Er hat den Maschinen beigebracht, was das Böse ist.
Die Worte, mit denen Dr. Stormark Raul Morgans Arbeit beschrieben hatte, waren eindeutig: Vielleicht war Pascal eben doch von dem Bösen besessen, dem Bösen, das er so gut zu kennen glaubte.
Ich bin ein Wächter … Als das Spiel anfing, sich zu verändern, waren wir noch ziemlich viele. Wir hatten die Aufgabe, ungewöhnliche Entwicklungen im Anderswo zu überwachen. Offensichtlich hatte man damit gerechnet, dass etwas in der Art passieren würde … Ab und zu hat eben jemand den Sprung gewagt, das war nicht zu vermeiden.
Nach ihrer Rückkehr in die Stadt steuerte Mila die Bibliothek an, um an einem der öffentlichen Rechner zu recherchieren. Sie durchsuchte die Websites der Lokalzeitungen nach Artikeln der letzten Monate, in denen es um ausgebrannte Häuser ging. Sie legte eine Liste an, ließ aber die beiden Häuser weg, zu denen sie Pascal geführt hatte. Anschließend setzte sie sich wieder ins Auto, um die Orte abzuklappern.
Der Regen prasselte wie eine biblische Plage auf die Stadt nieder. Am späten Nachmittag gelangte Mila zu einem Doppelhaus in einem Arbeiterviertel. Das Feuer hatte genau eine Hälfte des Gebäudes zerstört, und anstelle der Fassade gähnte sie nur ein leerer schwarzer Schlund an. Die andere Hälfte hingegen war unversehrt, an den Fenstern waren Gardinen angebracht.
Die perfekte Versinnbildlichung von Gut und Böse, dachte Mila.
Es war ihr dritter Versuch nach zwei Fehlschlägen. Dass sie hier richtig war, bewies der petrolfarbene Skoda aus den Neunzigerjahren, der am Ende der schmalen Straße stand. Sie hatte keine Waffe bei sich, aber Pascal würde sich ohnehin nicht einschüchtern lassen. Sie beschloss, Hitch mitzunehmen.
»Du musst mir helfen, okay?«, sagte sie und streichelte dem Hovawart übers Fell. »Such Alice!«
Sie stiegen aus dem Wagen und huschten durch den Regen auf die Rückseite des Gebäudes. Mila hoffte, Pascal zu erspähen, bevor er sie bemerkte. Sie würde versuchen, ihn abzulenken, während Hitch nach Alice suchte.
Die ehemalige Polizistin warf einen Blick durch die Fenster im Erdgeschoss. Alles war dunkel, nur in einem Raum brannte Licht. Mila sah jemanden in der Küche, konnte aber nicht erkennen, ob es Morgan war. Immerhin stellte sie fest, dass aufgrund der Zerstörung durch den Brand die Eingangstür der einzige Weg war, um in das Gebäude zu gelangen.
Sie stellte sich unter den Dachvorsprung am Eingang. Vom Prasseln des Regens übertönt, brach sie das Schloss auf und drang ins Innere ein, Hitch folgte ihr auf den Fersen. Sofort bemerkte sie den Geruch nach verbranntem Plastik. Sie sah sich in dem dämmerigen Raum um. Unförmige Monster glotzten sie an – doch es waren nur die in der Hitze der Flammen geschmolzenen Möbel.
Sie ging auf die hell erleuchtete Küche zu. Der laufende Wasserhahn und das Klappern von Tellern verrieten, dass der Bewohner des Hauses beim Abwasch war.
Sie schickte den Hund los, die Umgebung zu erkunden, und betrat die Küche. Der Mann vor dem Spülbecken war tatsächlich Pascal.
Er hatte seine rote Sturmhaube abgelegt, dennoch konnte sie in diesem Moment nur einen Nacken mit pechschwarzen Haaren erkennen. Er trug seine braune Anzughose, aber nicht die zugehörige Jacke. Statt der Latexhandschuhe hatte er gelbe Gummihandschuhe übergestreift.
»Wo ist sie?«, fragte Mila.
Der Mann wirkte weder überrascht, noch sah er auf.
»Sie ist oben und schläft«, sagte er. »Keine Sorge, Alice geht es gut.«
»Ich möchte dir ins Gesicht sehen.«
Pascal spülte den letzten Teller ab und stellte ihn zu den anderen auf das Abtropfgestell. Langsam drehte er den Wasserhahn zu. Erst dann wandte er sich zu ihr um.
Er trug einen Seitenscheitel und einen Schnurrbart über den schmalen Lippen. Seine Augen waren grün, die Haut bis auf die geröteten Wangen auffällig hell.
»Deine Tochter ist ein sehr interessantes Mädchen«, verkündete Morgan. »Wir haben uns lange unterhalten in den letzten Tagen, und ich muss sagen, sie ist dir wirklich gelungen.«
Mila durchlief ein Schauer. Pascals Worte klangen falsch, fast, als wollte er sie auf den Arm nehmen.
»Von dir kam der anonyme Anruf, der Enigma das Handwerk gelegt hat. Aber dir war klar, dass sie mich in die Sache verwickeln würden, als du ihn als Todesflüsterer geoutet hast.«
»Die Polizei, meinst du?«, erwiderte er. »Ja, sie wussten davon.«
»Auf der Fahrt hierher habe ich lange darüber nachgedacht, weshalb du Alice entführt haben könntest. Und sag mir nicht, du hättest sie vor Enigma beschützen wollen, so wie du es auch mit deinem Sohn vorhattest.«
»Du hast recht, vielleicht habe ich es nicht nur deshalb getan … Mir schien es unumgänglich, dir Alice wegzunehmen, ich musste dir ja etwas beibringen.«
Mila stockte der Atem.
»Weißt du, Mila, es ist wichtig, dass du dir bewusst machst, mit welchem Feind wir es zu tun haben … Aber nur durch die Entführung deines Kindes, das Gefühl unmittelbarer Bedrohung und den übermächtigen Drang, eine Lösung finden zu müssen, konnte ich dich dazu bringen.« Er senkte den Kopf und sah sie mitleidig an. »Oder hast du in den letzten Tagen etwa keine Gefühle empfunden?«
»Meine Alexithymie ist unheilbar, das weißt du.«
»Das stimmt nicht«, versetzte er. »Du hast etwas in dir gespürt, da bin ich mir sicher. Und genau dieses Etwas hat dich hergeführt.« Er machte eine Pause. »Der Geist sieht, was der Geist sehen will – aber das Herz macht es genauso … Also hör auf, dich blind zu stellen, und fang an, das zu sehen, was ich dir zeigen will.«
Sie hätte sich gewünscht, dass der Mann sich täuschte. Früher hätte sie sich wegen ihrer Gleichgültigkeit angesichts des Verschwindens ihrer Tochter bestraft, indem sie sich ritzte. Doch diesmal hatte sie tatsächlich etwas gefühlt.
»Hast du wirklich geglaubt, es würde genügen, dich an den See zurückzuziehen, damit das Dunkel dich nicht findet?« Er lachte auf. »Wir sind nicht wie die anderen, Mila Vasquez. Uns haftet der faulige Geruch des Schattenreichs an, denn wir haben es gesehen. Das Dunkel wittert ihn auch aus der größten Entfernung. Ihm entfliehen zu wollen, ist nicht ratsam.«
Aus dem Dunkel komme ich …
»Du und Enigma, ihr bekämpft euch, und ich bin in die Schusslinie geraten. Du warst derjenige, der mein Spiel erfunden hat, richtig?«
»Du wurdest angelernt.«
»Ich habe mich gefragt, weshalb der Todesflüsterer Alice entführt und zugleich versucht hat, mich umzubringen. Dabei war ich bloß euer Spielball!«
»Doch mit unterschiedlichen Motivationen«, betonte Pascal.
»Es gibt aber keinen weiteren Wächter, oder? Die Geschichte, dass sie euch dezimiert haben, ist falsch. Du warst immer der einzige Verrückte, der einzige Paranoiker!«
»Du verstehst es immer noch nicht: Dieser Krieg wird andauern, solange es das Internet gibt. Denn ein einzelner Mensch kann nur sich selbst Schaden zufügen. Erst in der Gruppe werden die Menschen zu wilden Tieren. Also frage ich mich: Was hat uns die größte Vernetzung in der Geschichte der Menschheit überhaupt gebracht?«
»Sie hat auch sehr viele positive Aspekte, sie ermöglicht Teilhabe, Austausch, Zusammenarbeit«, entgegnete Mila.
»Wenn das stimmen würde, wäre das Internet wohl der glücklichste Ort der Welt«, gab Pascal mit sarkastischem Unterton zurück.
Mila hätte erwidern wollen, dass dies nur die Sichtweise eines desillusionierten Mannes war, der wie ein Eremit lebte und der, wenn er nicht gerade eine Sturmhaube trug, ständig sein Aussehen veränderte, indem er sich schminkte und Perücken aufsetzte. Stattdessen fragte sie:
»Und, was soll ich jetzt tun?«
»Du wirst eine großartige Wächterin sein … Ich habe dir den Weg gezeigt, jetzt weißt du, wo du suchen musst.«
»Aber das Anderswo löst sich auf.«
»Auch das dient dazu, dich zur Eile anzutreiben. Doch keine Sorge, ich werde Joshua stoppen, ich weiß, wie das geht.«
Mila dachte an den kleinen Jungen und seine traurige Aura.
»Du solltest ihn lieber befreien. Lass ihn gehen …«
In dem Moment tauchte Hitch in der Küche auf und Alice stand auf der Türschwelle. Das Mädchen gähnte und rieb sich die Augen.
»Was ist los?«, fragte sie ruhig. »Warum versucht Hitch, mich nach draußen zu zerren?«
Sie trug dieselbe Kleidung, die sie am Tag ihres Verschwindens angehabt hatte. Auch sonst schien sie unverändert.
Unendliche Erleichterung durchflutete Mila. Wie oft hatte sie erlebt, welchen Effekt das Dunkel auf Menschen hatte, die verschwunden waren, und sei es nur für wenige Stunden.
Sie trat auf ihre Tochter zu und schloss sie fest in die Arme. Alices Körper versteifte sich, überrascht von der Reaktion ihrer Mutter.
»Wie geht es dir?«, fragte Mila und strich ihr die Haare aus der Stirn.
»Ganz okay.«
Mila drehte sich zu Pascal um und sah ihn forschend an. Der Mann erriet ihre Gedanken.
»Ich habe wohl keinen Grund mehr, euch noch länger hierzubehalten«, versicherte er.
Mila nahm Alice bei der Hand und ging mit ihr durch den Flur auf die Haustür zu. Ein letztes Mal wandte sie sich um.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet, Pascal. Was soll ich jetzt tun? Denn eins musst du wissen: So wie du will ich nicht enden. Ich will nicht mein ganzes Leben lang meine Spuren verwischen und in Angst und Paranoia leben.«
Pascal lächelte.
»Das Herz sieht, was das Herz sehen will«, rief er ihr in Erinnerung. »Und jetzt geh mit deiner Tochter nach Hause, Mila Vasquez. Du kannst vor dem Dunkel fliehen. Aber du kannst es nicht daran hindern, dich zu suchen.«