Wir alle haben unseren Avatar in der realen Welt .
Pascal hatte recht gehabt.
Während sie mit maximaler Geschwindigkeit zurück zur Dienststelle raste, versuchte Mila, die Worte des Mannes mit der Sturmhaube zu deuten.
Man braucht gar kein Alter Ego in einer verdammten virtuellen Welt. Auch analog führen wir alle eine doppelte Existenz. Denn ein Teil von uns – der am tiefsten verborgene, unerreichbare Teil – führt ein Eigenleben. Mit ihm hassen wir heimlich, beneiden die anderen und wünschen ihnen nur das Schlechteste, manipulieren wir und lügen. Wir benutzen diesen Avatar, um unsere Schwächen zu kaschieren. Wir füttern ihn mit den schlimmsten Perversionen und gestatten ihm, in uns anzurichten, was er nur will. Und schließlich machen wir ihn verantwortlich für das, was wir sind.
Simon Berish war ein Schüler Enigmas. Simon Berish war ein Mörder.
Ist das möglich?, fragte sie sich verzweifelt. Ja, durchaus, musste sie zugeben. Ein Todesflüsterer hatte die Macht, Menschen zu verändern und harmlose Individuen in sadistische Mörder zu verwandeln.
Berish hatte Rose Ortis dazu gezwungen, eine E-Mail zu schreiben, mit der sie eine mögliche Vermisstenanzeige vereitelte. Wann war ihm der Gedanke, sie umzubringen, wohl gekommen?
Rose war das perfekte Opfer – so gutgläubig, so naiv. Mila musste immer wieder an das Foto denken, das die Frau auf einer Bergwiese mit ein paar Pferden im Hintergrund zeigte.
Sie selbst hatte sich von Berish hinters Licht führen lassen. Immer wieder hatte er sie getäuscht, stellte sie rückblickend fest. Zum Beispiel, als sie ihm vorgeschlagen hatte, Hitch an dem Parfüm der verschwundenen Frau schnüffeln zu lassen.
»Wir haben den Blutfleck. Warum sollten wir die Chance nicht nutzen …«, hatte er eingewandt, und sie hatte nicht weiter auf dem Parfüm bestanden.
Klar, das Blut. Berish hatte das Badezimmer der Wohnung untersucht, nachdem sie den Fleck auf dem Handtuch bemerkt hatte. Mila war davon ausgegangen, dass er Luminol benutzt hatte, um weitere Blutspuren sichtbar zu machen, die er bloßen Auges nicht erkennen konnte, weil der Mörder nach der Tat gründlich sauber gemacht hatte.
Außerdem hatte er den Hammer mitgenommen, den sie in dem Koffer gefunden hatten. Wahrscheinlich hatte er ihn bereits entsorgt. Dasselbe Schicksal hatte vermutlich auch die Pornozeitschrift ereilt, dessen war sie sicher.
Hätte Laura nicht ihren Wutanfall gehabt, Mila hätte niemals Verdacht geschöpft. Ein zufälliges Ereignis, ebenso zufällig wie ein und derselbe Duft im Auto und an Simons Hemd.
Wir alle haben unseren Avatar in der realen Welt . Vielleicht hatte auch Simon Berish gelernt, im Anderswo ein anderer zu sein. Die Zahlen auf den Ziegelsteinen – hatte er sie dort hineingeritzt? Oder ein Helfer? Das musste sie herausfinden.
Nach etlichen roten Ampeln, die sie einfach überfahren hatte, erreichte Mila endlich ihr Ziel. Sie fuhr den Dienstwagen direkt in die Tiefgarage, in der Hoffnung, dass niemand ihr Fragen stellen würde. Erneut benutzte sie einen Nebeneingang der Dienststelle, der weniger streng kontrolliert wurde. Sie hatte die Pistole bei sich, wohl wissend, dass sie ohne Prozess ins Gefängnis wandern würde, falls sie mit einer nicht autorisierten Waffe im Regierungsgebäude erwischt wurde. Aber sie musste es riskieren.
Auf dem Weg in die Vorhölle überlegte sie fieberhaft, wie sie sich dem Menschen gegenüber verhalten sollte, mit dem sie eine jahrelange Freundschaft und Arbeitsbeziehung verband. Dem einzigen Menschen, den sie in ihrer Nähe duldete. Was sollte sie ihm sagen?
Als sie den Saal der verlorenen Schritte betrat, saß Berish an einem der Computer. Hitch lag zusammengerollt zu seinen Füßen.
»Nirgendwo ein Hinweis auf den Hammer und die Pornozeitschrift«, sagte er, als er sie sah. »Aber ich konnte mir immerhin ein zweites Exemplar des Magazins besorgen, um die Seiten mit den zerstückelten Fotos abzugleichen.«
Die Beweisstücke lagen vor ihm auf dem Tisch. Vielleicht war sie tatsächlich gerade noch rechtzeitig eingetroffen, dachte Mila. Oder Simon war sich seiner Sache so sicher, dass er sie erst später vernichten wollte.
Die Seiten mit den zerstückelten Fotos abgleichen, wiederholte sie in Gedanken. Klar, um Ausreden war Berish noch nie verlegen gewesen.
»Mir ist noch etwas anderes eingefallen«, sagte Berish. »Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn es jemandem gelänge, alle Spuren in einer Wohnung zu beseitigen. Das ist schier unmöglich.«
Du scheinst ja zu wissen, wie das geht, höhnte Mila insgeheim.
»Irgendetwas muss uns also entgangen sein, und ich glaube, wir finden die Lösung in dieser Zeitschrift«, beharrte der Polizist. »Wie war’s bei Laura?«
Mila bemühte sich, ruhig zu wirken. Ohne Berish auch nur für einen Moment aus den Augen zu lassen, trat sie näher heran, bereit, jeden Moment die Waffe zu ziehen.
»Ganz gut«, sagte sie nur.
»Erzählst du’s mir, oder soll ich raten?«
Als nur noch wenige Meter sie voneinander trennten, zwang sie ihn mit ihrem Blick, sie anzuschauen.
»Simon, was ist in dem Jahr passiert, in dem wir uns nicht gesehen haben?«
Unruhig rutschte der Mann auf seinem Stuhl hin und her.
»Warum, was soll denn passiert sein?«, fragte er verwirrt.
»Irgendwas hat sich verändert. Du hast dich verändert.«
»Mila, was soll das? Was erzählst du da?«
»Wo ist Alice, Simon? Wo hast du sie hingebracht? Du kannst es mir jetzt sagen.«
Der Polizist setzte langsam seine Lesebrille ab und legte sie auf den Schreibtisch.
»Mila, ich weiß nicht, wovon du sprichst. Würdest du mir bitte erklären, was das soll?«
Die Ex-Polizistin griff in die Innentasche ihres Mantels und zog die Pistole hervor. Sie richtete sie aber nicht auf ihn, sondern hielt den Arm ausgestreckt am Körper – Zeichen genug, dass sie es ernst meinte.
»Ist in der Bar was passiert? Weshalb sprechen wir nicht einfach darüber? Vielleicht kann ich es dir erklären.«
»Sag mir, wo meine Tochter ist! Oder bring mich wenigstens in Kontakt mit ihnen.«
»Mit wem?«
»Mit Enigmas Leuten. Mit den anderen Spielern … Nenn sie, wie du willst, aber sag mir, wer sie sind!«
»Du bist ja vollkommen durchgedreht«, erwiderte der Polizist kopfschüttelnd und wandte den Blick ab.
»Sieh mich an!«, befahl Mila mit lauter Stimme.
Berish gehorchte, doch in seinen Zügen spiegelte sich blankes Unverständnis.
»Für wen hältst du mich?«
»Ich weiß es nicht mehr«, entgegnete Mila und richtete die Waffe auf ihn.
Der Polizist legte sich eine Hand auf den Mund. Ihm hatte es die Sprache verschlagen. Seine Augen glänzten verräterisch.
»Die fehlenden Koordinaten«, sagte Mila. »An der Mauer im Keller von Rose Ortis. Ich will den Längengrad wissen … Diesmal spielst du das Spiel mit mir und bringst mich zu Alice.«
Sie musste unbedingt ins Anderswo , bevor es vom Virus zerstört wurde. Sie spürte, dass nicht mehr viel Zeit blieb.
Ohne Berish aus den Augen zu lassen, trat sie langsam auf ihren ehemaligen Schreibtisch zu. Sie zog die oberste Schublade auf und fand, was sie suchte: ein Paar Handschellen.
»Hier, leg die an!«, rief sie und warf ihm die Handschellen zu.
»Du begehst einen riesigen Fehler. Ich habe keine Ahnung von irgendwelchen Längengraden!«
»Und ich keine Lust, mir diesen Mist anzuhören!«
Mechanisch begann der Polizist, die erste Handschelle um sein Handgelenk zu legen. Mit einem Klicken rastete das Schloss ein. Mila sah, wie er ansetzte, den Vorgang am anderen Handgelenk zu wiederholen, als er sich plötzlich nach vorne schnellen ließ und sich auf sie warf.
Die widersprüchlichsten Gedanken rasten durch ihren Kopf. Warum hatte sie nicht abgedrückt? Weil Berish ihr Freund war, ein Mensch, den sie gernhatte …
Ehe sie sich’s versah, lag sie am Boden. Berish hatte ihre Waffe an sich genommen.
Hitchs Bellen hallte in dem Raum wider. Stumm blickten die Gesichter von den Fotos auf sie herab. Tausend Blicke, tausend lächelnde Münder. Berish stand reglos vor ihr, die Pistole in der Hand, mit undurchdringlicher Miene.
»Dreckskerl!«, brüllte sie ihn an.
Sie wusste, gleich würde er auf sie zielen, gleich wäre es vorbei. In dem Moment hörte sie eine Stimme hinter sich.
»Keine Bewegung!«, rief Delacroix von der Türschwelle aus. Er hatte eine Halbautomatik auf Berish gerichtet. »Wirf sofort die Waffe weg!«
Sie brachten sie in einen fensterlosen Raum. Auch Bauer war da. Sie warteten auf die Shutton, doch die Richterin schien sich Zeit zu lassen.
»Was wird jetzt aus Berish?«, fragte Mila.
»Einstweilen ist er in Untersuchungshaft, weil er eine nicht genehmigte Ermittlung durchgeführt hat«, erklärte Delacroix.
»Das gilt dann auch für mich«, sagte sie.
Keiner der beiden antwortete darauf.
»Lasst mich mit ihm sprechen«, bot sie an. »Vielleicht erklärt er sich mir am ehesten.«
Im Kreuzverhör würde er hoffentlich ausspucken, was er über Alices Entführung wusste.
»Glaubst du, ein Spezialist für Verhöre lässt sich so leicht zu einem Geständnis überreden?« Delacroix schüttelte den Kopf. »Du bist wirklich naiv, Vasquez.«
»Beschuldigt ihr ihn, Rose Ortis ermordet zu haben?«, fragte sie vorsichtig, um herauszufinden, ob sie auf dem gleichen Kenntnisstand waren.
»Das hängt von dir ab«, ergriff Bauer das Wort.
Von ihr? Mila hatte den Verdacht, dass die beiden Polizisten nur blufften und längst über alles Bescheid wussten.
»Seit wann verfolgt ihr uns?«
Bauer lachte auf.
»Wir haben euch ein paarmal aus den Augen verloren, aber eigentlich sind wir euch auf den Fersen, seit du das Dezernat verlassen hast, um an den See zurückzukehren.«
»Das heißt, ihr wisst, was meiner Tochter zugestoßen ist. Wer hat sie entführt? Und warum seid ihr nicht eingeschritten?«
Mit einem Mal war sie fuchsteufelswild.
»Wir haben dich nur aus der Distanz observiert«, schaltete sich Delacroix ein. »Wir hätten niemals voraussehen können, was passieren würde.«
»Und was habt ihr bei mir gesucht? Was dachtet ihr denn, was ich tun würde?«
»Du interessierst uns gar nicht«, erklärte die Shutton, die in dem Moment mit Corradini im Schlepptau den Raum betrat. »Uns interessiert jemand ganz anderes.«
Die Richterin war wie immer sehr elegant gekleidet. Cremefarbener Rock und weiße Seidenbluse, Schuhe von Louboutin im Leopardenlook und um den Hals eine Perlenkette.
Mila sah, dass ihr Adlatus einen schwarzen Aktenkoffer dabeihatte. Auf ein Nicken der Shutton hin stellte er ihn auf dem Tisch ab und öffnete ihn. Wegen des aufgeklappten Deckels konnte Mila nicht erkennen, was sich darin befand.
Mit einer nonchalanten Geste fischte die Richterin ein Foto aus dem Koffer und schwenkte es vor ihren Augen.
Pascal.
Das Bild war mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden und zeigte Mila und den Mann mit der roten Sturmhaube am Aussichtspunkt oberhalb des Sees: Es war bei ihrer ersten Begegnung entstanden, Pascal hatte die Hände erhoben, während er auf ihre gezückte Pistole blickte.
»Was wollen Sie von mir wissen?«, fragte Mila.
»Alles«, erwiderte die Shutton. »Wir haben diesen Mann zusammen mit dir kennengelernt. Aber da er äußerst geschickt darin ist, sich jederzeit quasi in Luft aufzulösen, ist er uns auch beim zweiten Mal entwischt, als ihr nach dem Mord an Timmy Jackson alias Gräte aus der Villa von Norman Luth geflohen seid.«
Mord? Wieso Mord?, fragte sich Mila. Es war reine Notwehr gewesen. Das hätten ihre Beschatter doch sehen müssen. Und warum hatte Pascal es wieder einmal geschafft, sich aus der Affäre zu ziehen, und sie nicht?
»Wer ist dieser Mann? In welcher Beziehung stehst du zu ihm? Hast du ihm schon mal direkt ins Gesicht sehen können?«, bombardierte Bauer sie mit Fragen.
»Ich weiß es nicht. Er hat mir nur geholfen. Und nein, ich habe ihm noch nie direkt ins Gesicht geschaut«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Warum interessiert euch dieser Mann so sehr?«
»Weil der Typ nicht nur maskiert herumläuft, sondern auch Latexhandschuhe trägt, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, und außerdem nur Autos fährt, die mindestens zwanzig Jahre alt sind«, entgegnete die Shutton. »Vor allem aber, weil er bislang niemandem aufgefallen ist und auf keiner einzigen Überwachungskamera in der gesamten Stadt auftaucht.«
»Erinnert dich das an jemanden, Vasquez?«, fragte Bauer ironisch.
»Enigma …«
Wenn sie Pascals Kleiderfundus, seine Aufmachung und Perücken gesehen hätten, wäre ihnen vielleicht klar geworden, dass die Antwort auf ihre Fragen im Grunde ziemlich einfach war. Ein gewisses Schminktalent und Disziplin.
Corradini stützte sich auf die Tischplatte.
»An dem Vormittag am See wurdet ihr mit einem Richtmikrofon abgehört, wir wissen, über was ihr gesprochen habt.«
Mila versuchte sich an das erste Gespräch zu erinnern, das sie mit Pascal geführt hatte. Wenn sie nicht alles täuschte, hatte er nur allgemeine Bemerkungen zum Spiel gemacht und den Rest auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, wenn sie sein Versteck erreicht haben würden.
»Du musst uns jedes Detail schildern«, sagte die Shutton mit drohendem Unterton. »Dann werden wir sehen, ob deine Version mit unseren Informationen übereinstimmt.«
Mila begriff, dass die Richterin und die anderen viel weniger wussten, als sie vorgaben. Und ins Anderswo konnten sie ihr schon gar nicht gefolgt sein.
»Und was ist, wenn ich nicht kooperiere?«
Corradini entnahm dem Aktenkoffer eine zweite Fotografie und legte sie auf die von Pascal. Es war ein altes Bild aus der Verbrecherkartei und zeigte Pater Roy, den falschen Priester.
»Er hieß Marcel Turquoise und war ein auf Pädophilenforen spezialisierter Hacker. Er hat einen Großteil seines Lebens im Gefängnis verbracht, und wenn er mal nicht einsaß, kam er nach kürzester Zeit wieder in den Bau. Wir wissen, dass du ihn umgebracht hast und dass Berish die Leiche beiseitegeschafft hat. Wir könnten dich wegen Mordes anklagen.«
»Und warum macht ihr’s dann nicht?«, fragte sie provozierend.
»Wegen des Telefongesprächs«, lautete die prompte Antwort der Shutton.
Sie warf Bauer und Delacroix einen auffordernden Blick zu.
»Wie du sicher noch weißt, wurde Enigma dank eines anonymen Hinweises dingfest gemacht«, sagte Delacroix.
Mila ahnte, worauf sie hinauswollten.
»Ihr habt die Stimme des anonymen Anrufers mit der des maskierten Mannes am See verglichen und herausgefunden, dass Pascal derjenige war, der euch den entscheidenden Hinweis gegeben hat.«
»Genau«, bestätigte Delacroix.
»Und was hat das mit mir zu tun? Warum sollte mich diese Erkenntnis dazu bringen, mit euch zu kooperieren?«
Die Shutton gab Corradini ein Zeichen, woraufhin dieser ein weiteres Requisit des für sie inszenierten Spektakels aus dem Aktenkoffer zog: ein Aufnahmegerät.
Der Kriminalbeamte schaltete es ein. Erst war ein Rauschen zu hören, dann mehrmals das Klingeln eines Telefons, schließlich die Stimme einer Frau.
»Hier ist die Notrufzentrale der Polizei. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte Ihnen Bescheid geben wegen des tätowierten Mannes, den Sie suchen. Ich weiß, wo er ist.«
»Geben Sie mir die Adresse, dann können wir jemanden dorthin schicken.«
»Er befindet sich in der ehemaligen Schlachterei. Davor steht ein grüner Passat Kombi.«
»Gut, ich habe alles notiert. Geben Sie mir bitte noch Ihren Namen und Ihre Anschrift.«
»Dazu kann ich keine Aussage machen. Aber ich habe noch einen Tipp für Sie: Sie sollten höllisch aufpassen, der Gesuchte ist ein Todesflüsterer.«
Die Aufnahme stoppte.
Mila war sämtliches Blut aus den Wangen gewichen. Sie schnappte nach Luft.
»Ihr wusstet es«, keuchte sie. »Ihr wusstet, dass er ein verdammter Todesflüsterer ist!«
»Ja«, bestätigte die Shutton ungerührt.
Mila sah sie scharf an.
»Dann haben Sie also gelogen, als Sie zu mir an den See kamen. Das Foto, das Sie mir gezeigt haben, war ein Fake: Enigma hat sich meinen Namen nie tätowieren lassen!«
Sie hätte erleichtert sein sollen, denn diese ungewollte Verbindung zum Todesflüsterer hatte sie von Anfang an zutiefst verstört. Jetzt aber konnte sie nur daran denken, dass die Richterin sie hinters Licht geführt hatte, um sie in den Fall mit einzubeziehen. Und das nur, weil sie als Einzige in ihrer Laufbahn schon mal mit einem Todesflüsterer zu tun hatte.
»Du hättest sonst nie eingewilligt, mit uns zusammenzuarbeiten«, bestätigte die Richterin, ohne mit der Wimper zu zucken.
Sie konnte es nicht fassen. Doch jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Enigma hatte sie gar nicht ausgewählt. Er hatte nicht einmal gewusst, wen er vor sich hatte, als sie ihn in seiner Zelle besucht hatte. Die Tatsache, dass er ihr die ersten Koordinaten genannt hatte, mit denen sie ins Anderswo kam, bedeutete rein gar nichts. Sie oder ein anderer Mitwisser, das war vollkommen egal. Der Todesflüsterer wollte seine Schlacht im Anderswo schlagen, auf seinem Territorium. Und seine Gefolgsleute, die Jagd auf sie machten und sie töten wollten, spielten das Spiel einfach mit.
Doch ein großes Fragezeichen blieb: Weshalb war Alice entführt worden? Dafür schien allein die Shutton verantwortlich. Außer sich vor Zorn, wollte Mila sich auf die Richterin stürzen, aber Delacroix konnte sie gerade noch zurückhalten, indem er einen Arm um ihre Taille schlang.
»Sie verdammte Hexe!«, schrie sie ihr ins Gesicht.
Die Shutton zeigte keinerlei Regung.
»Deine Tochter ist in Gefahr, und wir werden dir dabei helfen, sie zu finden. Aber du musst uns erst alles erzählen.«
»Sie … Sie mieses Stück …«
In dem Moment klingelte Corradinis Telefon. Mit einer beschwichtigenden Geste in Milas Richtung nahm er das Gespräch an und reichte das Handy schon nach wenigen Sekunden an seine Chefin weiter. Mila konnte beobachten, wie sich ihr Gesichtsausdruck während des Telefonats mehr und mehr versteinerte. Joanna Shutton schien plötzlich besorgt. Sichtlich bemüht, die Contenance zu bewahren, legte sie auf und wandte sich an Bauer und Delacroix.
»Sorgt dafür, dass sie kooperiert«, ordnete sie an und verließ hastig den Raum.
Offensichtlich sahen die beiden Polizisten keine Notwendigkeit für ihre weitere Anwesenheit in dem fensterlosen Zimmer, denn schon wenig später begleiteten sie Mila zurück in die Vorhölle. Sie fragte nicht nach dem Grund für den Ortswechsel, aber als sie durch die langen Flure an den Büros vorbeigingen, bemerkte sie die Unruhe, die offenbar im ganzen Polizeipräsidium herrschte. Die Telefone klingelten unablässig, es fand ein reges Kommen und Gehen statt. Viele Polizeibeamte trugen schutzsichere Westen und schienen sich für einen Einsatz zu rüsten.
»Was ist passiert?«, fragte Mila.
»Nichts, was dich etwas angehen würde«, erklärte Bauer in seinem üblichen abschätzigen Tonfall.
Und doch schwelte da etwas, spürte Mila, und zwar heftig.
Wieder zurück im Saal der verlorenen Schritte, entdeckte sie Hitch. Er lag zusammengekauert unter Berishs Schreibtisch und schaute sie aus seinen dunklen Augen traurig an. Als wollte er wissen, was mit seinem Herrchen sei, hob er die Schnauze. Sofort wurde Mila von Schuldgefühlen überwältigt.
»Bleib hier«, befahl ihr Delacroix. »Wir holen dich bald wieder ab.«
Allein zurückgelassen, wusste Mila nichts Besseres mit sich anzufangen, als sich an einem Waschbecken das Gesicht zu waschen. Sie betrachtete sich im Spiegel über der Ablage. Es war Montagabend, und diese Geschichte zog sich nun schon seit vier Tagen hin. Seit die Shutton sie in ihrem Haus am See aufgesucht hatte. Doch wenn sie ihr Gesicht so ansah, schien ihr viel mehr Zeit vergangen zu sein. Sie kam sich um Monate gealtert vor.
Plötzlich wurde sie von dem Gedanken an Alice ergriffen. Alice! Sie hatte das Gefühl, als Mutter wieder einmal versagt, wieder einmal ihre Tochter vergessen zu haben. Als wütete in ihrem Gedächtnis der gleiche Virus wie im Anderswo , der alles Vergangene ausradierte. Sie gab sich einen Ruck und versuchte, sich Alices Stimme vorzustellen. »Im Baum ist ein Eichhörnchennest«, hatte sie verkündet, als sie nach der vergeblichen Suche nach Finz fröstelnd wieder ins Haus gekommen war, kurz bevor die Richterin durch ihren überraschenden Besuch ihr Leben völlig durcheinandergewirbelt hatte. Mila hätte sich nicht träumen lassen, dass sie statt nach einer Katze nach der eigenen Tochter würde suchen müssen.
Sie brachte Hitch eine Schüssel mit Wasser. Irgendwo in Berishs Schreibtischschublade mussten sich auch noch ein paar Hundekuchen befinden. Sie wurde tatsächlich fündig, gab dem Hund die Leckerli und streichelte ihm über den Kopf.
»Ich kann nichts dafür, okay?«
Doch wenn überhaupt, hätte auch der Hovawart ein schlechtes Gewissen haben müssen, sagte sie sich, schließlich hatte er dazu beigetragen, dass sein Herrchen in Schwierigkeiten steckte.
Sie waren alle mit schuld an der Situation. Sie selbst, weil sie so dumm gewesen war, sich täuschen zu lassen.
Mila musste daran denken, was Simon über das Internet gesagt hatte, über die irrsinnige Grausamkeit, die sich dort Bahn brach, ohne dass jemand einschritt. Sie fragte sich, wann Berish wohl in den Abgrund mitgerissen worden war. Hatte er Enigma im Anderswo getroffen? Hatte der Todesflüsterer ihn wirklich dazu gebracht, eine Unschuldige zu töten?
Ihr Blick fiel auf den Tisch, auf dem er die Beweisstücke deponiert hatte. Delacroix oder Bauer hatten die Plastiktüte mit dem Hammer weggebracht, an dem vermutlich Blut und Hirnmasse von Rose Ortis klebten. Aber sie hatten das Pornomagazin liegen lassen. Vielleicht wussten sie nicht, dass es mit dem Fall zu tun hatte.
Mila begann, in dem Heft zu blättern. Sie suchte nach den Fotos, aus denen die Gesichtspartien geschnitten worden waren. Augen, Nase, Mund, Ohren … Was war das für eine Art von Perversion? Quälte Berish die Frauen auf diese Art in seiner kranken Fantasie? Hatte er dasselbe auch mit Rose gemacht?
Sie musste an das unschuldige Lächeln der Mittfünfzigerin auf dem Foto von der Bergwiese mit den Pferden im Hintergrund denken. Wo war ihre Leiche? Irgendwann, vielleicht in tausend Jahren, würde jemand an einem einsamen Ort graben und die Überreste eines namenlosen Opfers zutage fördern, das mit Hammerschlägen getötet und dann barbarisch zugerichtet worden war. Vielleicht würde es aber auch nie dazu kommen.
Mila spürte, dass sie dringend einen Kaffee brauchte, und schlug das Heft zu. Sie hatte keine Lust mehr, sich weiter mit diesem Schund auseinanderzusetzen.
Aus den Augenwinkeln sah sie das zweite Exemplar des Pornomagazins, das Berish zum Abgleich der Seiten mit den zerstückelten Fotos besorgt hatte. Ein weiterer Trick, um sie auf die falsche Fährte zu locken? Sie schlug die unversehrte Zeitschrift auf und stieß auf das Bild einer Frau in obszöner Pose, identisch mit dem anderen Foto, aus dem die Augen herausgeschnitten waren.
Mila stutzte. Diesen Blick hatte sie doch schon einmal gesehen! Hektisch begann sie, in Berishs Schreibtischschublade nach einer Schere zu wühlen. Wieder wurde sie nach wenigen Sekunden fündig und fischte eine Nagelschere aus dem vor ihr liegenden Etui. Für einen Moment hielt sie inne. Ergab das, was sie da vorhatte, überhaupt einen Sinn?
Doch, das tat es.
Nacheinander schnitt sie erst die Augen von dem Foto aus, dann, auf einer anderen Seite, die Nase eines Pornostars. Es folgten die Ohren einer dritten Frau. Schließlich hatte sie an die zehn Körperteile beisammen.
Sie wusste nicht, was sie tat, oder vielmehr wusste sie es nur allzu gut, hatte aber Angst, es sich einzugestehen. Sie legte die Zeitschrift weg, nahm ein weißes Blatt und legte die ausgeschnittenen Teile darauf, als wäre es ein Puzzle.
Ein Gesichtspuzzle.
Mila erschrak. Was sie vor sich sah, ähnelte entfernt dem Porträt einer Mittfünfzigerin auf einem Foto, das in Wirklichkeit gar nicht existierte. Das Gesicht von Rose Ortis war bloße Fiktion, jemand hatte es am Rechner erstellt und in eine Berglandschaft gesetzt. Was nicht weiter schwierig war: Es genügte, ein entsprechendes Programm auf dem Rechner zu haben. Die Profile auf den diversen Social-Media-Plattformen waren allesamt Fakes.
Deshalb also fanden sich keine Fingerabdrücke bei Rose zu Hause, dämmerte es Mila plötzlich.
Das Pornomagazin war der Schlüssel zum Geheimnis, und wie um sie zu verhöhnen, hatten Bauer und Delacroix es auf dem Schreibtisch liegenlassen.
Die vermisste Frau hatte es nie gegeben.
Was zwei weitere Schlüsse nach sich zog. Erstens: Berish war unschuldig. Und zweitens: Die junge Frau, die sich als Roses Tochter vorgestellt hatte, war eine Jüngerin Enigmas.