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Der Modus Operandi eines Serienmörders ist wie ein Kuchenrezept.

Mila wiederholte in Gedanken den ebenso makaberen wie treffenden Vergleich. Wenn dir etwas auf eine Art gut gelingt, warum solltest du dann deine Vorgehensweise ändern?

Aber selbst wenn das eigentliche Muster beibehalten wurde, konnte der Modus Operandi eines Killers von einer zur nächsten Tat variieren: Der Mörder neigte, wie der Bäcker, zum Perfektionismus, also lernte er aus der Erfahrung. Viele Kriminologen verließen sich daher, wenn sie Morde einem bestimmten Serienmörder zuordneten, nicht mehr auf dieses Kriterium. Es war sogar ziemlich wahrscheinlich, dass zwischen dem ersten und dem letzten Mord einer Serie so viele Unterschiede auftraten, dass sie wie die Morde verschiedener Täter wirkten. Das barg ein gewisses Risiko, vor allem vor Gericht, wo ein pfiffiger Anwalt bei solchen Unstimmigkeiten den Hebel ansetzen konnte, um die Anklage gegen seinen Mandanten als unzulässig darzustellen. Aus diesem Grund hatten die Profiler begonnen, sich bei seriellem Verhalten auf einen anderen Aspekt zu konzentrieren. Auf etwas, das sich nicht veränderte.

Die Signatur.

»Der Serienmörder begeht die Tat, um ein Bedürfnis zu befriedigen«, erklärte Mila Berish, während dieser den Wagen durch die regennassen Straßen steuerte. »Um seine Lust wirklich zu stillen, muss er eine bestimmte Sache unbedingt machen. Wenn er zum Beispiel daraus Befriedigung zieht, dass er seinem Opfer Schmerzen zufügt oder es gewaltsam unterwirft, dann kann er auf sadistische oder demütigende Handlungen einfach nicht verzichten – das wird seine Signatur.«

Der kleinste gemeinsame Nenner eines Verbrechens.

»Manchmal ist es allerdings extrem schwierig, zwischen Modus Operandi und Signatur zu unterscheiden«, fuhr sie in Gedanken an den Fall eines Bankräubers fort, der seine Geiseln fotografierte, bevor er sie zwang, sich auszuziehen.

Ein solches Verhalten war weder notwendig noch zielführend für einen gelungenen Bankraub, im Gegenteil, die Gefahr, erwischt zu werden, war so sehr viel größer, denn der Täter hielt sich unnötig lange in der Bank auf. Es war seine Signatur, das Symptom für ein nicht zu unterdrückendes Verlangen.

Ein anderer Bankräuber hatte seine Geiseln zwar gezwungen, sich auszuziehen, aber er fotografierte sie nicht. Der Grund war ein rein praktischer: Weil sie sich ihrer Nacktheit schämten, wandten sie den Blick ab, wodurch das Risiko gesenkt wurde, dass sie der Polizei später brauchbare Hinweise auf sein Äußeres geben konnten.

Berish aber begriff immer noch nicht.

»Was hat diese ›Signatur‹ mit der Rose zu tun, die Lea Mulachs Mutter jedes Jahr auf dem Grabstein ihrer Tochter findet?«

»Lass uns zur Vorhölle fahren, dann erkläre ich es dir. Ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht.«

 

Trotz des schlechten Wetters kamen sie schnell voran. Die Temperatur war um mehrere Grad gesunken, und die Prognosen für die nächsten Stunden verhießen wenig Gutes. Mila und Berish erreichten die Dienststelle gegen sechzehn Uhr.

Sonntagnachmittags war im Polizeipräsidium nicht viel los, aber sie achteten dennoch darauf, niemand Bekanntem über den Weg zu laufen, der Shutton brühwarm erzählen würde, dass er sie zusammen gesehen hatte.

Im Saal der verlorenen Schritte legte Mila das Notebook von Lea Mulach auf einen Schreibtisch und ließ es erst einmal laden. Schließlich war das Gerät ewig nicht benutzt worden.

»Wir kümmern uns später um den Laptop«, wandte sie sich an Berish.

Dann setzte sie sich vor ihren alten Rechner, um nach etwas zu suchen, das ihre Vermutungen bestätigte. In einer gesonderten Datenbank der Mordkommission für besonders geläufige Opferprofile wurde sie fündig. Es war politisch nicht korrekt, Tote nach ihrem Lebensstil zu beurteilen, aber letztlich ging es genau darum. Wer mit Drogen dealte, sich prostituierte oder einer Gang angehörte, wurde mit höherer Wahrscheinlichkeit ermordet als andere Leute. Irgendjemand hatte sogar mal von »Berufsrisiko« gesprochen.

Mila interessierte sich allein für die Prostituierten, und nachdem sie ihre Suche durch Parameter wie »blonde Haare«, »Brille«, »Erwürgen« verfeinert hatte, erhielt sie eine Liste von sechs Mordfällen seit 2013 .

»Da haben wir sie, die Signatur«, erklärte sie triumphierend. »Der Killer hat keineswegs aufgehört zu töten, er hat sich nur schlauer angestellt.«

Um ungestört agieren zu können, hatte er eine Zutat seines Rezepts ausgetauscht, schlussfolgerte Mila. Keine Studentinnen mehr, sondern Prostituierte. Eine erwürgte Studentin galt als Ausnahme, während eine Prostituierte dafür geradezu »prädestiniert" schien.

»Verstehe ich nicht«, sagte Berish. »War Luth also unschuldig? Oder gab es von Anfang an zwei Mörder?«

Mila bedeutete ihm, sich zu setzen.

»Ich habe da so eine Theorie, schauen wir mal, ob sie dich überzeugt …« Ihre Entdeckung hatte sie aufgewühlt, sie konnte es kaum erwarten, sie mit Berish zu teilen. »Luth war regelmäßiger Besucher des Anderswo, das belegen seine Tagebücher. In der virtuellen Welt ist Luth Teil der inszenierten Fantasie eines anderen Spielers: einer, der gerne blonde Studentinnen mit Brille erwürgt.«

Mila wusste, was es hieß, sich in die kranke Fantasiewelt eines anderen zu begeben. Sie würde nie mehr vergessen, was sie empfunden hatte, als sie in Karl Andersons Haut geschlüpft war, während dieser Frau und Kinder abschlachtete.

»Luth ist mental instabil, und als die Morde sich im wahren Leben auf identische Weise wiederholen, ist er überzeugt, der Mörder zu sein. Er geht zur Polizei und gibt ein vollständiges Geständnis ab … Aber weil er sich während der Zeit, als die Morde geschahen, in der psychiatrischen Klinik aufhielt, stellt sich heraus, dass er nicht der Täter sein kann, und er wird aus der U-Haft entlassen.«

»Doch die Sache mit Luth, die von seinem Selbstmord gekrönt wird, bringt den wahren Mörder zu einer Erkenntnis«, fuhr Berish fort, der endlich begann, ihrem Gedankengang zu folgen. »Wenn er nicht geschnappt werden will, muss er seinen Modus Operandi insoweit verändern, dass die Mordserie unterbrochen scheint … Aus diesem Grund ersetzt er die Studentinnen durch Prostituierte.«

»Seine Signatur ist das Aussehen der Opfer. Um sein Bedürfnis vollständig befriedigen zu können, muss es immer gleich sein: blond und Brille.«

Berish dachte nach.

»Und die dunkelrote Rose? Was ist ihre Bedeutung?«

»Es ist nicht gesagt, ob es sich hier um eine Geste des Mitgefühls oder der Reue handelt«, bemerkte Mila. »Vielleicht wollte er sich auf diese Weise selbst beweisen, dass er sein erstes Opfer nicht vergessen hat.«

Alle Serienmörder waren ihren ersten Opfern dankbar, wusste Mila. Wie bei einer ersten Liebe, die man auch nicht vergaß.

»Wenn Norman Luth im Anderswo mit dem wahren Mörder in Kontakt war, müssen wir nur in seinem Computer nachschauen«, platzte es aus Berish heraus. »Aber in dem Apartment über der Garage war kein Computer«, fügte er im nächsten Moment frustriert hinzu.

Mila befürchtete schon, in eine Sackgasse geraten zu sein, doch dann hatte sie plötzlich eine Eingebung.

»Der falsche Pater Roy hat mir erzählt, dass Norman das Haus seiner Eltern geerbt hat. Aber wegen seiner traurigen Erinnerungen wollte er dort nicht leben und hat das Apartment über der Garage gemietet. Höchstwahrscheinlich befindet sich der Computer von Luth an dem Ort, wo er seine Kindheit verbracht hat.«

»Der falsche Priester kann auch gelogen haben«, wandte Simon ein. »Oder in dem Haus wohnt längst jemand anders.«

Doch Mila wollte so schnell nicht aufgeben.

»Wir sollten uns nicht davon abhalten lassen, es zu überprüfen … Und danach widmen wir uns Leas Notebook.«

 

*

 

Der Regen, der sich den ganzen Tag lang über der Stadt ergossen hatte, gönnte sich endlich eine Atempause. Fast konnte man den Eindruck haben, als würde die Natur den Menschen ein Stück weit entgegenkommen. Doch je niedriger die Sonne stand, umso schneller nahte die Dunkelheit heran. Bald würde eine weitere lange Nacht für Alice beginnen. Der Gedanke quälte Mila. Wie ein dumpfer Schmerz in der Brust, mit dem man leben musste, wie eine Faust, die sich langsam immer tiefer zwischen die Rippen bohrte.

Die Eltern von Norman Luth hatten ihm eine hübsche Jugendstilvilla auf einem Hügel hinterlassen. Ein Zaun umgab das parkartige Grundstück. Berish hatte jedoch recht gehabt: Das Haus war tatsächlich bewohnt. Obwohl die Vorhänge vor den Fenstern zugezogen waren, konnte man sehen, dass Licht brannte.

»Was machen wir?«, fragte Mila.

Bei den neuen Hausbesitzern zu klingeln, konnten sie wohl vergessen.

»Keine Ahnung«, erwiderte Simon.

Fast war Mila schon so weit, die ganze Aktion abzublasen, als sie hinter der Villa, halb versteckt von den ausladenden Ästen einer Pinie, einen kobaltblauen Lancia Beta stehen sah. Auch Enigma und Pascal fuhren Autos, die aus dem letzten Jahrhundert stammten. Ausgerechnet der Mann mit der roten Sturmhaube hatte ihr den Grund dafür genannt: Diese Autos hatten kein GPS , durch das sie lokalisierbar gewesen wären.

»Kann sein, dass das nur ein Zufall ist«, erklärte sie Berish, nachdem sie ihm von den Autos erzählt hatte. »Aber mir scheint, so mancher Anderswo- User bedient sich dieser Vorsichtsmaßnahme.«

Der Polizist überlegte.

»Was hältst du davon, wenn wir einfach klingeln und fragen, ob sie Luths Computer haben?«

»Ehrlich gesagt, nichts.«

»Dachte ich mir.«

Berish zog zwei Pistolen aus seiner Manteltasche. Die eine gab er ihr, als Ersatz für die Waffe, die er nach dem Tod des falschen Pater Roy hatte verschwinden lassen.

»Die ist sauber«, versicherte er. »Falls du gezwungen bist, sie zu benutzen, wird keiner deine Spur nachverfolgen können.«

Kurze Zeit später waren sie an einer vom Haus aus uneinsehbaren Stelle über den Zaun geklettert. Um nicht gehört zu werden, liefen sie über den mit nassen Blättern bedeckten Rasen auf die Villa zu. Eisige Windböen fegten vom Hügel hinunter durch Bäume und Sträucher und verebbten wieder. Berish zeigte auf den Hintereingang, der zu einem Wintergarten führte. Durch die matten Scheiben konnte man lediglich ein Geflecht aus Ästen erkennen, die in der Dunkelheit aussahen wie die Gliedmaßen eines Skeletts. Ein kurzes Rütteln an der Tür, und das Schloss gab nach. Innerhalb von Sekunden waren sie im Haus. Eine angenehme Wärme empfing sie. Sie achteten auf Geräusche, die auf die Anwesenheit der Bewohner schließen ließen. Doch es war nichts zu hören.

Berish wollte schon losziehen, um das Haus zu erkunden, doch Mila hielt ihn am Ärmel fest. Als der Polizist sich umdrehte, sah er, was sie gesehen hatte. In dem Wintergarten befanden sich mehrere Rosenstöcke. Die schönste und üppigste Pflanze trug dunkelrote Knospen. Falls sie eine Bestätigung dafür gebraucht hatten, sich am richtigen Ort zu befinden, hatten sie sie nun gefunden.

Berish ging voraus. Die alten Dielen ächzten unter ihren Schritten. Vorsichtig das Gewicht austarierend, setzten sie einen Fuß vor den anderen. Sie waren sich nicht sicher, ob jemand zu Hause war, überall brannte Licht. Kleine Tischlämpchen mit Damastschirmen und goldene Wandleuchter auf der bordeauxfarbenen Stofftapete leuchteten ihnen mit ihrem milden Licht den Weg. Die antiken Möbel verströmten einen angenehmen, altehrwürdigen Geruch nach Bienenwachs und Edelhölzern.

Als sie zu einer Treppe mit intarsienverziertem Geländer kamen, die ins obere Stockwerk führte, bedeutete Berish Mila mit einem Handzeichen, dass er allein hinaufgehen würde. Sie selbst solle im Erdgeschoss bleiben. Es war besser, sich bei der Erkundung der Räumlichkeiten aufzuteilen.

Mila hielt die Pistole im beidhändigen Anschlag – so wie sie es in der Polizeischule gelernt hatte. Blick und Korn mussten auf einer Linie sein und einen Sicherheitsbereich von einhundertachtzig Grad abdecken.

Sie kam durch eine Küche, die in einem warmen Gelb gekachelt war. Kupfertöpfe hingen von der Decke herab, Schränke und Arbeitsflächen waren weiß lackiert. Gleich hinter der Küche befanden sich die ehemaligen Dienstbotenzimmer und dahinter eine Bibliothek mit einem alten Radio aus Nussbaumholz. Das Haus musste seit Generationen der Familie Luth gehören, dachte Mila. Doch Norman hatte es vorgezogen, über der Garage eines perversen Priesters zu hausen.

Die Erklärung lag im Salon, der noch immer den Geist der früheren Generationen atmete. Von der Türschwelle aus registrierte Mila jedes Detail: die altmodische Standuhr in der Ecke, die Sofagarnitur aus Samt, den Perserteppich, die bordeauxfarbene Pendelleuchte, die Anrichte mit den Nippesfigürchen, den Kachelofen mit dem Schaukelstuhl davor, die rot geblümte Stofftapete.

In diesem Raum war sie schon einmal gewesen, stellte Mila fest. Im Anderswo . Es war der Ort, an dem der Schatten versucht hatte sie zu erwürgen. Aber in diesen vier Wänden hatte sich Jahre zuvor eine echte Gewalttat ereignet: der Mord an einer treulosen Ehefrau durch den gedemütigten Ehemann, unter den unschuldigen Blicken eines neunjährigen Kindes. Norman hatte gesehen, wie der Vater die Hände um den Hals seiner Mutter gelegt hatte, wie das Gesicht der Mutter blau anlief, wie ihre Augen aus den Höhlen traten, während sich unter ihr eine Urinpfütze ausbreitete. Mila sah die Szene genau vor sich. Nach all den Jahren barg jeder Gegenstand in diesem Zimmer noch immer das Geheimnis des Todes. Aber es gab auch etwas, das die ehemalige Polizistin nicht in dessen virtuellem Pendant wahrgenommen hatte: einen Schreibtisch mit einer verstellbaren Lampe, deren Schein auf einen alten PC fiel.

In der Hoffnung, es könnte sich um jenen handeln, mit dem Luth sich in das Spiel eingeloggt hatte, trat sie näher. Tatsächlich sah sie neben dem Computer Controller und VR -Brille auf dem Schreibtisch liegen. Doch ihr Blick blieb an der Tastatur hängen.

Jemand hatte eine rote Sturmhaube darauf abgelegt.

 

Ihre Lungen glichen zwei Zylindern, die unentwegt Luft in sich hineinpumpten. Mehr, als hineinpasste. Sie war kurz davor zu hyperventilieren. Ihr Herz schlug so schnell, dass seine Schläge wie eine Art Tinnitus in ihr nachklangen.

Pascal hat mich verarscht. Er ist das Unic-Monster.

Durch die Zimmerdecke konnte sie Berishs Schritte hören, der das Stockwerk über ihr durchsuchte. Sie musste ihn warnen.

Sie lief den Weg zurück, den sie gekommen war, und fand sich am Fuß der Treppe mit dem Intarsiengeländer wieder. Auf jedes kleinste Geräusch, jede noch so unscheinbare Regung achtend, begann sie, die Stufen hinaufzugehen, die Waffe immer im Anschlag. Auf dem Treppenabsatz hielt sie vergeblich nach Simon Ausschau. Als sie sich an die Holzvertäfelung lehnte, bemerkte sie, dass sich dahinter eine Geheimtür verbarg, die perfekt in die Wandverkleidung eingepasst war. Seltsam, dass Berish sie nicht bemerkt hatte. Sie trat gegen die Fußleiste, und eine Abstellkammer tat sich vor ihr auf, in der sich allerdings lediglich ein Staubsauger und Putzutensilien befanden. Sie wollte die Tür schon wieder schließen, als sie ein Geräusch vernahm.

Es klang wie ein Wimmern.

Sie spitzte die Ohren. In Gedanken zählte sie die Sekunden, bis sie eine Minute gewartet hatte. Nichts rührte sich. Doch sie wollte nicht aufgeben. Sie war sicher, etwas gehört zu haben.

Das Wimmern erklang erneut, wenn auch nur ganz kurz.

Der Geist! Sie dachte an die Stimme, die sie im Anderswo gehört hatte.

Pass auf dich auf … Bring dich in Sicherheit …

Mila ging auf die Knie. Jetzt wusste sie, woher das Wimmern kam: Durch einen vergitterten Schacht auf dem Boden der Abstellkammer drang warme Luft. Es musste aus dem Keller kommen.

Schnell lief sie die Treppe wieder hinunter, um nach dem Kellerzugang zu suchen. Wahrscheinlich befand er sich in der Küche, mutmaßte sie. Und tatsächlich: Hinter dem Küchentisch sah sie eine graue Tür mit Messingknauf.

Sie schob den Tisch zur Seite und drehte den Knauf. Die Tür öffnete sich. Eine steile Treppe führte hinunter in die Finsternis.

Mila zögerte. Während ihrer Zeit als Fahnderin war sie so oft an dunklen und gefährlichen Orte gewesen. Orte, von denen Normalsterbliche keine Vorstellung hatten und in die niemand, der einen gesunden Menschenverstand oder so etwas wie Selbstliebe besaß, freiwillig einen Fuß hineingesetzt hätte. Nicht einmal ein Polizist. Für sie hingegen war es nie ein Problem gewesen.

Aus dem Dunkel komme ich … Und ins Dunkel kehre ich zurück …

In dem Moment streifte sie ein Gedanke, der sie bremste.

Wenn ich jetzt sterbe, ist es für Alice zu Ende.

Doch ein Gefühl sagte ihr, dass sie, wenn sie nicht nachsah, was sich dort unten befand, die Antworten auf ihre Fragen nie erhalten würde.

Das Wimmern kam nicht von ihrer Tochter, dessen war sie sich inzwischen fast sicher. Aber sie konnte sich auch irren. Ein Schwall kühler, feuchter Luft schlug ihr aus dem Keller entgegen. Mila atmete tief durch und setzte den Fuß auf die oberste Stufe. Sie hatte keine Taschenlampe bei sich. Nur ihre Pistole. Doch bei dieser Dunkelheit brachte auch eine Waffe nichts. Je weiter sie hinunterging, desto schwächer wurde das Licht, das von der Küche kam. Die Welt, die sie kannte, verschwand mit jedem Schritt ein Stückchen mehr. Vor ihr lagen Grauen und Finsternis.

Mila zählte die Stufen bis zum Ende der Treppe. Sechsundzwanzig. Das Dunkel war so undurchdringlich, dass sie es fast auf der Haut zu spüren meinte, wie eine lästige Liebkosung. Sie verscheuchte den Gedanken an den Tod. Nur wenn ihr Geist vollkommen frei war, würde sie gut auf Unvorhergesehenes reagieren können. Ihr Instinkt würde sie wie ein Sonargerät leiten.

Plötzlich meinte sie, jemanden atmen zu hören.

Irgendwo in ihrer unmittelbaren Nähe war jemand, der auf sie wartete, der ihre Hilfe brauchte.

Das Atmen verwandelte sich wieder in das Wimmern.

»Alice?«, rief Mila in die Finsternis hinein.

Keine Reaktion.

»Wer ist da?«, versuchte sie es erneut.

Diesmal ertönte eine Antwort aus dem Dunkel.

»Schau auf den Boden …«

Eine Männerstimme. Mila blieb wie angewurzelt stehen.

Nach kurzem Zögern trat sie ein paar Schritte vor und stieß mit der Schuhspitze gegen einen metallenen Gegenstand. Noch immer mit der Waffe im Anschlag, strich sie mit der Hand über den staubigen Steinfußboden, bis ihre Finger auf den Gegenstand stießen. Was mochte das wohl sein?

Eine Camping-Gaslaterne.

Sie drückte auf den Einschaltknopf. Es knackte, und das Rauschen von Gas ertönte. Sie hielt den Knopf so lange gedrückt, bis die Gaslaterne endlich anging und der Raum von einem diffusen Licht erhellt wurde. Der Keller war direkt in den Felsen hineingehauen worden. Gemauerte Pfeiler stützten die Decke ab.

An einen der Stützpfeiler war ein Mann gekettet. Mila leuchtete mit der Gaslaterne in seine Richtung. Sofort schirmte der Mann sein Gesicht mit der Hand ab. Doch zwischen den Fingern konnte Mila seine angsterfüllten Augen sehen.

Der Fremde war kaum älter als zwanzig. Ein schwerer Metallring umspannte seinen Knöchel. Er war barfuß und trug einen rosafarbenen Trainingsanzug.

Wie Enigma, als sie ihn in seiner Zelle besucht hatte.

»Wer bist du?«, fragte Mila.

Der Junge zögerte.

»Ich heiße Timmy Jackson«, sagte er schließlich.

Doch Mila kam sofort ein anderer Name in den Sinn.

Gräte .