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Sie wurden »Todesflüsterer« oder »subliminale Killer« genannt. Der berühmteste unter ihnen war Charles Manson.

Sie umgaben sich mit Anhängern und gründeten »Familien« und töteten durch andere. Sie wählten einen »Mittler« aus, schmeichelten sich bei ihm ein, brachten ihn schließlich dazu, den dunkelsten eigenen Trieben zu folgen. Todesflüsterer hatten keine Beziehung zum Opfer des Mittlers, keinen Kontakt, keinerlei Berührungspunkt. Oft kannten sie es nicht einmal, denn nicht sie bestimmten seine Rolle. Sie ließen ihre Jünger das Opfer auswählen, ließen sie ihren Begierden oder Aggressionen folgen. Auch waren sie niemals anwesend bei einem Mord. Oft machten sie sich dadurch immun gegen eine Anklage. Sie konnten nicht für schuldig erklärt und nicht bestraft werden. Vor allem war es dadurch schwierig, um nicht zu sagen: unmöglich, sie aufzuspüren. Ihr Ziel war es nicht, zu töten, und, paradoxerweise, nicht einmal, Böses zu tun. Im Gegenteil, das war im Vergleich zu ihrem wahren Motiv völlig nebensächlich: der Macht, andere zu manipulieren und unschuldige Menschen in sadistische Mörder zu verwandeln .

Mila kannte sich deshalb so gut mit dem Thema aus, weil sie selbst einmal mit einem Todesflüsterer in Berührung gekommen war. Und aus diesem Grund wollte sie mit dem Fall nichts mehr zu tun haben. Ja, sie konnte es ruhig zugeben: Die Vorstellung, es noch einmal mit so jemandem aufnehmen zu müssen, verstörte sie.

Um elf Uhr abends verließ sie die Dienststelle mit der festen Absicht, nie mehr einen Fuß dort hineinzusetzen. Seit dem Nachmittag hatte es unablässig geregnet. Sie hielt ein Taxi an und ließ sich zum Bahnhof bringen. Der letzte Zug fuhr um Mitternacht, und sie hatte nicht vor, ihn zu verpassen. Sie wollte zurück an den See, zu ihrer Tochter.

Janes Mutter hatte ihr am Telefon gesagt, dass Alice müde sei und sie ihr das Sofa zum Schlafen zurechtmachen könne. Mila hatte sich bedankt und erwidert, sie trotzdem abholen zu wollen, da das Wochenende bevorstand.

Sie war etwas zu früh am Bahnhof. Genug Zeit für den x-ten Kaffee an diesem Tag. In dem einzigen noch geöffneten Bistro saßen gerade mal drei Gäste. Alles Männer. Sie bekam ihren Kaffee in einem Pappbecher, mit dem sie sich an einen der kleinen Tische an der Fensterfront setzte. Das Getränk schmeckte nach nichts, aber wenigstens wärmte es ihren verfrorenen Körper. Sie hatte Angst, dass sie Fieber haben könnte. Wie gerne hätte sie sich in Alices Höhle verkrochen und geschützt vor bösen Träumen zu schlafen versucht. Sie musste Berish anrufen, um sich bei ihm zu entschuldigen, dass sie ihn mit ihrem Eindringen in die Vorhölle in Schwierigkeiten gebracht hatte. Erzählen aber würde sie ihm nichts. Sie war nach wie vor überzeugt, dass es besser war, ihn aus der Sache herauszuhalten. Was sie selbst betraf, so würde sie diesen Tag einfach vergessen. Sie wollte zurück zu ihrem Leben am See, auch wenn das bedeutete, dass sie sich mit dem Brief in der Küchenschublade befassen musste.

Der Allgemeinzustand des Patienten ist unverändert.

Als sie den Pappbecher mit dem dunklen Gebräu an die Lippen hob, merkte Mila, dass einer der Bistrogäste sie beobachtete.

Der Mann lehnte am Tresen und wandte sofort den Blick ab. Er trug einen schwarzen Regenmantel, eine graue Hose und abgelaufene braune Schuhe. Mit der Hand schob er sich sein fettiges Haar hinters Ohr. Es dauerte nur einen winzigen Moment, doch Mila war sicher, einen dunklen Fleck über dem abgetragenen Hemdkragen gesehen zu haben.

Sie zuckte zusammen, die Luft blieb ihr weg. War das ein Muttermal oder ein Tattoo am Hals des Mannes? Es sah aus wie eine Zahl, aber vielleicht hatte sie sich das nur eingebildet?

Sie behielt den Fremden im Auge, darauf wartend, dass er sich erneut umdrehte, um sie zu beobachten. Doch der Mann tat ihr den Gefallen nicht. Schließlich stand sie auf, um sich zum Bahnsteig zu begeben.

Sämtliche Geschäfte und Verkaufsbuden hatten die Rollläden heruntergelassen. Niemand war zu sehen. Mila ging, ohne sich umzudrehen, blieb aber wachsam, um jede Regung in ihrem Rücken wahrzunehmen. Alles, was sie hörte, war der Widerhall ihrer Schritte in der Bahnhofshalle und das ferne Motorengeräusch einer Reinigungsmaschine, die in einer anderen Halle den Fußboden putzte.

Der Zug stand bereits am Gleis. Sie beschloss, in den letzten Waggon zu steigen. Um sich zu vergewissern, dass der Mann aus der Bar ihr nicht gefolgt war, blieb sie neben der automatischen Tür stehen. Dabei wäre es durchaus plausibel gewesen, da der Zug der letzte an diesem Abend war. Doch der Fremde mit dem Regenmantel war nicht zu sehen.

Die Zugtüren schlossen sich, und Mila registrierte erstaunt, wie erleichtert sie war. Jetzt konnte sie sich in Ruhe einen Platz suchen. Sie hatte die Qual der Wahl, der Waggon war komplett leer.

In weniger als einer halben Stunde würde sie ihr Ziel erreicht haben und sich endlich aus ihren regenfeuchten Klamotten befreien, sie gleich zurück in den Karton packen und in die Tiefen ihres Kleiderschranks versenken können.

Ich bin keine Fahnderin mehr. Ich bin Mutter!

Obwohl sie schon seit einem Jahr nicht mehr arbeitete, hatte sie noch genug Geld auf der hohen Kante liegen, um einen Kiosk am Seeufer aufzumachen, in dem man neben Zeitungen, Tabak und Snacks auch Köder und sonstiges Angelzubehör kaufen konnte. Wenn das Geschäft gut lief, würde sie sich ein Boot zulegen und Touristen zum Angeln auf den See hinausfahren, wo sie herrliche Regenbogenforellen fangen konnten, um sie später hübsch präpariert auf dem Kaminsims auszustellen.

Ja, das war genau das Richtige für sie.

Sie dachte kurz an ihre Angst vor dem Mann mit dem Regenmantel zurück. Wie dumm von ihr. Früher wäre ihr so etwas nicht passiert. Aber vielleicht war es auch ein positives Signal. Bedeutete es doch, dass ihr alter Jagdinstinkt fast versiegt war. Dass ihre Motivation, der Aufforderung der Shutton zu folgen, vielleicht nur Neugier gewesen war. Letztlich hatte sich die Entscheidung als richtig erwiesen: Sie hatte die Bestätigung erhalten, dass sie allmählich wieder Mensch wurde.

Aus dem Dunkel komme ich …

Während sie die Gedanken schweifen ließ, spürte sie, wie ihre Schultern- und Nackenpartie sich nach den Stunden der Anspannung lockerte. Das Schaukeln des Zuges und das rhythmische Stampfen der Räder lullten sie ein. Unwillkürlich wurden ihre Lider schwer.

Ein plötzliches Geräusch ließ sie hochschrecken. In der Toilette am Ende des Waggons hatte jemand die Spülung betätigt. Der Kiosk am See wurde jäh davongeschwemmt und mit ihm das Boot und all ihre Zukunftspläne. Zitternd wartete sie darauf, dass die Toilettentür sich öffnete. Doch ihr Benutzer schien keine Eile zu haben.

In Gedanken zählte sie die Sekunden. Sie wusste, die Zeit verging bei großer Anspannung deutlich langsamer. Aber nach fast vier Minuten Warterei war klar, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Das Klacken des Türschlosses verriet ihr, dass aufgesperrt wurde. Als sich die Tür öffnete, meinte sie für einen Moment, den Fremden im schwarzen Regenmantel zu sehen. Doch ein junger Mann mit fast weißen Haaren und einer ebenso bleichen Hautfarbe trat heraus.

Der Albino trug eine Windjacke und eine Umhängetasche quer über der Brust. Allem Anschein nach ein Student. Kurz kreuzten sich ihre Blicke, dann nahm er ungefähr zehn Reihen von ihr entfernt Platz, gegen die Fahrtrichtung, das Gesicht ihr zugewandt.

Der Zug raste durch die Nacht. Hin und wieder ruckelte er geräuschvoll bei einem Gleiswechsel. Mila ließ den jungen Mann nicht aus den Augen. Alles in ihr hoffte, eine weitere böse Überraschung vermeiden zu können.

In Gegenwart des Mannes wurde das zuvor noch beruhigende Stampfen der Räder fast unerträglich.

Der junge Mann öffnete seine Umhängetasche und begann, etwas darin zu suchen. Mila bereute es plötzlich, ihre Pistole zu Hause gelassen zu haben. Doch in der Dienststelle hätte sie die Waffe ohnehin nicht tragen dürfen.

Schließlich zog der Albino ein Notizbuch hervor, hielt es sich dicht vor die Augen und begann, etwas hineinzukritzeln. Er schien sehr konzentriert. War vielleicht aber auch einfach nur stark kurzsichtig.

Nach ein paar Minuten drosselte der Zug sein Tempo. Der junge Mann hob den Blick von seinem Notizbuch und schaute zum Fenster hinaus. Eine Stimme vom Band verkündete die Ankunft an einer Zwischenstation.

In der Hoffnung, dass der Albino hier aussteigen möge, beobachtete Mila aufmerksam jede seiner Bewegungen: wie er sich erhob, den Reißverschluss seiner Windjacke zuzog und die Umhängetasche in die richtige Position schob. Er hatte die Tür hinter Mila zum Aussteigen gewählt, musste also in ihre Richtung.

Als er an ihr vorbeiging, nahm sie einen vertrauten Geruch wahr. Maiglöckchen und Jasmin – der gleiche Duft wie in Berishs Auto. Wie war das möglich? War das Parfüm, das sie zu riechen meinte, bloß ein Produkt ihrer Fantasie, ein seltsamer Zufall, oder nicht?

Wir wissen, wer du bist, wir kennen jedes Detail über dich, du kannst uns nicht entkommen …

Was für eine Idiotin sie doch war. Was war nur mit ihr los? Warum plötzlich diese Paranoia? Sie war sich der Absurdität ihres Verhaltens bewusst, und doch konnte sie ihre Angst nicht kontrollieren. Sie beschloss, den Sitzplatz zu wechseln, um bei der Einfahrt des Zuges in den Endbahnhof einen besseren Überblick zu haben. Sie wusste nicht, warum, doch hatte sie das Gefühl, jemand würde sie dort erwarten. Jemand, mit dem sie nicht rechnete. Sie würde es bald wissen: Laut Durchsage würde sie ihr Ziel in Kürze erreichen.

 

Es hatte aufgehört zu regnen, und so spät war der Bahnhof menschenleer. Abgesehen von Mila war niemand ausgestiegen. Sie schaute sich um. Der Parkplatz, auf dem sie ihren Hyundai am Morgen hatte stehen lassen, war nur durch eine Unterführung zu erreichen.

Sie starrte auf die Treppe. Ein gelbliches Licht schimmerte ihr entgegen. Panik beschlich sie. Was mochte ihr dort unten drohen? Oder war sie tatsächlich bloß in ihren eigenen kranken Vorstellungen gefangen?

Hinter ihr schlossen sich die Zugtüren, das Signal zur Abfahrt ertönte. Nun hatte sie keine Alternative mehr, wollte sie die Nacht nicht auf einer Bahnhofsbank verbringen. Sie musste sich ihrer Angst stellen.

Langsam ging sie die Stufen hinab. Am Fuß der Treppe angelangt, sondierte sie die Lage. Die Unterführung war gut hundert Meter lang und verlief komplett geradeaus. Nur zum Ende hin machte der Tunnel eine Kurve.

Sie setzte sich in Bewegung. Die schweren Stiefel ließen ihre Schritte auf dem Asphalt laut nachhallen. Sie zwang sich, nicht daran zu denken, was sie am Ende der Unterführung erwarten mochte, doch ihre Fantasie glich einem Horrorfilm.

Als sie die Kurve fast erreicht hatte, verlangsamte sie ihre Schritte, um selbst das leiseste Geräusch vernehmen zu können. Sie wandte sich nach links. Endlich, der Parkplatz, ihr Auto! Das einzige auf dem ganzen Platz.

Die kühle Feuchte der Nacht sprang ihr entgegen wie ein böser Geist, nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und hielt sie in dieser Umklammerung, die kein Entrinnen zuließ. Ihre Lippen zitterten, ihre Augen tränten, und ihr Atem verdunstete zu kleinen Wölkchen, die sich sofort wieder auflösten.

Sie schob die Hand in die Jackentasche und fischte nach dem Autoschlüssel. Um ein Haar wäre er zu Boden gefallen. Die Zentralverriegelung sprang sofort auf. Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen und hatte das Gefühl, sich in einer Gruft zu befinden, so klamm war es im Wagen. Schnell machte sie die Autotür zu und startete den Motor.

Die ganze Fahrt über bis zu Janes Haus hatte sie bloß einen Gedanken im Kopf: Alice in die Arme zu schließen. Sie war überzeugt, nur auf diese Weise jemals wieder warm zu werden. Denn die Kälte kam keineswegs von außen, nein, sie kam aus ihrem Inneren. Als hätte der Hauch des Todes sie gestreift.

Wer länger in der Mordkommission arbeitete, bekam einen schlechten Atem, erinnerte sie sich. Jahrelang hatte Mila die faulige Luft eingeatmet, die nach Verwesung stank. Und noch immer hatte sie einen schalen Geschmack im Mund. Sie würde ihn wohl nie mehr loswerden. Auch deswegen küsste sie ihre Tochter nie – aus Angst, Alice könnte sich vor ihr ekeln.

Obwohl sie es sich so gewünscht hatte, nahm sie Alice bei ihrem Wiedersehen nicht in die Arme. Ihre Tochter hätte sich darüber wohl auch nur gewundert.

 

»Ich habe mit Onkel Simon telefoniert«, sagte das Mädchen schläfrig, als sie ihr an der Haustür entgegenkam.

Alice fragte nicht, wo sie den ganzen Tag gewesen war, und nicht einmal, warum sie erst so spät heimkam. Doch das war nicht weiter ungewöhnlich. Sie trug noch immer die Kleider, die sie schon in der Schule angehabt hatte. Janes Mutter war mit ihr zusammen wach geblieben, um Milas Rückkehr abzuwarten. Die Frau wirkte nicht gerade erfreut, nahm sie aber höflich in Empfang und versuchte, sich ihre Verärgerung nicht anmerken zu lassen.

»Fahren wir nach Hause?«, fragte Alice.

»Klar«, erwiderte Mila, »wo willst du denn um die Uhrzeit sonst hin?«

Die Fahrt vom Bahnhof zu Jane war anstrengend gewesen, aber ohne Zwischenfälle verlaufen. Niemand hatte ihr aufgelauert, niemand hatte sie verfolgt. Doch die Vorstellung, dass das Auftauchen des tätowierten Fremden in der Bar oder des parfümierten Albinos im Zug eine tiefere Bedeutung haben könnte, ließ Mila keine Ruhe.

Sie half Alice auf den Rücksitz und beim Anlegen des Gurts. Bestimmt würde sie nach spätestens einem Kilometer eingeschlafen sein. Dann setzte sie sich ans Steuer.

Wie erwartet, schlief ihre Tochter sofort ein: den Kopf ans Fenster gelehnt, mit offenem Mund, einen Vorhang aus rotem Haar über dem Gesicht. Auch Mila war todmüde, aber das Adrenalin, das sich den ganzen Tag über in ihr angesammelt hatte, hielt sie wach. Wachsam wanderte ihr Blick zwischen Straße und Rückspiegel hin und her.

Hinter ihr durchzuckte ein Blitz den Himmel und erleuchtete für einen Moment Bäume und Hügel. Und das Motorrad, das sie mit ausgeschaltetem Scheinwerfer verfolgte. Das Auftauchen des Fahrzeugs bestätigte ihre bösesten Vorahnungen. Diesmal hatte sie sich nichts eingebildet. Diesmal war es real.

Sie suchte in ihrer Jackentasche nach dem Handy, um das örtliche Polizeirevier anzurufen. Doch ihr war klar, dass sie in dieser abgelegenen Gegend voller Funklöcher kaum eine Chance hatte, eine Verbindung herzustellen. Rasch überschlug sie in Gedanken die verbleibenden Möglichkeiten. Sie hatte keine große Wahl. Die Straße zum See führte mitten durch den Wald, es gab keine Abzweigungen, um ihren Verfolger abzuschütteln. Wenn sie nicht gerade den waghalsigen Versuch unternehmen wollte, den Rückwärtsgang einzulegen und dem unbekannten Motorradfahrer mit voller Wucht entgegenzurasen, war die Richtung klar.

Was willst du von mir? Wer schickt dich?

Sie kannte die Antwort, wollte sie sich aber nicht eingestehen. Es gab nur einen Weg: mit Höchsttempo weiterfahren, um sich im Haus zu verbarrikadieren.

Sie dachte an die Pistole.

Mila schaltete in den nächsten Gang und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Für einen Moment fiel der Hyundai im Tempo zurück, dann machte er einen Satz nach vorne. Alice stöhnte im Schlaf, ließ sich aber nicht weiter stören. Wie ein Fließband glitt der Asphalt unter dem Licht der Scheinwerfer hinweg. Mila hielt das Lenkrad mit beiden Händen fest umklammert: Es gab ein paar scharfe Kurven auf dem Weg zur Uferstraße, und bei der Geschwindigkeit konnte man leicht die Kontrolle über das Auto verlieren. Gleich die erste Kurve nahm sie zu schnell, kam ins Schleudern, konnte den Wagen aber gerade noch auf der Spur halten. Die nachfolgenden Kurven nahm sie mit mehr Bedacht. Ein paar Mal versuchte sie, das Motorrad im Rückspiegel auszumachen, doch sie konnte es nicht sehen.

Ich hoffe, du knallst gegen den nächsten Baum, du Hurensohn.

Angst und Wut wechselten sich in ihrem Inneren ab. Sie machte sich große Sorgen um ihre Tochter, war aber zugleich voller Zorn über das, was ihr widerfuhr. Endlich erkannte sie in der Dunkelheit die Umrisse ihres Hauses. Das Eingangslicht hatte sich automatisch eingeschaltet, wie jeden Abend.

Sie hatte keine Ahnung, ob es wirklich eine gute Idee war, dort Zuflucht zu suchen – im Haus konnten alle möglichen Gefahren auf sie lauern. Doch sie hatte keine andere Wahl, ihnen blieb nur diese letzte Zuflucht.

Schlamm spritzte auf, als der Hyundai in der Einfahrt zum Stehen kam: Mila hatte eine Vollbremsung hingelegt. Zum Glück war Alice angeschnallt, aber nicht einmal das plötzliche Bremsmanöver hatte sie geweckt. Mila sprang aus dem Wagen. Während sie das halb benommene Mädchen aus dem Auto zerrte, warf sie immer wieder kontrollierende Blicke zur Straße, ob sie auch wirklich niemand verfolgt hatte.

»Los, komm, wir müssen ins Haus!«, drängte sie ihre Tochter, die sie unwillig ansah. »Alice, hörst du mich? Komm!«

Unsanft schob sie ihre Tochter bis direkt vor die Haustür. Während sie den Schlüssel im Schloss umdrehte, versuchte sie, durch das kleine Türfenster ins Innere des Hauses zu blicken. Alles schien in Ordnung zu sein, nirgendwo waren die Spuren eines Einbruchs zu sehen.

Kaum hatten Alice und sie die Schwelle überschritten, warf sie die Tür hinter sich ins Schloss. Sie schaltete das Licht ein. Alice ließ sich auf einen Sessel sinken. Mila fasste sie an der Schulter, um sie am Einschlafen zu hindern.

»Alice, hör zu: Du musst mir helfen, verstehst du?«

Das Mädchen riss die Augen auf.

»Was ist los?«

»Wir müssen überprüfen, ob alle Türen und Fenster verschlossen sind.«

An ihrem Tonfall erkannte Alice, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.

»Was ist los?«, wiederholte sie verwirrt.

Mila hatte keine Zeit, ihr die Situation zu erklären.

»Bleib in meiner Nähe, alles wird gut.«

Sie nahm den Schürhaken aus dem Ständer am Kamin und machte zusammen mit Alice eine schnelle Runde durchs Haus. Die Hintertür und die Fenster im Untergeschoss waren von innen verrammelt. Nichts wies auf einen Eindringling hin. Dann gingen sie nach oben, wo sich die Schlafzimmer befanden, und Mila betätigte den Lichtschalter. Alles wirkte genau so, wie sie es am Morgen verlassen hatten. Sie stürzte zu der Kommode, in der sie ihre Pistole aufbewahrte, und vergewisserte sich, dass sie geladen war. Den Schürhaken legte sie beiseite. Mit der Waffe in der Hand fühlte sie sich sofort besser.

Von dem Motorradfahrer war draußen noch immer nichts zu sehen. Mila überprüfte das Gelände rund ums Haus vom Fenster aus. Die beiden Linden schaukelten sanft im Wind – wie zwei knochige Hände, die vor dem schwarzen Himmel einen Tanz aufführten. See und Nacht waren eins, der Steg schien ins Nichts zu führen. Die dunklen Bäume im nahen Wald wirkten, als könnte jeden Moment einer von ihnen ausscheren und sich als menschliche Silhouette entpuppen.

Im Haus hatte das alte Handy Empfang. Mila wollte sogleich die Polizei rufen. Doch zuvor wandte sie sich an Alice.

»Ich möchte, dass du nach oben gehst.«

»Warum?«, protestierte das Mädchen.

Weil es dort sicherer war, aber das konnte sie ihr schlecht sagen. Kurz dachte sie an Frida Anderson und ihren verzweifelten Versuch, die Zwillinge zu retten, indem sie sie ins Obergeschoss des Bauernhofs brachte. Es hatte ihren Ehemann nicht daran gehindert, die Treppe hinaufzugehen und ein Blutbad anzurichten.

Mila aber hatte immerhin eine Pistole. Ihre Erfahrung hatte sie gelehrt, dass niemand, wie bösartig seine Absichten auch immer waren, sich freiwillig dem Risiko aussetzte, erschossen zu werden. Nicht einmal der Verrückteste würde sein Leben leichtfertig aufs Spiel setzen.

»Du musst jetzt genau tun, was ich dir sage, verstanden?«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Alice murmelte noch etwas, um sich schließlich widerwillig zu fügen. Mila tippte die Telefonnummer des örtlichen Polizeireviers in ihr Handy. Eine Stimme vom Band bat sie, einen Moment zu warten.

»Verdammt noch mal«, fluchte sie leise.

Was hatten die Kollegen mitten in der Nacht bloß so Wichtiges zu tun, dass sie nicht mal einen Notfall entgegennehmen konnten? Sie legte auf und wollte schon in der Dienststelle anrufen, als sie Alice auf dem Treppenabsatz sah.

»Ich habe dir doch gesagt, du …«

»Ich weiß«, unterbrach das Mädchen sie mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen.

Mila war sofort in Alarmbereitschaft.

»Was redest du da?«

»Du wirst es nicht glauben«, sagte ihre Tochter mit leuchtenden Augen. »Papa war da.«

Mila spürte, wie ihr Hals sich zuschnürte. Alice wusste nicht einmal, wie ihr Vater aussah; das einzige Mal, dass sie ihn in einem Krankenhausbett hatte liegen sehen, war sie noch viel zu klein gewesen, um sich jetzt an ihn erinnern zu können.

»Wo ist er?«, fragte sie, um Normalität bemüht.

»Oben, in meinem Versteck.«

Die Pistole im Anschlag, ging sie die Treppe hinauf. Alices Höhle war der einzige Ort im Haus, den sie nicht kontrolliert hatte. Vorausgesetzt, dass Alice nicht halluzinierte: Wie war der Eindringling dort hineingekommen?

Endlich hatte sie den schmalen Treppenabsatz vor dem Aufgang zum Dachboden erreicht. Der Eingang zu Alices Höhle war mit dem rot-grün karierten Plaid verhängt.

Langsam trat Mila auf die Höhle zu. Sie fühlte sich lächerlich. Die Eichendielen knarrten unter ihren Schritten. Jedes noch so kleine Geräusch jagte ihr einen Stromstoß durch den Körper. Sie streckte die Hand nach dem Plaid aus, griff in den Stoff und fühlte das weiche Material unter den Fingern. Mit einem Ruck riss sie den Überwurf zur Seite.

Nichts als Dunkelheit, nur Schatten, alles Einbildung.

Mila wollte schon den Rückzug antreten, als eine kaum wahrnehmbare Bewegung sie innehalten ließ. Sie drehte den Kopf.

Aus der Finsternis starrten sie zwei funkelnde Augen an.