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Das Meeting fand in einem Konferenzraum im vierten Stock des Polizeipräsidiums statt. Blaue Plastikstühle waren in mehreren Reihen aufgestellt worden. Davor ein Rednerpult und ein Monitor. Die Fenster gingen auf den Hof hinaus und waren mit einem Sichtschutz versehen, dessen Lamellen halb geöffnet waren. Trotz des Rauchverbots in öffentlichen Räumen, das seit über dreißig Jahren bestand, roch es noch nach kaltem Rauch.

Mila erkannte den abgestandenen Geruch sofort wieder, als sie eintrat. Sie musste nur einmal tief durchatmen, um die Uhr zurückzudrehen und in ihr altes Leben einzutauchen.

Sofort richteten sich die Blicke sämtlicher Anwesender auf sie. Neben der Shutton in ihrem makellosen Nadelstreifenkostüm standen Bauer und Delacroix, die beiden mit dem Fall betrauten Ermittler. Bauer war blond und dick, mit buschigem Schnauzer und finsterem Gesichtsausdruck. Der dunkelhäutige Delacroix schien der Aufgewecktere von beiden zu sein. Außerdem waren anwesend: ein mittelalter Mann in einem blütenweißen Hemd – den Mila als den zuständigen Rechtsmediziner identifizierte – und eine junge Kollegin in der Uniform der Spurensicherung. Sie hatte das spitze, leicht verkniffene Gesicht einer stolzen Polizistin. Auch Corradini hatte sich im Konferenzraum eingefunden, der persönliche Referent der Richterin, der in seinem dunklen Anzug eher wie ein Manager aussah. Mila hatte ihn nie kennengelernt, aber immer dann im Fernsehen gesehen, wenn die Dienststelle sich wieder einmal mit der Klärung eines Falles brüsten konnte. Er war der Stratege hinter der »Shutton-Methode«.

Keiner der Anwesenden begrüßte sie. Nur die Richterin ging ihr entgegen, um sie zu empfangen.

»Herzlich willkommen, Kommissarin Vasquez«, sagte sie mit einem Lächeln.

Mila fühlte sich unangenehm berührt. Sie war keine Kommissarin mehr und trug lediglich ein »Besucher«-Badge um den Hals. Sie konnte sich vorstellen, was in den Köpfen der anderen vor sich ging. Ob sie das Tattoo mit ihrem Namen für die Exkollegen zu einer Komplizin von Enigma machte? Oder lag es allein daran, dass sie von nun an in den Fall involviert war? Auch dass sie ihre Uniform an den Nagel gehängt hatte, sprach nicht gerade für sie. Echte Bullen zogen sich nicht zurück, so lautete die alte Devise. Entweder sie gingen in Rente oder starben im Einsatz.

Auch die Shutton schien die Anspannung zu spüren, tat aber so, als wäre alles in bester Ordnung.

»Fangen wir an.«

Die Richterin setzte sich in die Mitte der ersten Reihe und sorgte dafür, dass Mila neben ihr Platz nahm. Es behagte ihr gar nicht, so exponiert zu sitzen, aber sie hatte keine andere Wahl. Während auch die anderen sich einen Platz suchten, dimmte Corradini das Licht und stellte sich hinter das Rednerpult. Er wandte sich direkt an Mila.

»Wie Sie wissen, haben wir Sie bei Ihrem Eintreffen ein Dokument unterzeichnen lassen, in dem Sie sich zur Geheimhaltung über die hier verhandelten Dinge verpflichten. Anderenfalls droht Ihnen eine Konventionalstrafe wegen Begünstigung von Dritten und Behinderung polizeilicher Ermittlungen …«

Mila war verärgert. Es war wirklich nicht nötig, sie auf diese Selbstverständlichkeit hinzuweisen. Aber sie war nun mal inzwischen eine »Zivile« und musste diese penible Einhaltung von Formalitäten wohl oder übel akzeptieren.

»Ich werde Ihnen erklären, wie wir vorgehen, Ms. Vasquez. Aber zuerst werden die Kollegen Bauer und Delacroix den Mordfall Anderson noch einmal für Sie aufrollen, damit Sie uns Ihren ersten Eindruck schildern können.«

Mila war sich nicht sicher, ob sie eine große Hilfe sein würde. Mit einiger Wahrscheinlichkeit würde sie ihre ehemaligen Kollegen enttäuschen müssen.

»Du kannst den Vortrag jederzeit unterbrechen, um Fragen zu stellen, die dir wichtig erscheinen«, mischte sich die Shutton ein. »Wir wollen herausfinden, warum der Tätowierte dich in den Fall involvieren wollte.«

Die Richterin hatte den Anwesenden offensichtlich untersagt, den Verdächtigen bei dem Namen zu nennen, den die Medien ihm gegeben hatten. Mila aber beschloss, ihn weiter »Enigma« zu nennen.

Bauer ergriff das Wort.

»Okay, rekapitulieren wir, was in besagter Nacht auf dem Bauernhof der Andersons passiert ist.«

Auch wenn die Zusammenfassung eindeutig nur für Mila bestimmt war, wandte der Polizist sich an das gesamte Auditorium – ein unverhüllter Affront gegen die ehemalige Kollegin. Bauer nahm die Fernbedienung und schaltete den unter der Zimmerdecke angebrachten Beamer ein. Auf dem Monitor waren die Fotos vom Tatort zu sehen.

»Ausgehend von Ms. Andersons Notruf, können wir festhalten, dass der Mörder gegen acht Uhr abends auf dem Bauernhof eintraf.«

Ob die Andersons durch das Aufleuchten der Blitze während des Gewitters auf den Eindringling aufmerksam geworden waren? Falls ja, musste ihnen das Ganze wie ein Albtraum vorgekommen sein, eine Fata Morgana. Etwas, an dessen Existenz zu glauben sich das Gehirn im ersten Moment weigerte. Wer hatte ihn zuerst gesehen – Frida, Karl oder eines der Mädchen?

»Er hatte die ganze Nacht, um das Massaker anzurichten. Aber wir nehmen an, dass ihm wenige Stunden genügt haben.« Bauer drückte auf die Fernbedienung. »Erstes Element: die Sichel.« Eine Großaufnahme der Tatwaffe wurde eingeblendet. »Wir gehen davon aus, dass der Mörder sie nicht mitgebracht hat. Vermutlich hat er sie im Geräteschuppen gefunden. Möglicherweise hegte er zunächst gar keine Tötungsabsicht, sondern wollte nur einen Diebstahl begehen.«

Klinge und Griff der Sichel waren mit dunkelroten Blutflecken übersät.

»Es ist uns nicht gelungen, Fingerabdrücke auf der Waffe zu isolieren«, bemerkte die Mitarbeiterin von der Spurensicherung eifrig. »Zu viel Blut.«

»Zweites Element: das Mobiltelefon.«

Das nächste Foto zeigte das Handy, von dem aus der Notruf getätigt worden war. Es lag auf einem Hängeschrank. Durch das Fenster daneben sah man das Eingangstor des Bauernhofs und den Vorplatz.

»Von hier aus hat Ms. Anderson die Polizei angerufen. Obwohl sie wegen des starken Regens nicht gut sehen konnte, was draußen abging, hat die Frau behauptet, ihr Mann hätte vor dem Haus mit dem Eindringling geredet.«

Mila stellte sich Karl vor, wie er seinen ganzen Mut zusammennahm und nach draußen ging, um in Erfahrung zu bringen, was der Fremde wollte. Sicherlich hatte er tief in seinem Herzen schon geahnt, dass der Mann nicht so einfach zu verjagen sein würde. Aber er musste seine Frau und seine Kinder beschützen, daher war er nicht umgekehrt.

»Wir gehen davon aus, dass Karl Anderson den Eindringling wegschicken wollte.«

Vor ihrem geistigen Auge sah Mila Karl die paar Meter zurücklegen, die ihn von dem Mann trennten, während er fieberhaft überlegte, wie er ihn zum Rückzug bewegen sollte. Vielleicht hatte er ihm Geld anbieten wollen, um ihn nicht massiver bedrängen zu müssen und ein Risiko für seine Familie einzugehen. Ihm war bestimmt das Herz stehen geblieben, als er plötzlich das tätowierte Gesicht vor sich hatte, dachte Mila. Angst, Entsetzen, Panik, wie irrational auch immer, mussten in ihm aufgestiegen sein.

»Als Karl Anderson bemerkte, dass der Eindringling eine Waffe bei sich trug, war ihm vermutlich sofort klar, dass er keine Chance haben würde«, ergänzte Bauer. »Was auch immer er gesagt oder getan hätte, es hätte wohl nichts am Lauf der Dinge geändert.«

Dennoch, dachte Mila, hatte er die Form gewahrt. Ja, Karl Anderson hatte es trotzdem versucht. Opfer, die wussten, dass es für sie keinen Ausweg mehr gab, konnten gar nicht anders, als sich mit ihren Henkern zu verbünden. Im ersten Moment zeigten sie, so absurd es auch sein mochte, Verständnis für den Täter. Dann, wenn sie merkten, dass diese Taktik nicht aufging, versuchten sie es auf die Mitleidstour. Viele sadistische Psychopathen zögerten die Tat bis zu diesem verhängnisvollen Moment hinaus, und zwar nicht, weil sie plötzlich von Skrupeln befallen wurden, sondern weil das Flehen ihrer Opfer für sie die größte Befriedigung darstellte.

Auf dem Monitor war ein Foto erschienen, das den Bauernhof aus der Vogelperspektive zeigte.

»Drittes Element: das Blut. Es ist der einzige Beweis für unsere Annahme, dass die Morde vor Ort verübt wurden. Obwohl der starke Regen das Blut außerhalb des Hauses weggespült hat, konnten wir rekonstruieren, dass Karl Anderson im Hof getötet wurde.« Er zeigte den genauen Tatort auf dem Foto. »Anschließend ist der Mörder ins Haus gegangen.«

Es folgten Fotos von den verwüsteten Innenräumen.

Mila stellte sich die Ehefrau vor, die vom Fenster aus ihren Mann zu Boden stürzen sah. Ohne lange nachzudenken, musste sie sich ihre beiden Kinder geschnappt und sie an den vermeintlich einzigen sicheren Ort im Haus gebracht haben: das obere Stockwerk.

»Der Mörder hat seine Aggressionen zunächst an den Möbeln und Einrichtungsgegenständen ausgelassen. Vielleicht suchte er nach den anderen Opfern, vielleicht hat er sich auch nur daran geweidet, sie zu Tode zu erschrecken.« Bauer nickte mit finsterer Miene.

Dann ist er nach oben gegangen, dachte Mila. Kurz meinte sie sogar, die schweren Schritte auf der Treppe hören zu können.

Bauer zeigte Aufnahmen von zertrümmerten Zimmertüren, blutigen Handabdrücken an der Wand, roten Fußspuren auf den Dielen.

»Im Haus haben wir nur Blut von der Frau und den Zwillingen gefunden«, schaltete sich die junge Mitarbeiterin von der Spurensicherung ein. »Was die These unterstützt, dass Karl Anderson als Erster getötet wurde, draußen im Hof.«

»Arterielles Blut«, präzisierte der Rechtsmediziner, der bisher noch kein Wort gesagt hatte. »Dies würde darauf schließen lassen, dass die Opfer keine Fluchtmöglichkeit hatten.«

Bauer schaute starr in Milas Richtung.

»Frida Anderson muss wie eine Löwin gekämpft haben, um Eugenia und Carla zu schützen, davon zeugen die Kampfspuren. Nicht mal das verzweifelte Flehen zweier achtjähriger Mädchen hat den Mörder stoppen können.«

Der Polizist machte eine Pause. Ein bedrücktes Schweigen legte sich über den Konferenzraum.

»Den Rest kann man sich leicht vorstellen«, endete Bauer. »Der Mörder schnappt sich die Leichen, hievt sie in den grünen Kombi und bringt sie Gott weiß wohin, um sich dann seelenruhig in sein Schlupfloch zurückzuziehen.«

Die Untersuchung des Ablaufs der Bluttat war abgeschlossen. Nun galt es, sich Enigmas Persönlichkeitsprofil zu widmen. Bauer gab Delacroix die Fernbedienung und überließ ihm das Pult.

Anders als sein Vorredner wandte sich dieser direkt an Mila.

»Auch im Hinblick auf das Persönlichkeitsprofil des Mörders ist das erste beachtenswerte Element Blut«, begann er. »In dem vorliegenden Fall spielt Blut eine enorm wichtige Rolle. Zum einen befand sich an dem sekundären Tatort – dem Schlachthof, auf dem der Tätowierte lebte – ein Auto, in dessen Innenraum Blut der Andersons gefunden wurde. Zum anderen stellt das Blut des Täters selbst ein Rätsel dar: Laut Laborergebnis war es mit einer chemischen Substanz durchsetzt.«

»PCP «, kam ihm der Gerichtsmediziner zu Hilfe. »Eine halluzinogene Mischung, die auch als ›Engelsstaub‹ bekannt ist.«

Eine synthetische Droge, dachte Mila. Konnte das der Grund für den Furor des Mörders sein? Hatte der Täter unter Einfluss dieser Substanz gehandelt?

»Ich weiß, was Sie sich gerade fragen, Ms. Vasquez«, las Delacroix ihre Gedanken. »Aber wir werden diesem Bastard nicht erlauben, sich aus der Affäre zu ziehen, indem er auf verminderte Schuldfähigkeit wegen Drogenkonsum plädiert.«

»Wie dem auch sei«, mischte sich die Shutton ein, »das ist im Moment nicht unser Problem. Unser Mann weigert sich nämlich nicht nur, mit uns zu sprechen, sondern schweigt sich auch gegenüber dem Pflichtverteidiger aus, der ihm von der Staatsanwaltschaft zugeteilt wurde.«

»Zweites Element: die Identität«, nahm Delacroix den Faden wieder auf. »Weil wir den Namen des Mörders nicht kennen, haben wir versucht, ein Persönlichkeitsprofil zu erstellen … Der Campingkocher, die Lebensmittel, die Kleidungsstücke und andere am Tatort gefundene Gegenstände zeigen uns, dass er in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen. Die Eigenart, sich mit alten oder kaputten Computern zu umgeben, muss keine besondere Bedeutung haben. Vielleicht hat er die Teile verkauft, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Vielleicht deutet es aber auch einfach auf eine obsessiv-kompulsive Störung hin.«

Mila wusste, dass Psychopathen gelegentlich Dinge sammelten, um ihren Besitzanspruch zu manifestieren. Der gleiche Mechanismus griff auch bei ihren Opfern, die sie oft als Dinge und nicht mehr als Menschen sahen. Der Tötungsakt wurde dadurch zu etwas Abstraktem für sie.

Delacroix drückte erneut auf die Fernbedienung. Mehrere Aufnahmen von Enigmas Versteck flackerten über den Bildschirm. Ein Raum mit feuchtem Gemäuer und einem Fußbodenbelag, der sich an einigen Stellen gelöst hatte. Aufeinandergestapelte Monitore aus längst vergangenen digitalen Epochen, Phosphor-Bildschirme, Bildröhren. Von der Zimmerdecke tropfte es auf die Mauer aus Monitoren. Die Computergehäuse, überwiegend noch mit Öffnungen für Floppy Disks oder Disketten, bildeten einen wüsten Haufen in einer Ecke des Zimmers – von Rost zerfressen und teils ausgeweidet bis auf die bloße Hülle. Mila kam sich vor wie auf einer Zeitreise. Es war, als wären seit der Entwicklung dieser Art Computer bereits Hunderte von Jahren vergangen, dabei waren sie gerade mal seit einem guten Jahrzehnt nicht mehr in Gebrauch.

»Unsere IT -Abteilung überprüft derzeit, ob eins von den Teilen noch funktioniert«, fuhr Delacroix fort. »Oder ob vielleicht auf irgendeiner Festplatte Hinweise auf die Identität unseres Mannes zu finden sind.«

Genau das war der Punkt: Enigma schien keine Vergangenheit zu haben.

»All das bringt uns zu der Frage, wie er sich ungestört bewegen konnte, ohne von jemandem bemerkt zu werden.«

Er musste gewusst haben, wie er sich vor den Blicken der Passanten und den Überwachungskameras schützen konnte, dachte Mila. Wahrscheinlich war er nur nachts aus seinem Versteck hervorgekommen, hatte die Gleichgültigkeit der Gesellschaft gegenüber den Armen und Geächteten ausgenutzt, um unsichtbar zu werden, und hatte sie alle an der Nase herumgeführt. Ein Verhalten, das ein beachtliches Maß an Disziplin und Verzicht erforderte. Mila musste zugeben, dass ihr eine solche Willenskraft imponierte.

»Was können Sie zu dem anonymen Anrufer sagen, der ihn gemeldet hat?«, fragte sie.

Delacroix schien aus dem Konzept gebracht.

»Der Anruf kam über einen normalen Telefonanschluss von einem anonymen Anrufer. Was ist daran so ungewöhnlich?«

»Ich finde es seltsam, dass unser Mann erst so lange unsichtbar bleiben konnte und ihn dann plötzlich jemand ohne großen Aufwand findet – mehr nicht.«

»Der grüne Kombi wurde gemeldet, nicht er«, präzisierte die Shutton kurz angebunden. »Und jetzt bitte weiter im Text.«

»Das dritte Element sind die eintätowierten Zahlen des Tatverdächtigen.« Delacroix ließ die Großaufnahmen über den Bildschirm laufen, die die Richterin Mila bereits bei ihrem Besuch am Vorabend gezeigt hatte. »Sie gehen von null bis neunundneunzig, manchmal wiederholen sie sich auch. Aufgrund der Wiederholungen ist es uns gelungen, vier Zahlengruppen voneinander zu unterscheiden: linke Flanke, rechte Flanke, Becken und untere Gliedmaßen, Oberkörper und Kopf.«

Mila hatte die ganze Nacht darüber nachgedacht: Eine Zahlenobsession war bei bestimmten Typen von Psychopathen nichts Ungewöhnliches. Manche Serienkiller stützten sich beispielsweise bei der Entscheidung, wer wann und auf welche Weise ihr nächstes Opfer sein sollte, auf komplizierte Berechnungen oder selbst erfundene Formeln. Weil ihnen die entsprechenden mathematischen Kenntnisse fehlten, war die Logik, nach der sie handelten, oft nur für sie selbst zu verstehen und somit für die Ermittler nicht zu knacken. Die meisten Profiler hielten solche Zahlenspiele daher bei Ermittlungen selten für hilfreich, um den Modus Operandi des Täters nachzuvollziehen.

»Alles so weit klar, Ms. Vasquez?«, fragte Delacroix.

»Ja«, erwiderte Mila. Ihr Ton machte deutlich, dass sie das bis zu dem Punkt Gehörte für die Identifikation des Tätowierten als nicht sehr hilfreich empfand.

Delacroix hielt die Fernbedienung erneut in Richtung Beamer. Ein Porträt Enigmas erschien. Das erkennungsdienstliche Foto war direkt nach der Festnahme aufgenommen worden und zeigte ein Gesicht ohne jeden Ausdruck. Unwillkürlich wich Mila beim Betrachten der Aufnahme auf ihrem Plastikstuhl zurück. Die Augen des Mannes, die von einem Gewirr aus Zahlen umgeben waren, wirkten so durchdringend, dass sie aus dem Foto zu treten und sich in ihren Kopf zu bohren schienen. Die Macht dieses Blickes konnte einem regelrecht Angst einjagen.

»Schauen Sie ihn genau an, Ms. Vasquez: Haben Sie das Gefühl, ihn zu kennen?«

Mila folgte der Aufforderung von Delacroix und studierte das Foto gründlich. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf. Der Polizist ließ sich nicht entmutigen.

»Wir haben das Gesicht des Tatverdächtigen einer Bildbearbeitung unterzogen – der Verdächtige ohne Tätowierungen.«

Das Gesicht, das nun auf dem Bildschirm erschien, war das eines ganz gewöhnlichen Mannes. Bartlos, mit ebenmäßigen Zügen. Er konnte irgendwer sein. Nur die Augen besaßen noch immer dieselbe dunkle Energie, die Mila so verstört hatte.

Wieder musste sie den Beamten enttäuschen.

»Ich kenne ihn nicht. Nie gesehen«, sagte sie.

Ein frustriertes Murmeln breitete sich im Konferenzzimmer aus. Auch die Shutton wirkte enttäuscht.

»Bist du dir sicher?«, fragte die Richterin.

»Ja, absolut«, bestätigte Mila. »Und das, was ich hier erfahren habe, sagt mir auch nichts.«

Wieder brachten die Kollegen ihren Unmut zum Ausdruck. Die Shutton dachte nach und spielte mit dem schweren Goldreif an ihrem Handgelenk.

»Warum haben Sie das bearbeitete Foto nicht an die Öffentlichkeit gegeben?«, fragte Mila. »Ohne die Tätowierungen dürfte doch bestimmt jemand Enigma wiedererkennen.«

»Das fehlte uns gerade noch, dass sich der Mythos vom Monster verbreitet!«, entgegnete die Richterin. »Da draußen im Netz sind schon genug Spinner unterwegs, die voll des Lobes für ihn sind.«

Auch Berish hatte bereits auf die Fanatiker angespielt, doch Mila empfand es trotzdem als falsch, das bearbeitete Foto Enigmas nicht zu verbreiten. Ihn als ganz normalen Menschen darzustellen, hätte sicher geholfen, ihn seiner mystischen Aura zu berauben.

»Ich muss kurz mit euch reden«, sagte die Shutton und erhob sich, um eine Ecke des Konferenzraums anzusteuern. Ihre Mitarbeiter und der Rechtsmediziner folgten ihr.

Mila war klar, dass sie nicht gemeint war. Wahrscheinlich war ihre Anwesenheit nicht mehr erforderlich, also tat man ganz einfach so, als wäre sie nicht da. Sie versuchte, dem Wortwechsel bewusst nicht zu folgen und sich stattdessen auf das zu konzentrieren, was sie bis hierhin erfahren hatte.

Letztlich hatten die Recherchen nicht mehr als Folgendes ergeben: Der wohnsitzlose, Drogen konsumierende mögliche Psychopath Enigma verdiente sich seinen Lebensunterhalt mutmaßlich mit dem Handel von Ersatzteilen aus ausrangierten Computern, war besessen von Zahlen und eines Abends aus Zufall in die Nähe des Bauernhofs der Andersons gekommen, wo er – möglicherweise beflügelt durch den Effekt des Engelsstaubs – ein grausames Blutbad angerichtet hatte.

So gesehen passte alles zusammen.

Aber warum bin ich dann hier, fragte sich Mila erneut.

Weil Enigma sich meinen Namen auf den Arm tätowiert hat, rief sie sich in Erinnerung. Das Motiv liegt auf der Hand: Er wollte, dass ich hier bin. Und der Grund kann nur ein einziger sein.

Die Lösung des Rätsels um Enigma bin ich.

Sie hatte sich die Rekonstruktion der Mordtat angehört und das Persönlichkeitsprofil des Mörders erläutert bekommen, doch ein Element fehlte noch.

Die Opfer.

»Die Leichen verschwinden zu lassen ist enorm wichtig für ihn«, hörte sie sich plötzlich sagen.

Sämtliche Blicke im Raum richteten sich auf sie.

»Was wissen wir über die Andersons?«, fuhr sie fort, ohne sich darum zu kümmern, dass sie das Gespräch der kleinen Gruppe um die Shutton unterbrochen hatte.

Sprachlos starrten die anderen sie an.

»Was spielt das für eine Rolle?«, warf Bauer schließlich missmutig ein.

»Ich glaube, der Tätowierte ist überaus intelligent. Vielleicht hat er vorhergesehen, dass es ein Meeting wie dieses hier geben würde«, erklärte Mila. »Vielleicht hat er damit gerechnet, dass die zuständigen Ermittler anwesend sein würden, ein Rechtsmediziner und jemand von der Spurensicherung. Nehmen wir an, er wollte mich aus einem einzigen Grund dabeihaben: damit ich Ihnen meine Sicht der Dinge darlege.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher, Vasquez«, höhnte Bauer.

»In meiner Zeit in der ›Vorhölle‹«, erklärte Mila, »wusste ich nie, ob sich hinter dem Verschwinden einer Person nicht eine freiwillige Flucht verbarg, ein Unfall oder die Tat eines Dritten. Anders als bei einem Mord, wo ich eine Leiche habe, eine Waffe und im Zweifelsfall auch ein Tatmotiv, war für mich der einzige Anhaltspunkt der Vermisste selbst … Also wurde mir klar, wie wichtig es ist, das Verhalten des Vermissten vor seinem Verschwinden zu analysieren. Ich habe mir folgende Fragen gestellt: Ist die Person, nach der ich suche, gefährdet oder nicht? Hat sie etwas gesagt oder getan, das sie in Gefahr gebracht oder zu einem potenziellen Opfer gemacht hat? Kann sie durch ihr Verhalten eine Reaktion bei jemand anderem ausgelöst haben?«

Den Kniff, die Aufmerksamkeit vom Tatverdächtigen aufs Opfer zu lenken, hatte sie schon oft angewandt.

»Vor einiger Zeit hat mir ein Kriminologe gesagt, dass man sich nicht in den Kopf eines Serienkillers hineindenken könne, da seine Verhaltensweisen die Folge von Trieben, Instinkten, Fantasien wären, die sich über Jahre hinweg, ja, seit der Kindheit gebildet hätten. In den Kopf eines Opfers aber könne man sich sehr wohl hineinbegeben.«

Sie erwähnte nicht, dass besagter Kriminologe zugleich der Vater ihrer Tochter war, doch an den Blicken der Anwesenden erkannte sie, dass ihre Argumentation sie überzeugt hatte.

»Auch wenn es schwierig ist, das zu akzeptieren: Gelegentlich suchen Opfer und Täter einander. Weil sie Dinge gemeinsam haben. Sie ähneln sich, ohne es zu wissen.«

Jeder von uns hat seinen Mörder. Wie eine Zwillingsseele. Manchmal begegnen wir ihm, manchmal nicht.

»Mach weiter«, ermutigte die Shutton sie.

»Wie gesagt, die Leichen verschwinden zu lassen, war wichtig für den Tätowierten. Der Mörder hinterlässt Blutspuren, nimmt die Leichen aber mit – warum? Das Blut ist sein Hinweis für uns, dass die Andersons tot sind. Er will die Spuren seiner Tat also nicht verwischen, im Gegenteil, er inszeniert sie geradezu, gibt uns jedoch gleichzeitig zu verstehen, dass wir uns nicht mit dem Offensichtlichen zufriedengeben dürfen … Vielleicht sollten wir nicht einfach nur nach den Leichen suchen. Vielleicht müssen wir, um sie zu finden, erst auf etwas anderes stoßen, etwas über sie erfahren … Nicht: ›Wo sind die Andersons?‹, sondern: ›Warum ausgerechnet sie?‹«

Delacroix und die Shutton wechselten einen Blick. Der Polizist nahm einige Papiere, die auf einem Stuhl neben ihm lagen, zur Hand. Er begann, sie zu überfliegen.

»Wie wir wissen, lebten die Andersons auf dem Land, fernab der Zivilisation«, fasste er zusammen. »Und zwar ohne irgendwelche technischen Geräte.«

Ihre Art zu leben war von der Öffentlichkeit heftig kritisiert worden, erinnerte sich Mila. Hätten die Andersons nicht an einem so einsamen Ort gelebt, hätte die Polizei ihnen vielleicht rechtzeitig zu Hilfe kommen können. Oder Enigma wäre gar nicht erst bei ihnen aufgetaucht.

»Man hat sie mit den Amish People verglichen«, fuhr Delacroix fort, »aber das trifft nicht zu. Sie haben sich ganz normal gekleidet und durchaus Medikamente genommen, sie hatten nur keinen Strom, keine Haushaltsgeräte, keinen Fernseher, keinen Computer oder Internet. Die einzige Ausnahme war ein Handy für den Notfall.«

Mila wusste, dass es verschiedene Bewegungen gab, die sich komplett der Zivilisation verweigerten – Luddisten etwa oder Technologienachzügler. Manche aus ethischen oder religiösen Gründen, andere aus politischen.

Auf dem Monitor war inzwischen ein Familienfoto zu sehen: Vater, Mutter und die Zwillinge, die alle den gleichen roten Pullover trugen und in die Kamera strahlten. Weihnachten vor ein paar Jahren. Die Andersons in einem anderen Leben.

»Bevor Karl Anderson beschloss, Landwirt zu werden, war er Broker bei einer Handelsbank, der SPL&T . Er muss verdammt gut verdient haben«, stellte Delacroix nüchtern fest.

Mila war davon ausgegangen, dass die Andersons schon immer auf dem Land gelebt hatten. Doch sie hatte sich geirrt. Und dennoch: Hatten sie wirklich so viel Geld besessen? Warum hatten sie dann auf sämtlichen Komfort verzichtet, um mit ihren Töchtern in der Einöde zu leben? Eigentumswohnung im schicken Innenstadt-Wohnkomplex. Lebensversicherung mit hoher Prämie. Wertpapieranlagen. Segeljacht. Limousine in der Tiefgarage. Privatschule für die Zwillinge. Urlaub an exotischen Orten im Luxusresort. Wieso tauschte jemand ein solches Leben gegen ein so vollkommen anderes ein? Opfer und Täter waren einander manchmal gar nicht so unähnlich, erinnerte sie sich. Vielleicht war auch Enigma, bevor er zum Obdachlosen wurde, die Bürgerlichkeit in Person gewesen, mit Familie, Arbeit und Grundbesitz.

»Unseren Informationen zufolge haben die Andersons den Bauernhof ungefähr vor einem Jahr gekauft.«

Mila betrachtete erneut das Weihnachtsfoto auf dem Monitor. Plötzlich verspürte sie wieder das vertraute Kribbeln im Nacken – ein untrügliches Anzeichen für eine Vorahnung.

»Sie haben den Hof in Raten abbezahlt. Den Rest ihres Vermögens haben sie angelegt. Es sollte den Mädchen mit Erreichen der Volljährigkeit zur Verfügung stehen.« Delacroix machte eine Pause, um die Unterlagen genauer zu studieren. Plötzlich machte er ein Gesicht, als könne er seinen Augen nicht trauen. »Laut einiger enger Verwandter hat Karl Anderson rigoros entschieden, Frau und Kinder an diesen abgelegenen Ort zu verfrachten. Offenbar hat er von einem Tag auf den anderen seinen Job, sein Bankkonto und sämtliche auf ihn laufenden Verträge gekündigt, vom Bezahlfernsehen übers Internet bis zur Wasser- und Stromversorgung.«

Also hatte Karl für alle entschieden, stellte Mila verblüfft fest. Warum hat er das getan? Sie erinnerte sich an die Worte der Richterin bei ihrem Besuch im Haus am See. »Habt ihr keinen Fernseher?«, hatte die Richterin sie gefragt. Und auf Milas Verneinen hin erstaunt hinzugefügt: »Auch kein Internet?« »Wir haben Bücher. Und ein Radio«, hatte ihre Antwort gelautet.

Wie die Andersons, sagte sie sich, und diese Tatsache störte sie gewaltig. Sie ähneln nicht Enigma, sie ähneln mir. Auch sie hatte, wie Karl Anderson, alles aufgegeben und sich in die Einsamkeit zurückgezogen, zusammen mit ihrer Tochter und ohne Rücksicht auf deren Wünsche. Auch wenn ihre Entscheidung nicht so radikal war, lag das Motiv für ihren rigorosen Schritt auf der Hand: Sie hatte Angst um Alice, Angst, dass das Dunkel sie finden würde.

Von wegen »aus Liebe zur Natur«: Die Andersons waren auf der Flucht gewesen. Karl hatte Angst um seine Familie gehabt, daher waren sie so weit weggezogen.

Sie blickte erneut zum Monitor. Plötzlich fiel ihr etwas ins Auge, das sie vorher nicht gesehen hatte. Sie sprang auf und trat näher an den Bildschirm heran.

»Was ist los?«, fragte die Shutton irritiert.

Mila blieb stumm. Dann sagte sie wie aus einem Reflex heraus:

»Enigma und Karl Anderson kannten sich.«

Die anderen starrten sie verblüfft an.

»Woher willst du das wissen, verdammte Scheiße?«, fragte Bauer.

Mila zeigte auf das Weihnachtsfoto.

»Die Uhr«, sagte sie bloß.

Am Handgelenk von Karl Anderson, zwischen Ärmelbündchen und Herrensportuhr, war eine Tätowierung zu sehen.

Eine Zahl.