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Vier Gramm Niacin, um den Trip zu beenden.

Sie stahl das Medikament aus einem Stationszimmer, und doch hielten einige Nachwirkungen des Engelsstaubs an. Das Kältegefühl, das Zittern und der Schwindel. Sie musste erst wieder zu Kräften kommen, bevor sie Auto fahren konnte.

Es war kurz vor sechs, bald würde es im Krankenhaus vor Menschen wimmeln, daher verkroch sie sich wieder in den Lagerraum und setzte sich an einen der PC s, um die Wartezeit für eine kurze Recherche zu nutzen. Um ihren Durst zu löschen, hatte sie ein paar Wasserflaschen mitgenommen, die sie jetzt vor sich abstellte. Der letzte Satz des Jungen mit dem roten T-Shirt hallte noch in ihr nach – derselbe, den sie auch von Pascal gehört hatte.

Der Geist sieht, was der Geist sehen will .

Die Übereinstimmung konnte kein Zufall sein. Mila war überzeugt, dass die Worte aus dem Zusammenhang gerissen waren: vielleicht aus einem Buch, einem Zeitungsartikel, einem Slogan oder sonst einer Veröffentlichung. Und tatsächlich: Es handelte sich um das Motto eines kleinen neurowissenschaftlichen Instituts mit dem Namen »Red Forest«. Die Website war seit Jahren nicht mehr aktualisiert worden. Auf den ersten Blick schien es eher eine antiquierte öffentliche Einrichtung als ein modernes Privatunternehmen zu sein.

Auf der Homepage erschien nur das Logo: ein stilisiertes menschliches Auge mit zwei roten Bäumen und einem Gebäude aus dem vorigen Jahrhundert. Auf den wenigen Unterseiten fanden sich vor allem Fotos. Einige zeigten lediglich das inmitten eines majestätischen Buchenwaldes gelegene Gebäude, andere das Interieur, eine Mischung aus medizinischen Behandlungszimmern und Räumen mit gigantischen Rechnern, in denen Angestellte in weißen Kitteln zu sehen waren.

Auf einer der Seiten fand sich auch eine allgemeine Beschreibung der Aktivitäten des Instituts: Die Stiftung widmet sich der Forschung und Innovation auf dem Gebiet der Neurowissenschaften. Auf gesellschaftspolitischer Ebene sollen Synergien zwischen menschlichem Geist und künstlicher Intelligenz angestrebt sowie Forschungsergebnisse veröffentlicht und zum Nutzen der Menschheit in Umlauf gebracht werden .

Mila notierte die Adresse und beschloss, dem Institut einen Besuch abzustatten.

 

In der Eingangshalle des Krankenhauses zog sie ein paar Snacks aus einem Automaten, von denen sie glaubte, dass sie auch Hunden schmecken könnten, und kehrte zu ihrem Wagen zurück, in dem Hitch geduldig auf sie wartete. So empfing Berish ihn vermutlich nie, aber der Hovawart hatte es sich verdient. Sie ließ ihn aussteigen, damit er sich erleichtern konnte, während sie an den Volvo gelehnt eine weitere Flasche Wasser trank.

Am Horizont wurde es allmählich heller, und Mila überkam das Gefühl, kurz vor einer wichtigen Entdeckung zu stehen. Doch zuvor hatte sie noch eine weite Fahrt vor sich.

Das Institut zu finden, war alles andere als einfach. Sie musste die Autobahn verlassen, einer sich um einen Berg windenden Landstraße folgen, einige Dörfer durchqueren und schließlich in eine schmale Straße einbiegen, die bergan durch dichte Buchenwälder führte. Stunden später erkannte sie hinter einem Hügel die markante Fassade des Gebäudes, das Mila auf den Fotos im Internet gesehen hatte. Tatsächlich musste es im frühen zwanzigsten Jahrhundert erbaut worden sein.

Sie parkte den Wagen in der Einfahrt und ging mit Hitch auf das Haus zu. Entgegen ihrer Erwartung entpuppte sich der Eingangsbereich als ziemlich in die Jahre gekommen. An den Wänden hingen verblasste Fotos, auf denen Informatiker und Mediziner bei der Arbeit zu sehen waren. Doch aufgrund ihrer Bekleidung und der von ihnen verwendeten Technologie wirkten sie eher wie Menschen aus einer fernen, längst überwundenen Epoche. Der Raum wirkte seltsam verlassen. Nach einer Weile tauchte ein Angestellter auf, bei dem Mila sich nach dem Leiter des Instituts erkundigte.

»Dr. Stormark ist in seinem Büro«, sagte der Mann und deutete in die entsprechende Richtung.

Sie durchquerte einen laut hallenden Flur mit hoher Decke und stand schließlich vor Dr. Stormarks Büro. Sie klopfte an. Eine sonore Stimme forderte sie auf, einzutreten.

Mila öffnete die Tür und fand sich in einem eigentümlich dunklen Raum wieder. Mit Mühe erkannte sie einen Schreibtisch, dahinter einen rauchenden Mann.

»An oder aus?«, sagte er.

»Was?«, fragte Mila verwirrt.

»Das Licht«, erklärte der Mann.

»Es ist aus.«

»Ah, entschuldigen Sie. Schalten Sie es gerne ein, wenn Sie möchten.«

Mila betätigte den altmodischen schwarzen Drehschalter neben der Tür. Ein flackerndes Licht erhellte den Raum. Nun verstand sie auch den Grund für die eigenartige Begrüßung: Dr. Stormark war blind.

Im Zimmer herrschte eine ziemliche Unordnung. Zwischen Stapeln mit Büchern in Blindenschrift und alten elektronischen Geräten, die auf dem Boden standen, bahnte sich Mila ihren Weg zum Schreibtisch. Ein starker Zigarrenrauch lag in der Luft.

»Mein Name ist Mila Vasquez«, stellte sie sich vor und nahm dem Institutsleiter gegenüber Platz.

Hitch rollte sich unter ihrem Stuhl zusammen.

Dr. Stormark trug einen gelben Pullover, der von Ascheflecken übersät war. Er war so dick, dass er aus seinem Schreibtischstuhl hervorzuquellen schien. Gesicht und Hände waren von roten Äderchen durchzogen, und er hatte seltsam gekräuseltes Haar. Anders als viele Blinde trug er keine dunkle Brille, sein Blick irrlichterte durch den Raum.

»Sind Sie hergekommen, um mir einen Blindenhund anzudrehen?«, sagte er und lachte über seine eigene Bemerkung. »Einen Job kann ich Ihnen nämlich leider nicht anbieten: Wir haben gerade mal Februar, und doch sind die Mittel für dieses Jahr schon ausgeschöpft.«

»Nein, nein«, erwiderte Mila lächelnd. »Ich bin hier, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen, wenn Sie gestatten.«

»Zu welchem Zweck?«

»Ich führe eine private Untersuchung durch.«

»Wenn es wegen des Vorfalls von letzter Woche ist, so haben die Jungs tatsächlich übertrieben. Die Versicherung wird alles übernehmen, darauf haben wir uns bereits verständigt«, grummelte der Wissenschaftler unwirsch.

»Keine Sorge, das, was ich Ihnen zu sagen habe, hat damit nichts zu tun«, beschwichtigte sie ihn.

»Dann bin ich ganz Ohr.«

Stormark nickte und sog an seiner Zigarre.

»Ich suche jemanden – einen Mann, um genau zu sein. Ich habe den Eindruck, dass er früher einmal mit diesem Ort in Verbindung stand. Ich glaube, er war Kriminologe.«

»Von der Sorte hatten wir etliche hier, wegen unserer Recherchen …«

»Was machen Sie denn genau?«

»Sie werden es nicht für möglich halten, aber das Red Forest Institut gehörte einmal zu den Vorreitern bei der Entwicklung des Internets …«, sagte der Mann und kratzte sich an der bärtigen Wange. »Viele der Innovationen, die man heute so im Netz findet, sind in diesen vier Wänden entstanden.«

»Könnten Sie mir das etwas genauer erklären?«

Stormark lächelte.

»Natürlich, entschuldigen Sie. Das Institut wurde gegründet, um künstlicher Intelligenz den Unterschied zwischen Gut und Böse beizubringen.«

Mila zuckte zusammen.

»Ist das denn machbar?«

»Das ist die Herausforderung dieses Jahrhunderts, glauben Sie mir. Bevor wir unsere Sicherheit einer Maschine anvertrauen, müssen wir die Gewissheit haben, dass sie die ihr zur Verfügung stehenden Daten richtig interpretieren kann: Für uns Menschen versteht es sich von selbst, dass ein Kind mit einer Wasserpistole etwas anderes ist als ein Verbrecher mit einer automatischen Schusswaffe, aber ein Computer muss die Unterscheidung zwischen diesen beiden Dingen erst lernen. So wie ich in diesem Augenblick nicht in der Lage bin, zu beurteilen, ob Sie erstaunt oder entsetzt dreinschauen.«

»Beides«, sagte Mila. »Eines Tages wird es also eine Art intelligentes Internet geben?«

»Nur, wenn wir ihm beibringen können, welche Bedeutung ein Sonnenuntergang hat«, erläuterte der Wissenschaftler. »Doch solange ein Computer von der Schönheit der untergehenden Sonne nicht berührt ist, wird das nicht möglich sein.«

Mila dachte an ihre eigene Gefühlsblindheit: Vielleicht war auch sie eine Maschine, eine Maschine aus Fleisch und Blut.

»Manchmal aber sehen die Menschen Sonnenuntergänge, wo gar keine sind«, wandte sie ein. »Der Geist sieht, was der Geist sehen will.«

»Das Herz sieht, was das Herz sehen will«, korrigierte Stormark.

Der Satz durchbohrte sie förmlich.

»Manchmal täuschen wir unsere Intelligenz durch Emotionen, weil wir die Wirklichkeit nicht akzeptieren wollen«, fuhr der Wissenschaftler fort. »Die Mutter eines Mörders, der gestanden hat, wird niemals völlig von der Schuld ihres Sohnes überzeugt sein, denn dafür wird sie sich eingestehen müssen, ihm keine gute Mutter gewesen zu sein. Es ist eine Art Selbstschutz.«

Mila beschloss, die Karten auf den Tisch zu legen.

»Vor einiger Zeit bin ich in eine virtuelle Realität namens Anderswo geraten.«

Stormarks Gesicht verdüsterte sich.

»Haben Sie davon schon mal gehört?«

»Das Spiel …«, sagte der Wissenschaftler nur.

»Nach dem, was ich von Ihrem Institut bisher weiß und was Sie mir erzählt haben, könnte ich mir gut vorstellen, dass es hier entwickelt worden ist. Oder irre ich mich da?«

»Das Anderswo ist nicht hier entstanden, aber wir haben in diese Richtung geforscht.«

Seinem Tonfall entnahm sie, dass er nicht gern darüber sprach. Doch sie musste es wissen.

»Ich nehme an, Sie kennen die Geschichte.«

»Die Welt der Zukunft, die sich in ein Inferno verwandelt? Ja, die kenne ich. Aber wie Sie sich vorstellen können, blieb es mir bislang verwehrt, eine VR -Brille aufzusetzen und sie zu besuchen.«

»Ich bin dort einer Art künstlicher Intelligenz begegnet, einem kleinen Jungen. Er wollte mir seinen Namen nicht nennen, hat mir aber erzählt, dass er im Anderswo lebt und …«

»O mein Gott«, murmelte der Mann. »Blond, blaue Augen?«

»Ja«, bestätigte Mila.

»Joshua«, sagte er leise. In seiner Stimme lag ein Hauch von Mitgefühl.

»Haben Sie ihn erschaffen?«

»Nein, Ms. Vasquez … Er hat tatsächlich existiert.«

»Das heißt, er …«

»Das heißt, er ist tot.« Er machte eine Pause. »Nehmen Sie den Hund ruhig mit, ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

 

Die Erkenntnis, dass der Junge mit dem roten T-Shirt tatsächlich eine Art virtueller Geist war, erschütterte Mila.

Stormark griff nach einem Blindenstock und führte Mila über die Gänge des Instituts zu einem Labor. In der Mitte des Raums stand ein kleines Podest. Zahlreiche Projektoren waren darauf gerichtet.

»Die Qualität wird nicht die beste sein«, entschuldigte sich der Wissenschaftler vorab. »Mit modernen Mikroprozessoren würden wir ein viel besseres Ergebnis erzielen, aber diese Technologie können wir uns leider nicht leisten.«

»Was passiert jetzt?«, fragte Mila, die nicht die leiseste Ahnung hatte, wo sie waren.

»Vertrauen Sie mir, bald werden Sie verstehen«, erwiderte Stormark.

Er trat auf einen Techniker zu, um ihm Anweisungen zu geben. Der Mann stellte sich an eine Konsole, gab ein paar Befehle ein, und kurz darauf begann sich das Podest zu drehen. Die Projektoren wurden aktiviert und sandten Laserstrahlen aus, die sich in der Mitte des Raumes bündelten und ein holografisches Bild entstehen ließen.

Auf dem Boden saß ein einjähriges Kind und spielte mit seinen Schnürsenkeln. Es hatte blondes Haar und blaue Augen, es lächelte. Und es trug ein rotes T-Shirt.

»Joshua«, stellte Stormark den kleinen Jungen vor.

»Das Kind, das ich gesehen habe, war mindestens zehn Jahre alt, aber es ähnelte ihm.«

Ärgerlich schüttelte der Wissenschaftler den Kopf.

»Es hätte nicht passieren dürfen … Aber es ist meine Schuld.«

»Was?«

Mila hatte genug Geheimnisse gehört, sie wollte endlich die Wahrheit erfahren.

»Joshuas Vater hat hier gearbeitet.«

»Ein Kriminologe?«

»Ein Kriminalbiologe«, erklärte der Wissenschaftler. »Sein Name ist Raul Morgan.«

So also hieß der Mann mit der Sturmhaube.

»Raul war der Leiter der Untersuchungen zu diesem Spiel.«

Pascal hatte von dem Versuch erzählt, Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in die entvölkerte virtuelle Welt hinüberzuziehen. Ziel war es, herauszufinden, ob sie die Neigung zum Sadismus auch tatsächlich ausleben und zu Gewalt greifen würden. Doch das Experiment war gescheitert und hatte zu dem jetzigen degenerierten Zustand des Anderswo geführt.

»Die Sache geriet außer Kontrolle«, gestand Stormark. »Doch als ich mir dessen bewusst wurde, war es schon zu spät. Ich hätte das Ganze stoppen sollen, die Verantwortung lag bei mir.«

Pascal hatte sich als »Wächter« bezeichnet, der auf Unregelmäßigkeiten im Anderswo zu achten hatte, da ab und zu einer der Spieler den Sprung wagte und die eigenen Gewaltfantasien in die Realität übertrug. Am Ende war der Mann mit der roten Sturmhaube offenbar der Einzige gewesen, der diese Funktion noch ausübte, ohne dass er gewusst hätte, was aus den anderen geworden war.

Doch zuvor musste etwas Folgenschweres im Leben des Kriminalbiologen geschehen sein, davon war Mila fest überzeugt.

»Was ist aus Raul Morgan geworden?«

»Er war zu sehr in die Sache verstrickt und wurde paranoid. Sah überall Feinde. Er hatte zu niemandem mehr Vertrauen.«

Die Beschreibung passte perfekt auf Pascal.

»Er behauptete, jemanden im Spiel getroffen zu haben, ›ein gefährliches Wesen‹. Das waren seine Worte.«

Mila dachte sofort an Enigma.

»Ich habe das Problem unterschätzt, bis das Unglück seinen Lauf genommen hat …«

»Was für ein Unglück?«

Stormarks Miene verdüsterte sich.

»Raul Morgan war tüchtig, er hatte eine nette Frau und einen süßen kleinen Jungen von anderthalb Jahren. So hätte er nicht enden dürfen …«

»Was für ein Unglück?«, hakte Mila nach.

»Irgendwann lebte Raul nur noch in der Parallelwelt – er war nicht einfach nur abgelenkt, nein, er hat sich von der Realität getrennt … In der Frühe, auf dem Weg zur Arbeit, brachte er Joshua in die Kinderkrippe, seine Mutter holte ihn am Nachmittag wieder ab. Eines Septembermorgens kam Raul wie gewöhnlich pünktlich um neun Uhr zur Arbeit und ging in sein Labor. Acht Stunden später rief seine Frau an und wollte wissen, weshalb er den Jungen nicht in die Krippe gebracht hatte. Er stürzte zum Parkplatz und fand ihn angeschnallt im Kindersitz auf der Rückbank des in der prallen Sonne stehenden Wagens.«

Mila brachte kein Wort heraus.

»Drei Monate später reichte Raul die Kündigung ein. Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihm gehört.«

Mila betrachtete das Hologramm des gedankenverloren spielenden Kindes mit dem roten T-Shirt.

»Wie kam es dazu?«, fragte sie und deutete auf das Hologramm.

»Nach seinem Weggang fanden wir auf seinem Rechner durch Zufall das Programm. Wir wussten zwar nicht genau, weshalb er es entworfen hatte, aber wir konnten es uns vorstellen.«

Der Wissenschaftler hob den Blindenstock, mit dem er sich durch die Dunkelheit tastete, schraubte die weiße Kugel am Stockende ab und warf sie in Richtung Leinwand. Joshua hob den Arm, als wollte er die Kugel fangen. Das war mehr als ein schlichtes Hologramm, dachte Mila.

»Joshua ist in der Lage zu interagieren«, sagte Stormark, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Vor allem aber ist er lernfähig.«

»Jetzt ist er zehn, das heißt, Raul hat ihn ins Anderswo gebracht, damit er dort wie ein normales Kind aufwächst.«

»Ich lebe hier«, hatte ihr der Junge geantwortet.

»Wie Sie sehen konnten, Ms. Vasquez, hat Joshua schon als kleines Kind auf äußere Reize reagiert, wenn auch auf zwangsläufig elementare Art und Weise. Wenn er Ihnen Antworten gegeben hat, bedeutet das, dass er sich in den vergangenen Jahren sehr stark entwickelt hat. Was mich nicht überrascht – Raul Morgan hat einen verdammt guten Job gemacht.«

»Aber Sie sagten, er sei Kriminalbiologe gewesen, kein Programmierer.«

»Das stimmt: Er hat den Maschinen beigebracht, was das Böse ist.«