14

Pater Roy lebte in einem Vorort mit roten Backsteinhäusern, wie es sie oft in der Umgebung von Hüttenwerken gibt.

Die Gebäude stammten aus der Hochzeit der Stahlindustrie, als die Stadtplaner noch den Ehrgeiz hatten, ganze Viertel neu zu erschaffen, und die Arbeiterschaft als Elite angesehen wurde, die nicht nur mit einer vollen Lohntüte, sondern auch mit einem besonderen Lebensstil zu honorieren war.

Dann aber hatte die weltweite Krise des Sektors alle Träume und Utopien begraben. Die halb fertigen Städte hatten sich in Gettos verwandelt, in Sinnbilder des politischen Versagens und Brutstätten des sozialen Grolls.

Mila und Berish hatten einen Wagen genommen, der in der Dienststelle normalerweise für Beschattungen verwendet wurde und von daher keine auffälligen Kennzeichen trug.

Der Anblick, der sich den beiden Polizisten bot, war deprimierend. Häuser, die zum Verkauf angeboten wurden oder schon ewig leer standen. Kinder, die auf der Straße spielten wie streunende Hunde an einem verregneten Sonntagmorgen. Männer, die an den Kreuzungen herumlungerten und auf dem Boden ihrer Bierdosen nach einer Zukunft suchten. Hinter den Fenstern zu früh gealterte Frauen, die jede Hoffnung auf einen Aufstieg aus der Misere verloren hatten – ihre erloschenen Blicke sprachen Bände.

Pater Roy lebte in dem Pfarrhaus neben der Kirche des Ortes. Dahinter befand sich eine Garage mit angeschlossenem Apartment im Obergeschoss, in dessen Frontfenster ein »Zu vermieten«-Schild hing. Nach vorne raus ging ein Garten mit einer verrosteten Sitzbank und zwei Schaukeln, die verloren von einer Teppichstange herabbaumelten. Warum hier keine Kinder spielten, war an den Schmierereien auf der Fassade erkennbar. Die Beleidigungen und Drohungen machten unmissverständlich klar, dass dieser Ort besser sofort zu verlassen sei.

Berish parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

»Also, wie besprochen«, sagte er zu Mila: »Du folgst meinen Instruktionen, keine Eigenregie. Du weißt, wir sind hier nicht in offizieller Mission. Will sagen: Wenn er sauer wird und uns rauswirft, haben wir null Chance, auch nur irgendwas in Erfahrung zu bringen.«

Ihr Plan sah vor, dass Mila allein mit dem Priester sprechen sollte, denn Berish zufolge würde sich Pater Roy bei zwei Gesprächspartnern in die Defensive gedrängt fühlen.

Berish hatte von den Kollegen in der Dienststelle die meiste Erfahrung mit Verhören, erinnerte sich Mila. Hier vertraute sie ihm blind.

Der Polizist holte ein schwarzes Kunstledermäppchen aus der Innentasche seiner Jacke, zog den Reißverschluss auf und enthüllte das, was im Polizeijargon »kleines Spitzel-Set« genannt wurde: zwei kaum erkennbare Ohrstöpsel und zwei stecknadelkopfgroße Mikrofone, die beide mit einem Funkgerät mit einer Zwölf-Volt-Batterie und einer Reichweite von zweihundert Metern verbunden waren. Verwendet wurde das Set vor allem bei Undercover-Einsätzen, um den Kollegen an der Front die entsprechenden Anweisungen in Reaktion auf das Verhalten ihrer Gesprächspartner zu geben.

Berish half Mila, das Set anzulegen. Auch er selbst verkabelte sich.

»Dieses Schmuckstück hat einen einzigen Makel«, warnte er sie. »Manchmal verliert es einfach die Verbindung. Halte dich von Radio, Fernseher und Mikrowelle fern.«

Mila nickte in Richtung der Schmierereien an der Fassade des Pfarrhauses.

»Meinst du, er wird reden?«

Auch Simon war sich unsicher.

»Kümmer du dich einfach um deinen Part und versuch, die Schlüsselwörter einzustreuen, wie besprochen. Wenn’s nicht klappt, haben wir’s immerhin probiert.«

Mila stieg aus dem Auto und überquerte die Straße, während sie ihren Text noch einmal durchging.

An der Haustür klebten Reste von verfaulten Eiern. Mila musste mehrmals anklopfen, bis ein Schatten hinter der Milchglasscheibe erschien.

»Wer ist da?«, fragte eine misstrauische Fistelstimme.

Sie versuchte, möglichst überzeugend zu klingen.

»Guten Tag, ich führe eine private Ermittlung durch und brauche Ihre Hilfe. Können wir kurz reden?«

»Ich habe nichts zu sagen«, entgegnete der andere.

Mila drehte sich zu Berish um, der ihr hinter der Windschutzscheibe zunickte. Wie vereinbart, ging Mila in die Knie und schob einen Geldschein unter dem Türspalt hindurch, zunächst jedoch nur zur Hälfte.

Sie starrte auf die noch sichtbare Hälfte des Scheins auf ihrer Seite, die im Wind flatterte. Nach einer Weile wurde der Schein wie von einem Staubsauger durch den Spalt nach innen gesogen. Die Tür öffnete sich eine Handbreit.

»Bitte, kommen Sie rein.«

Mila zwängte sich durch die Lücke. Sofort ging die Tür wieder zu. Im Inneren des Hauses war es dunkel. Ihre Augen brauchten eine Weile, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen.

Derweil hatte die Fistelstimme wieder zu sprechen begonnen.

»Sie lassen mich nicht in Ruhe, ich kann nicht mal den Fuß vor die Tür setzen, ohne dass ich mit irgendwas beworfen werde. Die Postboten, die zu mir kommen, werden verprügelt, und keiner geht mehr für mich einkaufen.«

Endlich konnte Mila den Mann genauer betrachten. Er musste um die sechzig sein, wirkte aber durch den ungepflegten Bart und die wenigen zerzausten Haare deutlich älter. Unter dem verschlissenen Morgenrock trug er einen Streifenpyjama, der vor dem dicken Bauch fast auseinandersprang, und Schlappen. Ein unangenehmer Geruch nach Zigaretten und Kohl ging von ihm aus, er schien das ganze Haus zu verpesten.

»Gehen Sie da weg«, sagte er zu Mila, »nicht so nah ans Fenster.«

Obwohl die Vorhänge zugezogen waren, tat sie wie geheißen. Sie nutzte die Gelegenheit, sich unauffällig umzuschauen. Es war kein schöner Anblick: Überall lagen Abfälle und verstreute Gegenstände herum.

»Ich habe getan, was sie mir gesagt haben, und brav die Therapie gemacht. Inzwischen bin ich seit Monaten sauber, aber das wird mir nichts nutzen, solange ich hierbleiben muss«, grummelte der Priester, während er in Richtung Küche vorausging. »Kommen Sie, hier kann man es besser aushalten.«

Sie hatten den Raum kaum betreten, als sich der Mann schon in den abgewetzten Sessel vor dem Fernseher fallen ließ – sein Lieblingsplatz, mutmaßte Mila. Er angelte sich eine Zigarette aus dem Päckchen auf der Armlehne, steckte sie zwischen seine Lippen und zündete sie an.

Mila setzte sich auf einen der Stühle um den Esstisch, auf dem sich dreckige Teller und alte Zeitungen stapelten.

»Wollen Sie nicht wissen, wie ich heiße?«

Der Mann sog an seinen Zähnen und gab ein schmatzendes Geräusch von sich.

»Ehrlich gesagt interessiert mich nur, ob es noch weitere Scheine geben wird.«

»Das hängt davon ab, was Sie mir zu sagen haben.«

»Diese verdammten Hormone halten mich fast die ganze Nacht wach. Ich bin tagsüber völlig apathisch. Keine Ahnung, ob ich Ihre Fragen beantworten kann.«

Mila kombinierte »Therapie« und »Hormone«. Daher also die Fistelstimme. Man sprach auch von »chemischer Kastration«, manchen Sexualstraftätern wurde sie statt einer Gefängnisstrafe angeboten.

»Wie ich bereits sagte, Pater Roy, führe ich eine private Ermittlung durch.«

»Lassen Sie den ›Pater‹ weg und nennen Sie mich ›Roy‹«, schlug der andere vor und nickte. »Die Kurie hat mich a divinis vom Dienst suspendiert – auch wenn ich damit offiziell immer noch Teil der Kirche bin.«

»In Ordnung, Roy«, sagte Mila. »Ich möchte mit Ihnen über Norman Luth sprechen.«

Pater Roy verharrte für einen Moment in eisernem Schweigen. Vielleicht überlegte er, was er ohne Risiko entgegnen konnte, dachte Mila.

Nach einer Weile zog sie einen weiteren Schein aus der Tasche und schob ihn deutlich sichtbar unter ein benutztes Glas.

»Ich habe Norman nie angefasst«, sagte der Priester vorsichtig. »Als ich ihn kennenlernte, war er schon erwachsen.«

»Ich bin nicht deswegen hier«, versicherte sie. »Ich möchte bloß wissen, warum Sie ihm ein Alibi verschafft haben, als er die Morde an den drei Studentinnen gestanden hat.«

»Ich habe ihm überhaupt kein Alibi verschafft. Ich habe der Polizei nur das gesagt, was sie auch so hätte rausfinden müssen. Dass Norman unmöglich in diese Morde verwickelt sein konnte, weil er zur Tatzeit in einer psychiatrischen Anstalt saß. Luth hat sich freiwillig in die Klinik begeben, denn er wusste, dass er eine aggressive Veranlagung besaß, die aus seiner Unfähigkeit zu persönlichen Beziehungen, insbesondere zu Frauen, resultierte. Er wollte seine Dämonen in den Griff bekommen, aber die Dämonen hatten ihn im Griff.«

Der Mann nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.

»Sie sind trotzdem der Meinung, dass Luth der Täter war ...«

»Ich habe sein Geständnis gelesen«, erwiderte Mila. »Es war zu detailliert. Luth hat minutiös beschrieben, wie er sie mit bloßen Händen erwürgt hat, und sogar seine Empfindungen dabei … Er hat Details enthüllt, die nie an die Presse gelangt sind. Nur die Polizei und der Mörder selbst konnten davon wissen.«

»Also ist der Sachverhalt folgender: Entweder Luth ist der wahre Täter, oder aber er ist ein Hellseher«, bemerkte der Priester ironisch und bleckte seine gelben Zähne.

»Man hat mir mal gesagt, dass man jeden Menschen täuschen könne, nur nicht sich selbst«, zitierte Mila den Vater ihrer Tochter. »Luth war kein krankhafter Lügner. Er wusste, wer er wirklich war. Und dass er zu fürchterlichen Dingen in der Lage war, wie etwa einen völlig fremden Menschen zu massakrieren … Deswegen hat er sich kurz vor seiner Entlassung auch umgebracht. Und wissen Sie, auf welche Weise?«

»Er hat sich eine Plastiktüte über den Kopf gezogen«, sagte Pater Roy wie aus der Pistole geschossen.

»Er ist gestorben wie seine Opfer.«

Der Priester nahm einen letzten Zug von seiner heruntergebrannten Zigarette und drückte sie in dem übervollen Aschenbecher aus.

»Wenn Sie das alles und mehr wissen, warum sind Sie dann überhaupt zu mir gekommen?«

Während der Priester sich eine neue Zigarette anzündete, schob Mila einen weiteren Geldschein unter das Glas.

»Sie waren mit Luth befreundet und kennen seine Vergangenheit … Ich möchte wissen, wie jemand zu einem solchen Monster wird.«

 

Berish schaute auf die Uhr: Es war fast neun, das Gespräch zwischen Mila und dem Priester dauerte jetzt schon zwanzig Minuten an.

Nach dem, was er über Funk mitbekam, machte Mila ihre Sache ziemlich gut. Sie hatte sofort alle Ungereimtheiten auf den Tisch gelegt und wartete nun darauf, den Geistlichen beim kleinsten Widerspruch in seinem Bericht zu erwischen.

Wenn Enigma sie hierhin geführt hatte, musste es einen Grund dafür geben. Er will, dass wir etwas Bestimmtes finden, sagte sich der Polizist.

»Norman kam aus einer ganz normalen Familie«, fuhr der Priester in Berishs Ohrstöpsel fort. »Der Vater hatte eine Knopffabrik, die Mutter war Hausfrau. Er war ihr einziges Kind und ein fleißiger Schüler. Mentale Auffälligkeiten, die sich auf seine spätere Existenz negativ hätten auswirken könnten, hat er nie gezeigt.«

Mithilfe der vielen Zigaretten wollte der Priester wohl seine Stimme rauer werden lassen, nahm Berish an. Das Ergebnis aber war grotesk. Er hatte das Gefühl, einem in die Jahre gekommenen Clown zuzuhören. Einem von der Sorte, die in den Albträumen von Kindern vorkamen. Oder in einem billigen Horrorfilm aus den Sechzigern.

»Bestimmt wollen Sie mir gleich erzählen, dass dieses wunderbare Idyll irgendwann von einem schrecklichen Drama erschüttert wurde«, provozierte Mila den Mann.

»Achtung«, versuchte Berish seine Ex-Kollegin in Gedanken zu warnen, »wenn du jedes seiner Worte infrage stellst, riskierst du, dass er dir genau das sagt, was du hören willst. Letztlich ist es sein einziges Interesse, dir noch mehr Geldscheine zu entlocken.«

Doch noch hielt Berish sich mit Ratschlägen via Funk zurück. Er wollte Mila nicht unnötig ablenken.

»Als er neun Jahre alt war, geschah etwas, das alles veränderte«, berichtete der Geistliche. »Norman kam von der Schule nach Hause und stellte fest, dass der Vater früher von der Arbeit heimgekehrt war und seine Eltern im Wohnzimmer miteinander stritten. Der Junge versteckte sich, um sie zu belauschen … Kurz: Gregory Luth beschuldigte seine Ehefrau, ihn mehrfach betrogen zu haben. Erst leugnete sie alles, um am Ende doch noch zu gestehen. Allerdings zeigte die Frau keine Reue, sondern erklärte ihrem Mann, sie sei froh, ihn dadurch gedemütigt zu haben, dass sie mit anderen Männern ins Bett ging. Außer sich vor Wut, legte Gregory ihr die Hände um den Hals und drückte zu.«

Angesichts der Tatsache, dass auch der Unic-Mörder seine Opfer erwürgt hatte, war das letzte Detail nicht unwichtig, dachte Berish. Alles schien perfekt zusammenzupassen und die These zu unterstützen, dass Norman Luth der Täter war. Wenngleich das Problem mit dem Alibi noch nicht vom Tisch war. Wahrscheinlich hatte Luth einen Weg gefunden, immer mal wieder aus der psychiatrischen Klinik auszubrechen, sagte sich der Polizist. Oder jemand hatte ihm dabei geholfen.

»Nachdem er seine Frau umgebracht hatte, bemerkte Gregory die Anwesenheit seines Sohnes. Er befahl ihm, seinen Koffer zu packen, sie müssten verreisen. Norman gehorchte und saß kurze Zeit später neben seinem Vater im Auto. Sie fuhren nicht mal acht Kilometer weit, dann stoppte der Vater mitten im Berufsverkehr auf einer der beiden aus der Stadt führenden Brücken, stieg aus dem Wagen und trat, ohne ein Wort zu sagen, an die Brüstung …«

»O Gott«, entfuhr es Berish, als er sich die seelischen Qualen des kleinen Jungen ausmalte, der innerhalb kürzester Zeit den grausamen Tod seiner beiden Eltern miterlebt hatte.

»Wer hat sich danach um Norman gekümmert?«, fragte Mila.

»Eine Zeit lang die engsten Verwandten des Jungen, dann aber luden sie ihn doch beim Jugendamt ab, mit der Ausrede, er würde dort nach all seinen schrecklichen Erlebnissen eine bessere psychologische Betreuung erhalten … Am Ende folgte eine richterliche Verfügung, dass er zu Pflegeeltern kommen und später eventuell zur Adoption freigegeben werden sollte.«

»Aber er konnte sich in keine Familie richtig einfinden …«, mutmaßte Mila.

»Niemand will ein Kind haben, das mitansehen musste, wie der Vater die Mutter umgebracht hat, bevor er sich selbst von der Brücke stürzte«, lautete der Kommentar des Priesters.

Berish wusste, dass er recht hatte. Kinder wie Norman Luth wurden mit dem Attribut »Ausgeburt des Teufels« belegt und waren für alle Zeiten von der Schuld derer gebrandmarkt, die sie in die Welt gesetzt hatten.

»Norman kam in eine psychiatrische Klinik für Minderjährige. In Wirklichkeit war er geistig völlig gesund und wurde dort nur geparkt, weil niemand da war, der sich seiner angenommen hätte.«

Absurd, sagte sich Berish. Es war als eine Tatsache angesehen worden, dass Norman wegen seiner tragischen Erlebnisse einen irreversiblen Schaden erlitten hatte. Tag und Nacht umgeben von psychisch Kranken, war er schließlich selbst einer geworden.

»Wie haben Sie Luth kennengelernt?«, fragte Mila.

»Als er volljährig war, haben die Ärzte beschlossen, ihn in die Welt zu entlassen.« Der Priester lachte sarkastisch. »Der einzige Ort, an den er gehen konnte, war das Haus, das er nach dem Tod seiner Eltern geerbt hatte.«

Nicht zu glauben, dachte Berish. An den Ort zurückzukehren, an dem das Drama seines Lebens begonnen hatte, dürfte keine große Hilfe für ihn gewesen sein.

»Norman wollte dort nicht bleiben … Eines Tages las er in der Zeitung, dass ich eine Zweizimmerwohnung über der Garage des Pfarrhauses zu vermieten hatte, und stellte sich mir als Mietinteressent vor.«

Berish beugte sich auf dem Fahrersitz vor, um die Garage mit dem Apartment im Obergeschoss, das er bei ihrer Ankunft schon bemerkt hatte, besser sehen zu können. Wieder fiel ihm das »Zu vermieten«-Schild im Fenster auf. Luth war vermutlich der letzte Mieter gewesen. Vielleicht lohnte es sich ja, das Apartment einmal genauer in Augenschein zu nehmen.

 

Mila war sehr zufrieden mit dem Verlauf ihres Gesprächs mit Pater Roy, es kam ihr kaum wie ein Verhör vor. Und wenn Berish noch nicht eingeschritten war, konnte das nur heißen, dass auch er bislang zufrieden war.

Der Priester hustete heftig und spuckte in ein benutztes Papiertaschentuch, das er aus seinem Pyjama gezogen hatte.

Mila fuhr fort, ihn zu befragen.

»Wie lange hat Norman in dem Apartment über der Garage gewohnt?«

Pater Roy hob den Blick zur Decke und rechnete nach.

»Von 2011 bis 2013 , dem Jahr, als er gestorben ist.«

Es war genau der zeitliche Rahmen, in dem die Morde an den Studentinnen geschehen waren. 2011 war auch der mutmaßliche Mord an Lea Mulach verübt worden, die später als das erste Opfer des Unic-Monsters gelten sollte, erinnerte sich Mila. Luth und Pater Roy hatten sich zeitgleich zu Leas Verschwinden kennengelernt, eine letzte Bestätigung ihrer These.

»Wie gesagt hat sich Norman hin und wieder in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen, weil er hoffte, die Ärzte könnten Ordnung in das Chaos in seinem Kopf bringen. Er blieb dann eine Weile dort, und wenn es ihm reichte, kam er zu mir zurück. Seine Klinikaufenthalte fallen zeitlich mit den drei Morden des Unic-Monsters zusammen. Halten Sie das für einen Zufall?«, fragte er mit einem provozierenden Lachen.

Mila hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie es Luth gelungen sein musste, der Überwachung durch das Klinikpersonal zu entgehen, um die drei Studentinnen zu töten und anschließend in die Einrichtung zurückzukehren. Sie hatte den starken Verdacht, dass Pater Roy ihm dabei geholfen hatte. Norman aber hatte den Komplizen in seinem Geständnis nicht erwähnt – aus Dankbarkeit oder aus Angst? Eines war gewiss: Die psychischen Störungen Luths, eine Folge seines Kindheitstraumas, waren irgendwann mit den Trieben eines Kinderschänders zusammengefallen.

Eine toxische Kombination.

Vielleicht war genau das die Lösung des Rätsels, das zu entschlüsseln Enigma sie aufforderte. Doch hatte Mila noch keine stichhaltigen Beweise für ihre These, außerdem wusste sie nicht, welche Rolle das Anderswo dabei spielte.

»Da ist noch etwas, Roy, das ich nicht verstehe. Vor dem Hintergrund, dass Sie an Normans Unschuld festhalten, kommt es mir seltsam vor, dass Sie sich nicht die Frage gestellt haben, ob …«

»Welche Frage?«

»Haben Sie sich nie gefragt, warum die Mordserie, als deren Urheber Luth sich selbst bezichtigte, mit seinem Suizid 2013 aufgehört hat? Danach wurde keine einzige blonde Studentin mit Brille mehr umgebracht …«

Der Geistliche schwieg. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Mila hatte Berishs Instruktionen exakt befolgt und gewartet, bis sie den Widerspruch offenlegen konnte. Sie ging fest davon aus, den Priester geknackt zu haben.

»Norman litt an Graphomanie, wussten Sie das?«, wand sich der Priester aus der Klemme. »Er hat Dutzende von Tagebüchern vollgeschrieben … Ich habe einige behalten – möchten Sie einen Blick hineinwerfen? Vielleicht finden Sie ja etwas Interessantes für Ihre Ermittlung.«

Ob das ein Ablenkungsmanöver war? Hatte er es bloß auf mehr Geld abgesehen?

Sicherheitshalber legte sie einen weiteren, noch größeren Geldschein unter das Glas.

»Bringen Sie mir die Tagebücher.«

Der Priester reagierte nicht. Stumm starrte er sie aus seinen verquollenen Augen an. Mila durchfuhr ein Schauer.

»Sie sind in der Abstellkammer. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen«, sagte er schließlich und erhob sich aus seinem Sessel.

Mila blieb sitzen. Der Mann bemerkte ihr Zögern.

»Was ist? Wollen Sie nicht mehr?«, fragte er amüsiert.

Mila zog die Nase hoch.

»Nein, ganz im Gegenteil«, versicherte sie und stand auf.

 

Berish stand an der Außentreppe der Garage, die zu dem Apartment im Obergeschoss führte. Per Funk hatte er mitgehört, dass Mila ihr Ass gespielt hatte: die Schlussfolgerung, dass das Ende der Mordserie des Unic-Monsters in unmittelbarem Zusammenhang mit Luths Suizid stand. Damit war der Höhepunkt erreicht, es blieb ihm nicht mehr viel Zeit für die Durchsuchung des Apartments.

Doch dann erwähnte der Priester Normans Tagebücher.

»Okay, gib ihm noch mehr Geld und schau sie dir an«, sagte er ins Mikrofon. »In der Zwischenzeit werde ich mich mal in der Wohnung über der Garage umsehen.«

Mila zog die Nase hoch. Ihr Zeichen, dass sie verstanden hatte und Berishs Anordnungen befolgen würde.

Der Polizist ging die Stufen hoch und kam zu einer weißen Tür mit einem kleinen Fenster, in dem ein gelber Vorhang hing. Das Schloss war von der einfachen Sorte, Berish konnte es mithilfe seiner Kreditkarte gleich beim ersten Versuch knacken. Sofort schlug ihm ein widerlicher Gestank entgegen. Er ließ den Blick schweifen: Eine tote Ratte lag vor ihm auf dem Teppichboden. Er ließ die Wohnungstür offen stehen, um für Durchzug zu sorgen, und trat ein. Das Apartment bestand aus einem großen Raum, der von einer Rigipswand unterteilt wurde. Durch eine zurückgeschobene Falttür konnte er ein Bett sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Trennwand waren eine Küchenzeile und eine Tür, vermutlich zum Bad, zu erkennen.

Überall lagen Kleidungsstücke, leere Fast-Food-Verpackungen, Pornomagazine und sonstiger Müll herum. Der dicken Staubschicht zufolge mussten sie schon lange dort liegen. Die Bestätigung, dass tatsächlich Norman Luth in diesem Chaos gehaust hatte, lieferte Simon ein gerahmtes Foto auf der Kommode.

Ein lächelndes Kind, Arm in Arm mit seinen Eltern bei einem Strandausflug.

Berish zwang sich, die tote Ratte und den Gestank zu ignorieren, und begann, das Apartment zu durchsuchen.

 

Schlurfend ging der Priester voran. Ein nervtötendes Geräusch. Unwillig folgte Mila ihm durch die mäandernden Gänge des Pfarrhauses. Die religiösen Bilder und Kruzifixe an den Wänden verströmten weder Frieden noch Trost. Düsternis und Gestank dominierten die Atmosphäre.

Ein Geräusch im oberen Stockwerk versetzte sie in Alarmbereitschaft. Es klang wie Schritte. Sie hob die Augen zur Decke und sah Staub von den Balken herabrieseln.

Zum ersten Mal, seit sie sich im Haus des Paters befand, hatte sie das Gefühl, dass sie nicht allein waren. Unwillkürlich schob sie die Hand unter den Mantel. Die Pistole war noch da.

Sie kamen an einer Art Studio vorbei, als Milas Blick auf einen Mann mit Vollbart fiel. Wie angewurzelt blieb sie stehen, stellte aber sogleich fest, dass es sich bei dem Mann nur um eine lebensgroße Heiligenstatue aus Holz handelte. Pater Roy, der ihren Irrtum bemerkt hatte, brach in meckerndes Gelächter aus.

»Jakobus der Ältere, Schutzpatron der Krieger …«

Mila ließ den Blick weiterwandern. In einer Ecke des Zimmers stand ein alter Computer. Einen Controller aber oder eine VR -Brille konnte sie nicht entdecken. Dafür hatte die Tastatur eine ungewöhnliche Form: Der Zahlenblock befand sich auf der linken statt wie üblich auf der rechten Seite.

»Da wären wir.«

Der Geistliche stieß eine Tür auf und schaltete das Licht ein. Der Raum war sehr schmal und mindestens vier Meter tief.

»Normans Sachen sind ganz hinten«, sagte Pater Roy, »in zwei Kisten unten auf einem der Regale. Sie können sie gar nicht übersehen, sein Name steht drauf.«

Mila hoffte inständig, das Berish seine Worte mitangehört hatte. Jetzt, wo sie wussten, wo Luths Sachen waren, musste er seine Zeit eigentlich gar nicht mehr im Apartment verschwenden. Sie verspürte nicht die geringste Lust, sich in die enge Kammer zu zwängen. Ihr Blick ging erneut zur Decke. Hatte sie sich das Geräusch eben nur eingebildet, oder war dort oben wirklich jemand?

Sie gab sich einen Ruck. Von ihren klaustrophobischen Ängsten würde sie sich nicht kleinkriegen lassen. Sie legte ihren Mantel ab und schob die Ärmel des Kapuzenpullis hoch.

Pater Roy lehnte am Türrahmen und zündete sich die x-te Zigarette an. Ein Grinsen umspielte seine Mundwinkel, als freue er sich schon auf das bevorstehende Spektakel.

 

Der Gestank, der von der toten Ratte ausging, war dermaßen bestialisch, dass er die ganze Wohnung verpestete. Berish versuchte, durch den Mund zu atmen, aber das half nur wenig. Zu allem Überfluss brachte die Hausdurchsuchung keinerlei Ergebnis; er fand lediglich nutzloses Gerümpel.

Der Polizist verspürte einen zunehmenden Brechreiz. Wenn er nicht so schnell wie möglich aus dieser Bruchbude rauskam, würde sich der widerwärtige Gestank noch in seinen Klamotten festsetzen.

Bei der zweiten Warnung seines revoltierenden Magens wurde ihm klar, dass er sich jeden Moment würde übergeben müssen. Er stürzte Richtung Badezimmer und wollte die Tür aufstoßen, doch sie war verschlossen. Verwundert sah sich Berish die Tür genauer an: kein Schloss, nur eine Klinke. Irgendetwas musste die Tür von innen blockieren.

Seine Übelkeit unterdrückend, versuchte er, sie mit Gewalt zu öffnen. Er musste sich mehrmals gegen das Türblatt werfen, bis die Tür endlich nachgab und sich ein schmaler Spalt auftat. Er zwängte den Kopf hindurch … und zog ihn sogleich wieder zurück.

Das war nicht die tote Ratte, die da so grauenhaft stank, sondern eine Leiche im fortgeschrittenen Verwesungszustand.

Berish hielt sich Nase und Mund mit einer Hand zu und zwang sich, den Kopf erneut durch den Spalt zu stecken. Der Körper lag auf der Seite, in einer Art Embryohaltung. Er nahm das ganze Badezimmer ein. Die Gesichtshaut war straff über den Knochen gespannt und schwarz vor Fäulnis. Die Zähne schimmerten durch die Wangen hindurch, die Augenhöhlen waren leer. Die Leiche trug Männerkleidung: Hemd und Hose, beide dunkel. Der Hosenschlitz stand offen.

Berish beugte sich vor, um besser sehen zu können. Auf Höhe des Schambeins befand sich eine Pfütze geronnenen Blutes. Doch erst als der Polizist seine Augen zu den Händen des Toten wandern ließ, begriff er, was geschehen war.

In einer Hand hielt der Mann ein Messer, gleich daneben lagen Penis und Hoden des Mannes, oder was davon übrig war. Er musste sich selbst kastriert haben und an der Schnittwunde verblutet sein.

Plötzlich bemerkte Berish ein Detail am Hemd des Toten. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder. Auf der linken Brusttasche, in Höhe des Herzens, befand sich ein Anstecker in Form eines Kruzifixes.

 

In der ersten Kiste stieß Mila lediglich auf einen Radiowecker, einen Toaster, ein paar Töpfe und ein Telefon. Keine Spur von den Tagebüchern, die Pater Roy erwähnt hatte. Hastig öffnete sie die zweite Kiste. Sie konnte nur hoffen, dass der Priester ihr keine Lügen aufgetischt hatte.

Die zweite Kiste enthielt Kleidungsstücke. Während sie zwischen alten Pullovern und Flanellhemden herumwühlte, meldete sich Berish per Funk. Allerdings war der Empfang in der Kammer so schlecht, dass sie nur Wortfetzen vernahm. Schließlich erstarb Berishs Stimme ganz, und Mila entdeckte etwas am Boden der Kiste.

Drei Kladden mit buntem Einband. Die Tagebücher. Auf jedem war das Jahr seiner Entstehung notiert. 2011 , 2012 und 2013 . Eins für jedes Opfer, durchfuhr es Mila. Wenn Norman Luth wirklich an Graphomanie gelitten hatte, wie Pater Roy behauptete, enthielten sie vielleicht die Chronik der Morde an den Studentinnen.

Sie nahm das erste Tagebuch zur Hand. Vielleicht hatte das Unic-Monster auch notiert, wo es die einzige Leiche, die nie gefunden wurde, versteckt hatte. Vielleicht würde Lea Mulach endlich beerdigt werden und in Frieden ruhen können.

Doch als Mila das Heft aufschlug, wurde sie mit einer ganz anderen Realität konfrontiert: Die eng beschriebenen Seiten waren mit winzigen Zahlen bedeckt. Kolonnen von Zahlen. Der untrügliche Beweis, dass es zwischen Norman Luth und dem Anderswo eine Verbindung gab.

Wieder verspürte sie das bekannte Kribbeln im Nacken. Aber nicht deswegen. Sondern, weil die Entdeckung ihr die Position des Zahlenblocks von Pater Roys Computertastatur in Erinnerung gerufen hatte.

 

Wie von der Tarantel gestochen, war Berish aufgesprungen und die Treppe hinuntergestürmt. Stoßgebete zum Himmel schickend, dass er nicht zu spät kommen würde, rannte er die kurze Strecke von der Garage zum Pfarrhaus.

»Hörst du mich, Mila? Das ist nicht Pater Roy«, brüllte er atemlos ins Funkgerät. »Der Priester ist tot. Du musst sofort da raus!«

Keine Antwort. Er hörte nur seinen eigenen Atem, der schließlich vom Rauschen des Windes übertönt wurde. Dann einen gedämpften Knall.

Unwillkürlich verlangsamte er seine Schritte. Vielleicht spielte ihm seine Fantasie ja einen Streich, doch etwas sagte ihm, dass ein Schuss gefallen war. Nein, das war keine Einbildung, dachte er. Der Knall kam direkt aus dem Haus.

Mit gezückter Pistole betrat er die Wohnung des Pfarrers, um Mila zu suchen. Wo konnte sie nur sein? Berish eilte von Raum zu Raum. Nirgendwo war eine Spur von Mila und dem Bewohner des Hauses zu sehen. Aber eins war klar: Irgendetwas stimmte nicht, es war zu still. Schließlich hörte er ein Keuchen, das wie ein unterdrückter Hustenanfall klang, und folgte ihm durch die verwinkelten Gänge.

Das Keuchen stammte vom falschen Pater Roy, der auf dem Boden im Flur lag. Mila hockte neben ihm und presste ihre Hände auf eine Wunde in seinem Unterleib.

»Wo ist meine Tochter?«, hörte Berish sie eindringlich sagen. »Ich will wissen, wo ihr sie hingebracht habt. Sag mir, wo sie ist. Ich bitte dich.«

Der Mann hustete erneut, und ein Schwall Blut lief aus seinem Mund. Sein weißer Bart färbte sich rot. Er lächelte.

Berish begriff, was geschehen war: Mila musste in Notwehr auf den Pfarrer geschossen und die Pistole anschließend auf den Boden gelegt haben. Daneben erkannte Simon ein Messer, mit dem sie der Mann höchstwahrscheinlich bedroht hatte.

Mila bemerkte den Freund.

»Ruf einen Krankenwagen!«, bat sie ihn mit panischer Stimme.

Aber Simon hatte zu viel Erfahrung mit Schusswunden, um nicht zu wissen, dass der Verletzte keine Chance mehr hatte. Tatsächlich trat bereits wenig später ein ungesunder Glanz in die Augen des Mannes, kurz darauf verlöschte sein Blick.

»Wir müssen hier weg«, sagte er und ergriff Mila beim Arm, um ihr aufzuhelfen.

»Die Tastatur!«

Berish verstand nicht, wovon sie sprach. Er bemerkte nur, dass sie vollkommen aufgelöst war.

»Die Tastatur ist für Linkshänder. Er aber hat mit rechts geraucht.«

Wer auch immer dieser Bastard war: Enigma hatte ihn geschickt. Auch für Berish gab es nun keinen Zweifel mehr an dieser Tatsache.

Ein Geräusch über ihren Köpfen schreckte sie auf: Schritte. Berish sprang hoch, bereit zu schießen. Durch das Fenster sahen sie zwei Männer die Feuerleiter hinunterklettern und zu einem in der Nähe parkenden Auto rennen. Mit quietschenden Reifen raste der Wagen davon.

Mila hatte sich nicht geirrt: Es war wirklich jemand im oberen Stockwerk gewesen.

»Scheiße«, sagte Simon.

Er nahm die Tagebücher vom Boden und drückte sie Mila ungeachtet des Bluts an ihren Fingern in die Hand.

»Nimm das Auto und fahr zu mir.«

»Und meine Pistole?«

»Ich kümmer mich darum.« Dann blickte er auf die Leiche und sagte: »Und um den Rest auch.«