ziele oder Strategien, für die sie kämpften, zu kennen. Das traf auf alle Fälle auf Paris zu, wo Louis-Philippe (aus redlichen Gründen) befahl, dass kein Blut vergossen werden dürfe und vor jedem Angriff gegen die Barrikaden Verhandlungen stattzufinden hätten. Solche Befehle verunsicherten die Kommandeure im Hinblick auf ihre nächsten Schritte, sobald die Gespräche gescheitert waren: Sollten sie endlich die Straßen mit Gewalt räumen oder in Reserve bleiben, bis die Regierung entschieden hatte, was als Nächstes zu tun sei? Der Orléanist Charles de Rémusat, der an Louis-Philippes Seite war, als er am 24. Februar abdankte, bemerkte, dass das Selbstbewusstsein des Königs innerhalb weniger Stunden verflogen war: »Wenn ich darüber nachdenke«, resümierte er später, »so ist es unsere Gesinnung, die Kraftlosigkeit unseres Willens, die mich demütigt.«151 Graf von Hübner in Mailand indessen zweifelte nicht an Radetzkys Führungskompetenz, stattdessen gab er dem Mangel an logistischer und moralischer Unterstützung aus Wien oder dem Unvermögen, die Stadt zu halten, die Schuld. Metternich, schrieb Hübner vor den ruhmreichen »Fünf Tagen von Mailand«,
»spricht von Intervention, aber ich sehe nicht, daß hierzu militärische Vorkehrungen getroffen werden. Ich weiß nur, daß Feldmarschall Radetzky […] einige von ihm (Radetzky) als unentbehrlich bezeichnete Verstärkungen verlangt und daß er sie nicht erhalten hat. […] Fürst Metternich steht allein, ist gelähmt, machtlos. Halbe Maßregeln wird man ihm gestatten, schüchterne Versuche hingehen lassen, aber wohin können diese führen? Zu Enttäuschungen, wenn nicht zu Katastrophen.«152
Dennoch war es nicht nur die Schwäche der alten Ordnung, die für den Erfolg der Aufstände verantwortlich war. Die Revolutionäre verfolgten ein gemeinsames Ziel, selbst über soziale und politische Uneinigkeiten hinweg, was ihnen ermöglichte, sich durchzusetzen. In Mailand betonte Cattaneo, der normalerweise das Bürgertum als Triebkraft der nationalen Bewegung sah (ungerechtfertigterweise, da die meisten Wortführer der liberalen Opposition vor 1848 dem Adel entstammten), die gesellschaftliche Geschlossenheit während der »Fünf Tage«. Er beschrieb den Augenblick, in dem unzählige Bauern nach Mailand hineinstürmten, um auf »elegante Frauen zu treffen, die eigenhändig Barrikaden gebaut und Waffen geladen hatten«.153 Als Republikaner war es in Cattaneos Interesse, die soziale Einheit der Mailänder Revolution herauszustreichen, in der um der Unabhängigkeit willen die Grenzen von Reichtum, Armut und Geschlecht überwunden wurden. Seine Sichtweise wird von der anderen Seite der Barrikaden her bestätigt. Hübner, der als Gefangener durch die Straßen von Mailand marschierte, entdeckte bewaffnete Bauern, die Barrikaden bewachten, junge Frauen, die beim Bau von Befestigungsanlagen Hand anlegten, Priester in »großer Anzahl, die Cocarde auf dem breitgekrempten Hute des italienischen Geistlichen, den gezückten Degen in der Hand«, Adelige und Bürger: »Die Flinte schoben sie von einer Schulter zur andern und schienen mehr verwundert als erfreut über die kriegerische Rolle welche die neue Ordnung dem Bürger zuweist.«154 Namentlich die Kirche spielte in Italien eine wichtige Rolle: Als Galionsfigur schaffte es Pius IX., soziale und politische Spaltungen zu überwinden und eindrucksvolles Bindeglied der italienischen Aufständischen zu sein. Doch auch der örtlichen Priesterschaft kam eine wichtige Funktion zu. Als es in Mailand am 18. März zum Ausbruch der Gewalt kam, »erregte« der Erzbischof »unbeschreibliche Begeisterung«, als er angetan mit den drei italienischen Farben in der Öffentlichkeit erschien und, so behauptet Carlo Osio, die Begleitung des Kirchenmanns unter den Ersten war, die Befehl zum Errichten der Barrikaden gaben.155 In Ungarn dagegen rekrutierte sich fast die gesamte revolutionäre Führungsschicht aus Adeligen, Rückhalt fanden sie bei der städtischen Bevölkerung Budapests und durch einen drohenden Bauernaufstand.
Die Bauernschaft verlieh den Revolutionen eine Massenbasis – vorübergehend, wie sich zeigen sollte − und sorgte dafür, dass sich die alte Ordnung nicht auf den ländlichen Raum stützen konnte: In Frankreich, im Westen Deutschlands, in der Lombardei, in Venetien und im Süden Italiens trugen Unruhen unter der Landbevölkerung der Revolution eine breite Basis ein und den Konservativen einen Vertrauensverlust. Bei den städtischen Revolten dagegen bildeten Arbeiter und Handwerker das starke Rückgrat. Ein sympathisierender, aber anonymer Bericht über die Märzrevolution in Berlin behauptet über die neunhundert Borsigarbeiter: »Ihrer heldenmäßigen Tapferkeit und Ausdauer hinter den Barrikaden war es vornehmlich zuzuschreiben, daß in der Nacht des 18. März ein Kampf gekämpft wurde, der die Volkssache in ihrer nicht mehr zurückzustellenden Bedeutung erscheinen ließ.«156 Allerorten nahmen Frauen an den ersten friedlichen Demonstrationen teil, und als die Kämpfe ausbrachen, halfen sie beim Bauen und Reparieren der Barrikaden, luden Waffen, brachten den Aufständischen zu essen, versorgten die Verwundeten oder feuerten die Revolutionäre an, indem sie ihnen zujubelten, Flaggen schwenkten und Parolen riefen – oft mitten im Kampfgeschehen.
Ausschlaggebend war nicht selten das Überlaufen der normalerweise ruhigen Besitzbürger. Am 24. Februar begegnete Tocqueville einem Bataillon der Nationalgarde aus seiner eigenen wohlhabenden Nachbarschaft, die der Julimonarchie abtrünnig wurde: »Die Regierung ist schuld, sie hat die Gefahr zu tragen. Wir wollen uns nicht totschlagen lassen für Leute, die die Geschäfte so schlecht geführt haben.«157 Die Julimonarchie scheiterte, weil ihre Hauptunterstützer – Besitzende, Unternehmer und kleine Geschäftsinhaber, bei denen der Konservativismus auch liberale Züge hatte – in einem Augenblick der Krise weggebrochen waren. Dieselben Leute sollten in den nächsten beiden Jahren Stabilität und Ordnung die sie als Schutzschild vor den die radikalen Kräfte, die im Februar 1848 gleichfalls entfesselt worden waren geltend machen. Wenn auch der Mittelstand manchmal nur halbherzig bei der revolutionären Sache war, vielerorts erwies er sich als entscheidend für den Erfolg der Revolution, denn er stellte die Basis der vielen Bürgermilizen, die entweder schon existiert hatten (wie in Paris, Prag und Wien) oder nun gebildet wurden (wie in Budapest, Venedig und Berlin). Da sich die Bürgermilizen in erster Linie aus Besitzenden und Bürgern rekrutierten, die mit Gesetz und Ordnung in Verbindung standen, schwächte ihr Vertrauensverlust in das alte Regime massiv dessen Fähigkeit, die Straße zu kontrollieren, wodurch dies nur noch durch den (wie sich zeigen sollte) kontraproduktiven Einsatz von regulären Truppen zu bewerkstelligen war. Liberale Adelige, Kleriker, Bürger, Handwerker, Arbeiter, Studenten, Bauern, Frauen, Männer und Kinder, alle trugen auf die eine oder andere Weise ihren Anteil zur Unterstützung der Revolution bei.
Diese soziale Einheit konnte allerdings nicht von Dauer sein. Die Revolutionen von 1848 beruhten in gewisser Weise auf einer, wie Georges Duveau es formulierte, »schwärmerischen Illusion«.158 Diese »Illusion« basierte zum einen auf der Vorstellung, dass die Menschen tatsächlich über das alte Regime triumphiert und sogar seine bewaffneten Streitkräfte besiegt hatten. Daran ist etwas Wahres, doch in den meisten europäischen Staaten, die von Revolutionen infiziert wurden, waren die Strukturen der alten Ordnung angeschlagen und ernsthaft beschädigt, wenn auch nicht völlig zerstört – abgesehen von Frankreich, dem einzigen Land, in dem die Revolution die Monarchie vernichtete. Überall sonst blieb die Monarchie erhalten, und mit ihr Minister und Berater, die entschlossen waren, weitere Reformen aufzuhalten oder die Revolution ganz rückgängig zu machen. Auch behielt jene die Kontrolle über die Streitkräfte – ein Umstand, der, wie noch vor Ende des Jahres deutlich wurde, ausschlaggebend war. Zum Zweiten basierte die »schwärmerische Illusion« auch auf der Idee, dass die Revolutionen einen Neuanfang markieren würden, auf dem dank der Einheit aller Klassen und Menschen das zarte Pflänzchen einer neuen Freiheit und einer neuen, liberalen Ordnung wachsen könne. Dass diese Hoffnung, gelinde gesagt, problematisch war, zeigte sich beinahe sofort, denn die neuen liberalen Regierungen wurden in unterschiedlichem Ausmaß und auf unterschiedliche Weise von zwei grundlegenden Schwierigkeiten bedrängt, die sie am Ende zerrissen. Die erste war die »nationale Frage« – das Problem der politischen Einheit und des Platzes der ethnischen Minderheiten innerhalb einer neuen liberalen Ordnung. Die zweite war die »soziale Frage« – der Umgang mit bitterer Armut, von der breite Bevölkerungsteile zum einen betroffen waren, weil die Wirtschaft einen Strukturwandel durchmachte, und zum anderen, weil in den 1840er-Jahren eine akute Wirtschaftskrise herrschte. Diese beiden Aspekte bilden die Themen der nächsten beiden Kapitel.