Die letzten Meter zu unserem Haus vergingen wie im Flug. Unsere Nachbarn hatten sich wieder beruhigt und grüßten uns nett, wahrscheinlich hatten sie jetzt ein neues Opfer für ihren Tratsch gefunden. Als ich die Treppen zur Veranda hinaufging, zog ich den Schlüssel aus meiner Jackentasche und sperrte auf. Warme Luft umhüllte meinen Körper und ich konnte mich endlich entspannen. Ich hängte meine Jacke auf und rief meine Schwester.
»Dina! Kannst du mal kommen?«
Nach ein paar Sekunden hörte ich es auf der Treppe poltern und meine Schwester kam runter.
»Hey, wie war der Spaziergang, alles okay?«
»Ja, es war schön«, sagte ich lächelnd und fügte hinzu:
»Können wir noch mal über James reden? Ich habe darüber nachgedacht ...« Ich brach ab und sah sie zögerlich an. Dina lächelte hingegen.
»Klar. Weißt du, Kay, ich habe gestern auch noch mit Aiden
darüber gesprochen und er hat mir erzählt, dass Charlie ihn in der Hand hat. Und ich war mir schon so sicher, dass etwas daran nicht stimmt!«, sagte Darina und schüttelte den Kopf.
»In der Hand? Wie meinst du das?«, wiederholte ich erschrocken und spürte, wie mein Herz schnell in meiner Brust schlug.
Was ist, wenn er es wirklich nicht aus freien Stücken getan hat?
Ich zitterte vor Aufregung.
Dina zuckte mit den Schultern: »Das konnte Aiden nicht sagen, du weißt doch, dass er trotzdem noch James‘ Freund ist.«
Das musste ich erst einmal sacken lassen. Was hatte das alles zu bedeuten?
Nun hatte ich zwar die Einsicht, was James und mich anging, und das war gut so, aber irgendwie tat es auch weh. Denn jetzt vermisste ich ihn noch mehr. Dina war ich mehr als dankbar, dass sie mir immer wieder ins Gewissen geredet hatte. Ich dachte auch über mein Leben nach und wieso James uns das angetan hatte. Zusammen mit Dina hatte ich zunächst beschlossen, hierzubleiben. Wir würden vorerst nicht nach Deutschland zurückkehren, da wir das Haus von unseren Eltern nicht verkaufen wollten. Oder besser gesagt: Nicht so einfach aufgeben konnten. Wir wollten es zusammen schaffen und uns ein Leben hier aufbauen, so wie es sich unsere Eltern gewünscht hatten.
Solange Dina nicht wieder krank wurde ...
So langsam machte sie mir allerdings wirklich Sorgen. Sie hatte nun schon 5 Tage Fieber und sah immer schlechter aus. Es brach mir das Herz, ihr nicht helfen zu können. Heute hatte sie einen neuen Tiefpunkt erreicht und ich musste feststellen, wie beschissen es ihr
wirklich ging.
Wir saßen am Tisch, aßen zusammen Frühstück und als ich sie musterte, bemerkte ich ihre eingefallenen Wangen, die trüben Augen und bleiche Haut. Ihr Körper zeigte jeden Tag mehr Anzeichen der wiederkehrenden Krankheit, doch wir beide wollten es nicht wahrhaben.
Sie schaute auf ihren Teller, auf dem sie das Rührei lustlos hin und her schob. Eindeutig aß sie zu wenig. Ich fasste mir ein Herz und sprach endlich das Unausweichliche an.
»Wollen wir nicht doch lieber zum Arzt, Dina? Ich kann es echt nicht ertragen, zu sehen, dass es dir so schlecht geht und die Gewissheit würde uns beiden doch guttun, oder?«
Sie blickte auf und ihre Augen, die meinen so sehr ähnelten, guckten mich einfach voller Traurigkeit und Angst an. Schnell sah sie wieder auf ihren Teller, doch ich bemerkte das verräterische Glitzern in ihren Iriden.
»Ich habe so große Angst, Kay. Was, wenn der Krebs zurück ist? Was, wenn ich es diesmal nicht schaffe?«
Ihre Schultern fielen traurig nach vorne und sie presste die Augen zusammen. Ich stand auf, überbrückte die Distanz zwischen uns und zog sie fest in meine Arme. Sie weinte leise und ich wusste, dass wir beide Angst hatten. Doch für Dina war es noch so viel schlimmer als für mich.
»Ich bin bei dir, Dina. Gemeinsam schaffen wir das. Ich bin für dich da und zusammen würden wir ihn auch dieses Mal besiegen. Aber vielleicht ist ja auch nur dein Immunsystem geschwächt«, murmelte ich aufmunternd in ihr Haar.
Ihr Körper fühlte sich viel zu dünn an. Schnell gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn, drehte mich um und griff zu meinem Telefon, um bei Dinas Arzt anzurufen.
Ich erklärte ihm, was ihr fehlte, und bekam zur Antwort, dass wir am besten sofort in die Klinik kommen sollen. Mein Herz raste wie verrückt und ich konnte mich kaum beruhigen. Also stiegen wir beide wie betäubt ins Auto und fuhren eine Stunde Richtung Phoenix in die Klinik, in der Dina behandelt worden war. Mein Magen rebellierte, dabei wollte ich mir nicht ausmalen, wie es meiner kleinen Schwester gehen musste. Ich hasste diese Angst und die Ungewissheit, wie die Untersuchung ausgehen würde. Wenn ich den Tatsachen ins Auge sah und Darinas aktuellen Zustand betrachtete, dann war es naiv zu glauben, dass alles mit ihr in Ordnung war.
Als wir endlich in der Klinik angekommen waren, spürte ich auch die Anspannung meiner Schwester. Sie knetete nervös ihre Hände und pulte an ihren Nägeln, genau wie ich es auch häufig tat. Ich nahm ihre Hand in meine und drückte sie sanft. Sie erwiderte die Geste und wir beide gaben uns gegenseitig Kraft, wo kaum noch welche war.
Wir gingen in den Warteraum und setzten uns auf zwei Stühle, die nebeneinanderstanden.
Einige Stunden, die sich wie zäher Kaugummi zogen, warteten wir, denn auch der Arzt musste seine Termine einhalten und hatte keinen Freiraum, uns dazwischenzuschieben. Die ganze Zeit gingen mir die schrecklichsten Szenarien durch den Kopf.
Ich versuchte, mich abzulenken, und beobachtete die Leute, doch auch das war kein leichter Anblick. Kleine Kinder, die weinten, weil
sie ihre Haare verloren. Eine Frau mittleren Alters, die im Rollstuhl gefahren wurde, weil sie zu schwach zum Laufen war. Ein alter Mann, dem man ansah, dass seine Stunden gezählt waren. So viel Leid auf so kleinem Raum. Die Onkologie war einfach kein Ort, an dem man das blühende Leben fand. Doch auch hier gab es Hoffnung. Menschen, die ihren Lebenswillen nicht verloren hatten. Hier gab es wahre Kämpfer.
Als fast die dritte Stunde anbrach, rief der Arzt Darina endlich rein und untersuchte sie. Es war eine Tortur, die ganze Zeit in dieser Ungewissheit draußen zu warten. Meine Hände schwitzten wie verrückt und ich rutschte ständig unruhig auf dem glatten Holz des Stuhls hin und her. Meine Sitznachbarn sahen mich mitleidig an. Doch Dina wollte nicht, dass ich sie begleitete. Die Angst war zu groß. Sie war schon immer so, dass sie die schwersten Etappen allein meistern wollte.
Nach über einer Stunde kam der Arzt raus und bat mich in das Behandlungszimmer. Ich nahm neben Dina Platz und blickte sie an. Sie wirkte noch schwächer, blasser und kraftloser und in ihren Augen stand eine bittere Gewissheit. Allein durch das weiße Armband mit einem Strichcode an ihrem Handgelenk wusste ich, dass ich jetzt allein nach Hause fahren würde.
Ich wartete auf eine Reaktion oder Antwort von Dina, aber ich bekam nichts.
Gar nichts.
Ihr Blick war leer und ihre Augen glasig. Sie schaute mich zwar an, aber sah durch mich hindurch. Dann schloss sich die Tür und der Doktor kam zu uns. Er setzte sich gegenüber an den Schreibtisch und
klickte auf seinem Computer einige Dinge an. Dann sah er auf und sprach sanft:
»Miss Moore, wir haben die ersten Untersuchungen bei Ihrer Schwester fertig und ich habe keine guten Nachrichten für Sie. Es tut mir wirklich leid, aber ich schätze, der Krebs ist wieder da und dieses Mal schlimmer als je zuvor. Wir müssen erst mal alle Tests wie MRT, Sonographie und CT machen, aber anhand der Symptome ihrer Schwester kann ich einschätzen, dass es leider nicht gut aussieht. Blut habe ich gerade entnommen, die Ergebnisse kommen in den nächsten Tagen.«
Ich schluckte hart und sah noch mal zu meiner Schwester. Diese hatte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt. Keine Regung, immer noch nichts
. Sie stand unter Schock.
»Aber wie kann das sein? Wir waren doch zu den ganzen Untersuchungen hier und da ist doch nie was aufgefallen!«
Hilflos warf ich meine Arme in die Luft und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.
Der Doktor blieb weiterhin ruhig: »Ja, das stimmt, aber manchmal können auch Ärzte nicht alles sehen oder übersehen etwas. Es gab bei Ihrer Schwester keine Anzeichen für einen wiederkehrenden Ausbruch und daher haben wir auch nicht damit gerechnet, bis sie heute mit solchen Symptomen zu uns kam. Sie wird jetzt für ein paar Tage hierbleiben, damit wir überwachen können, wie sich ihr Gesundheitszustand entwickelt. Ich hoffe, wir können Ihnen bald bessere Nachrichten überbringen, Miss Moore.«
Keine Ahnung, was ich jetzt denken oder fühlen sollte. Dina, meine kleine, süße Schwester, hatte einen verdammten Rückfall.
Ich wusste
nicht, was ich jetzt tun sollte. Letztes Mal waren meine Eltern noch bei uns gewesen und wir hatten uns gegenseitig unterstützt und Kraft gegeben. Jetzt war ich allein und musste es schaffen, immer für Dina da zu sein und stark zu bleiben.
Allein. Nein! Wir würden es gemeinsam schaffen, wir hatten schließlich noch uns.
Ich fand nach wie vor keine passenden Worte, daher nickte ich dem Arzt nur zu und sah meine Schwester an. In ihren Augen standen ungeweinte Tränen und ich wusste, wie gebrochen sie schon durch ihre Krankheit war. Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie leicht und aufmunternd.
Wieso konnte ich es ihr nicht abnehmen, diese beschissene Krankheit zu haben?
Ich begleitete sie den Flur entlang auf die Station in den Wartebereich der Etage. Die Schwestern bereiteten gerade Dinas Zimmer für die nächsten Tage vor. Als wir allein waren, sagte ich zu ihr:
»Du schaffst das, okay? Wir haben noch uns und das wird immer so bleiben! Ich habe dich über alles lieb. Ich fahre jetzt nach Hause und hole deine Sachen.«
Eine einsame Träne rann an ihrer Wange hinab, dann nickte sie. Fest zog ich sie in meine Arme. Sie drückte mich an sich, doch ich merkte, wie wenig Kraft sie noch hatte.
»Ich schicke dir eine Nachricht mit der Zimmernummer«, murmelte sie und drückte mich noch einmal. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, drehte ich mich um und ging.