So langsam dachte ich nicht mehr immerzu an das, was geschehen war. Ich fing wieder an, die positiven Dinge in meinem Leben zu sehen. Ehrlich gesagt hatte ich auch keine Lust mehr, in meinem Selbstmitleid zu schwimmen, also verbrachte ich mehr Zeit mit meiner Schwester als je zuvor.
Wenn ich nicht arbeiten war, gingen wir häufig zusammen in die Natur, schauten Serien oder kochten gemeinsam. Es war ein neues Hobby von uns beiden geworden und zusammen machte es noch mehr Spaß als allein. Heute kam Zoey mit ihrem kleinen Bruder zu Besuch und ich freute mich schon sehr darauf. Dina und ich wollten es heute ruhiger angehen lassen und uns Zeit für die beiden nehmen. Daher hatten wir beschlossen, uns Essen bei dem Italiener um die Ecke zu bestellen.
Trotz unserer schönen, gemeinsamen Zeit spürte ich jedoch, dass sich bei Dina etwas veränderte. Sie sah nicht mehr so vital aus und ihre Haut nahm einen stetig kränklicheren Farbton an. Also konnte
ich nur hoffen, dass es der ganze Stress der letzten beiden Monate war und nicht der Krebs. Dinas Bewegungen wirkten langsamer und auch beim Spazierengehen war mir aufgefallen, dass sie nicht mehr so weite Strecken laufen konnte. Von der Treppe aus, die zu dem Wohn-Essbereich führte, beobachtete ich sie und bekam es mit der Angst zu tun. Gerade wischte sie sich über die Stirn, als würde sie schwitzen. Dabei war es heute nicht allzu warm.
Es klingelte und ich wurde aus meinen Gedanken gerissen.
»Ich gehe schon!«, rief ich zu Dina und öffnete Zoey und ihrem Bruder Tyler die Tür. Der Rollstuhl mit dem Jungen stand noch unten vor den 3 Stufen, die hinauf zur Veranda führten.
Ich begrüßte Zoey, zog sie in eine feste Umarmung und wuchtete dann gemeinsam mit ihr den Rollstuhl hoch. Tyler drückte ich einen Kuss auf die Wange, woraufhin er rot anlief.
»Ich freue mich, dass ihr da seid! Kommt, Dina wartet schon ungeduldig.«
Die beiden nickten und Zoey schob ihren Bruder in unser offenes Wohnzimmer.
Darina und Zoey fielen sich um den Hals und freuten sich beide so sehr, dass sie alles um sich herum vergaßen.
»Sieh sie dir an. Hauptsache ich werde nie so!« Tyler schüttelte den Kopf und blickte lachend zu mir. Ich bewunderte den Jungen, der für seine 11 Jahre wirklich schon sehr weit wirkte und der sich von seiner Behinderung nicht einkriegen ließ.
»Warte ab, bis du mal eine Freundin hast!«, sagte ich schmunzelnd.
Er lachte nur über mich. Wir verbrachten den Tag gemeinsam, spielten einige Spiele mit Tyler und schauten nebenbei
Der König der Löwen.
Es war einfach schön, so losgelöst Zeit zu verbringen, ohne Gedanken der Trauer oder des Liebeskummers.
Ich musste gleich zur Arbeit und war schon superspät dran, als ich Geräusche aus Darinas Zimmer hörte. Es war ein leises, schmerzvolles Stöhnen. Schnell machte ich mich auf den Weg zu ihrem Zimmer und wartete kurz davor. Ich ließ meine und ihre Tür jetzt öfter auf, denn es ging ihr schlechter als früher. Ehrlich gesagt hatte ich schon einen Verdacht gehabt, doch ich hatte Angst, es auszusprechen. Ich hatte so eine Scheißangst, dass der Krebs zurückgekehrt war. Wenn das der Fall sein sollte, hatten Dina und ich ein sehr großes Problem, welches unser ohnehin miserables Leben noch mehr zerstören würde. Ich versuchte, meine Gedanken zu sammeln, ehe ich zu ihr ging.
Probleme waren Rudeltiere und kamen niemals allein, sondern nur gemeinsam. Das war schon immer so, und wenn man einmal in dieses Loch gefallen war, warf von oben noch jemand Steine drauf, die einen zu erschlagen drohten.
Mich zog das alles so herunter, dass ich nicht wusste, wo mir der Kopf stand. Ich hatte einen Fehler gemacht, ja. Aber solange ich ihn nur einmal beging, blieb es auch nur ein Fehler, oder?
James Torres war meine größte Schwäche und gleichzeitig meine größte Stärke. Er hatte mir Halt in einer der schwersten Zeiten in meinem Leben gegeben. Und doch war er auch der Mensch, der mich am meisten verletzt hatte. Doch sein Verrat schmerzte inzwischen nicht mehr so sehr wie zu Anfang. Ich lernte damit umzugehen und
es wurde von Tag zu Tag einfacher, ihn nicht mehr als mein größtes Hassobjekt zu betrachten. Denn er hatte auch so viele gute Seiten an sich.
Egal, wie sehr ich ihn verachtete, wir gehörten zusammen. James hatte mich betrogen, mich belogen und dennoch liebte ich ihn, denn wir waren wie Feuer und Eis. Ich brauchte sein Feuer, sonst erfror ich, und er brauchte mein Eis, um nicht zu verbrennen. Ich hatte keine Ahnung, woher dieser Gedanke auf einmal kam, aber er fühlte sich irgendwie echt
an.
Für mich war James der Teufel. Aber war ausgerechnet dieser nicht als ›der Verführer‹ bekannt? Auch mich zog dieses Dunkel an, obwohl mir bewusst war, dass ich mich in der Finsternis verlieren würde. Dina hatte mir oft ins Gewissen geredet und mir gesagt, dass sicher nicht alles so war, wie ich dachte. Anscheinend hatte sie mehr gesehen als ich, denn sonst würde sie James sicher nicht in Schutz nehmen! Sie sagte, es gab für alles eine Erklärung und ich sollte diesen Verrat nicht ständig wieder hochholen, sondern einfach abhaken. Er liebte mich und sein Fehler war, nicht ehrlich zu mir gewesen zu sein. Und sie hatte ja recht, jeder Mensch hatte eine zweite Chance verdient. Ich musste nur noch herausfinden, ob ich bereit war, sie James zu gewähren.
Dina sagte immer: ›Das Leben ist zu kurz für ein Was-wäre-wenn. Lass es einfach auf dich zukommen und sieh, was passiert. Jeder Mensch macht Fehler.‹
Ich musste mich erst mal um meine Schwester kümmern, dann würde ich weiter darüber nachdenken können. Dennoch, je mehr Zeit verging, umso mehr spürte ich, dass mir etwas fehlte. Es fühlte sich an, als ob ich ohne ihn nicht mehr richtig leben
konnte. Ich existierte bloß noch. Dieser Scheißkerl hatte mich so dermaßen versaut. Innerlich konnte ich nur meine Augen über mich selbst verdrehen. Niemals sollte ich das, was er mir angetan hatte, verzeihen und doch vermisste ich ihn so sehr, dass ich wirklich über diese Option nachdachte. Das Problem war einfach, dass ich ihn liebte
. Ohne all diese Gefühle wären die Probleme nie da gewesen. Und hätte James mit mir gesprochen, schon gar nicht.
Wieder hörte ich das leise Stöhnen. Es brachte mich in die Realität zurück und ich merkte, dass ich noch immer vor Dinas Tür stand. Ich klopfte leise an und öffnete sie.
Was ich dann sah, raubte mir den Atem.
Dina lag hochrot im Bett und schwitzte. Sie hatte Fieber. Alles deutete darauf hin. Die Müdigkeit, ihre nachlassende Leistungsfähigkeit und auch ihr Aussehen. Blass und dünn war sie geworden.