Kapitel 10
Heute Morgen an der Seite von James aufzuwachen, war unbeschreiblich gewesen. Ich war mehr als froh, dass er über Nacht geblieben war.
Nachdem James ins Heavenly’s
losgefahren war,
um dort einige Sachen zu klären, hatte ich mich auch bald auf den Weg nach Phoenix gemacht. Ich wollte meine Schwester besuchen und sehen, wie es ihr ging.
Die Fahrt verging wie im Flug und ehe ich mich versah, erreichte ich den Parkplatz und schaltete das Licht des BMWs aus. Ich kam erst wieder ganz zu mir, als ich meine Tasche vom Beifahrersitz nahm und ausstieg.
Womit musste ich rechnen, wenn ich Darina heute sah? Alles von gut bis schlecht war möglich. Vor einigen Tagen hatte der Arzt mich
noch mal zu einem Gespräch gebeten und mir bestätigt, dass der Krebs wieder da war. Dinas Gesundheitszustand änderte sich jeden Tag, was mir ein mulmiges Gefühl bescherte.
Wenn es schlimmer werden würde, würden wir uns bald um eine Stammzellen-Spende bemühen müssen. Ich hatte große Angst davor, genauso wie Dina, dass dies unsere einzige Hoffnung bleiben würde, denn es war fast unmöglich, einen passenden Spender zu finden.
Darina war nicht nur krank – sie kämpfte gegen den Tod. War abhängig von mir und den Ärzten, die sich so sehr um ihr Leben bemühten. Es war verdammt beschissen, derart auf andere angewiesen zu sein. Aber manchmal konnte man es im Leben eben nicht allein schaffen und musste
Hilfe annehmen.
Endlich war ich vor dem Zimmer angekommen, das Dina seit bereits vier Wochen bewohnte, und die Angst vor der Ungewissheit, wie es jetzt weitergehen würde, lähmte mich. Dann atmete ich einmal tief durch und klopfte an die Tür des Zimmers 422.
Ein leises: »Ja«, erklang und motivierte mich, einzutreten. Schnell zog ich einen Mundschutz aus meiner Tasche und desinfizierte meine Hände vor der Tür.
Ich öffnete diese, ging lautlos in den Raum und schloss sie sofort wieder hinter mir. Dann setzte ich mich auf den Besucherstuhl, der an einem kleinen Tisch im Zimmer stand und sah Darina an.
Ich wollte nicht zu nah an sie herantreten und hatte mich bewusst deshalb nicht neben sie gesetzt. Ihr Immunsystem war durch die Medikamente geschwächt und ich wollte sie schützen. Ich musterte sie, nahm meine kleine Schwester genau unter die Lupe.
Sie sah nach wie vor furchtbar blass und mitgenommen aus und
ihr Anblick machte mir wieder einmal bewusst, dass sie jeden verdammten Tag um ihr Leben
kämpfte. Andere Menschen schmissen ihres einfach weg und traten es mit Füßen, weil sie nicht wussten, was für ein Privileg sie genossen. Anders als meine Schwester, die jeden Atemzug darum kämpfte, dass es noch ein Morgen geben würde. Sie wusste besser als alle anderen, dass es jeden Tag zu Ende sein konnte, und lebte daher im Hier und Jetzt und nicht in der Zukunft – wie ich.
Darina war drei Jahre jünger als ich, aber ihre Krankheit hatte sie in diesen Dingen so viel reifer werden lassen, als ich es wahrscheinlich je sein würde. Sie hatte einfach schon so viel in ihren jungen Jahren erlebt, dass ich es kaum ertrug. Ich wünschte so sehr, dass ich ihr ein wenig dieser Last abnehmen, ihr irgendwie helfen konnte. Doch ich war genauso machtlos wie sie.
Darina schwieg und da mir die Stille unangenehm wurde, sprach ich sie letztendlich an. Ich räusperte mich und fragte:
»Wie geht’s dir? Haben die Ärzte schon etwas Neues herausgefunden?«
Sie schluckte merklich und ich wusste bereits, dass dies die Antwort werden würde, vor der wir all die Zeit solche Angst gehabt hatten.
»Die Ärzte sagen, ich brauche jetzt eine Stammzellen-Spende. Es ist meine einzige Chance auf Heilung. Und Kay, ich habe solche Angst, keinen passenden Spender zu finden!«
Das waren ihre einzigen Worte, die sie an mich richtete, bevor sie auf ihre dürren Hände starrte. Sie kniff ihre Augen zusammen, doch ich sah die glitzernden Tränen bereits über ihre Lider treten.
Ich stand auf, setzte mich zu ihr und griff nach ihren Fingern, um sie mit meinen zu verschränken. Stumm versuchte ich, ihr den Schmerz ein wenig mit meinem Beistand zu nehmen. Auch wenn ich wusste, dass es kaum möglich war.
Es vergingen einige Minuten des Schweigens, in denen wir die schreckliche Tatsache in der Luft zwischen uns schweben ließen. Das Leben war ein Arschloch, das hatte ich schon immer gewusst, und es war nie leicht. Aber wer behauptete auch, dass das Leben leicht sein würde? Wir mussten eine Lösung finden, denn egal, was geschah, wir würden kämpfen bis zum letzten Atemzug.
»Dina, wir schaffen das. Wir finden einen Spender, hast du gehört?«, versuchte ich, ihr Mut zuzusprechen.
Sie sah auf und blickte mir mit ihren grünen Augen in die meinen.
»Ich hoffe, dass du recht hast. Wie immer …«, hauchte sie leise.
»Auf alle Fälle, du bist stark und wenn es jemand schafft, das zu überleben, dann du«, sagte ich voller Hoffnung zu ihr.
Sie lächelte schräg und nickte.
»Du hast recht, wieso sollte mich diese doofe Krankheit, kleinkriegen? Ich bin stärker als der Krebs!«
Ich lächelte sie an und blickte dann auf meine Hände. Die Hoffnung stirbt zuletzt, oder?
Einige Zeit saßen wir noch so beisammen und versuchten, uns die Kraft zu geben, die wir beide so dringend benötigten, als ich letztendlich zu meinem neuen Job losmusste.
Avery Torres wartete bereits auf mich und ich freute mich unheimlich, sie zu sehen.
Ich parkte meinen Wagen in der Einfahrt und lief schnell die kurze Strecke zu ihr hoch. Oben angekommen nahm sie mich in den Arm und drückte mich fest an sich.
»Ich habe mich schon so gefreut, dich heute zu sehen, Kaycee. Und ich habe auch schon überlegt, was wir heute machen: Einkaufen. Und vielleicht etwas zusammen spielen?«, fragte Avery.
Ich nickte und lächelte sie an, versuchte, die Gedanken an meine Schwester für den Moment beiseitezuschieben.
»Was wollen wir denn zuerst machen? Sicher einkaufen, oder? Lass uns schauen, was alles fehlt, und dann losfahren.«
Wir gingen zusammen in die Küche und schrieben eine Einkaufsliste.
Ich kontrollierte Averys Medikamente und stellte fest, dass eine Tablettensorte fehlte, die ich gleich noch besorgen musste.
Anschließend stiegen wir zusammen in mein Auto und ich legte den Rückwärtsgang ein, um aus der Ausfahrt zu fahren. Dann stellte ich die Automatik auf ‚D‘
und fuhr mit ihr in den nächsten Walmart, um alles zu besorgen. Wir verbrachten zwei geschlagene Stunden in dem Laden und hatten schließlich natürlich mehr gekauft, als auf der Liste stand. Typisch.
Schnell verstauten wir die Einkäufe in meinem Auto. Dann lenkte ich den BMW Richtung Phoenix City, um die fehlende Tablettensorte für sie zu besorgen. Der Arzt befand sich in einer Gemeinschaftspraxis und in demselben Gebäude gab es praktischerweise auch eine kleine Apotheke. Ich eilte mit dem Medikament zum Auto, um sie nicht so lange warten zu lassen. Als wir alles erledigt hatten, fuhren wir wieder in den Außenbezirk von
Phoenix, in dem Avery und James wohnten.
Einige Stunden spielte ich im Anschluss verschiedene Brettspiele mit Avery. Inzwischen war es schon 17:00 Uhr und da James heute zum Abendessen nach Hause kommen würde, hatte ich angeboten, zu kochen.
Avery hatte gemerkt, dass ich die ganze Zeit nicht voll bei der Sache gewesen war, aber sie hatte mich nur kurz in den Arm genommen und gesagt, ich solle stark bleiben. Ihr war sicher klar, dass es mit Dina zusammenhängen musste.
Ich machte den Mac-and-Cheese-Auflauf zu Abend, von dem ich wusste, dass James ihn gerne aß. Der war wirklich schnell und einfach gekocht und dazu konnte ich ihm etwas Gutes tun.
Obwohl ich ihn hatte kalt abblitzen lassen wollen, war er gestern für mich dagewesen, als ich einen schwachen Moment hatte, und das würde ich ihm nie vergessen. James hatte mir stets beigestanden, wenn ich ihn gebraucht hatte. Und er gab mir stets das Gefühl, geliebt zu werden.
Der Auflauf brauchte noch fünf Minuten im Ofen, als ich schon mal den Tisch für drei Personen deckte. Nachher würde ich mich ein wenig um den Haushalt und das Zusammenstellen von Averys Medikamenten kümmern. Dann hatte ich schon Feierabend und würde mir wieder den Kopf über meine Schwester zerbrechen.
Ich hoffte von ganzem Herzen, dass wir jemanden fanden, der von den Gewebemerkmalen zu meiner Schwester passte und ihr so mit einer Stammzellenspende helfen konnte. Ihr Leben hing jetzt von einem unbekannten, fremden Menschen ab, den wir erst suchen
mussten und von dem wir nicht einmal wussten, ob es ihn überhaupt gab. Ich kam nicht dazu, die Gedanken auszuweiten, denn es öffnete sich in diesem Moment die Tür und James kam herein.
Er sah so gut aus wie immer. Sein durchdringender Blick, sein muskulöser Oberkörper und die düstere Aura, die ihn stetig umgab, raubten mir den Atem. Seine Augen wirkten müde, aber dennoch strahlte er eine immense Kraft aus und das allein wegen seiner aufrechten Körperhaltung. Seine strahlend blauen Augen suchten meine, als würde er sofort merken, dass ich mich ebenfalls im Raum befand.
Als wir uns endlich ansahen, merkte ich, wie mein Herz aufs Neue zu flattern begann und sich eine Wärme in mir ausbreitete.
Wir standen da und blickten uns einfach nur stumm an. Es war, als wären wir Fremde und als würden tausend unausgesprochene Sachen zwischen uns stehen. In diesem einen Moment gab es nur uns beide, ohne die ganzen schrecklichen Dinge, die passiert waren.
Alles in mir spannte sich an und begann, zu kribbeln. Meine Atmung beschleunigte sich und mein Herz raste so schnell, dass ich das Gefühl hatte, es würde gleich aus meiner Brust springen. Meine Hände fingen an, zu schwitzen, und jedes Mal, wenn ich in seine Augen sah, schossen Stromstöße in meine Mitte.
James Torres würde der Einzige sein, den ich je so lieben konnte. Der diese Flut an Gefühlen in mir auslösen konnte.
Wir mussten es schaffen, all die Hürden zu überwinden und wieder zueinanderzufinden.
Das laute Klingeln der Eieruhr auf der Küchentheke zerriss den magischen Moment und machte mich darauf aufmerksam, dass ich
den Auflauf aus dem Ofen holen sollte.
Ich senkte die Lider, auch wenn es mir schwerfiel, denn unsere Blicke waren wie Magnete, die sich stets anzogen.
Ich eilte zum Backofen und nahm zwei Geschirrhandtücher, um die heiße Auflaufform aus dem Ofen zu befreien. Es war ein wenig heiß an den Händen, aber das störte mich gerade nicht im Geringsten, denn meine Gedanken schwirrten nur um James. Ich trug das Essen zum Tisch und stellte es auf einen Untersetzer.
James war in der Zeit im Bad verschwunden, wahrscheinlich um sich zu waschen, also rief ich nach ihm und Avery, dass sie zum Essen kommen sollten. Die beiden ließen sich nicht zweimal bitten und setzten sich gleichzeitig an den Tisch. Ich füllte ihre Teller mit dampfenden Nudeln und setzte mich dann an meinen Platz.
Es war manchmal so absurd, wie sich das Leben entwickelte, aber trotzdem freute ich mich, James und Avery um mich zu haben. Auch nach alldem, was er mir angetan hatte, fühlte ich mich bei diesem Mann wohl und geborgen.
Und rein gar nichts würde ihn ersetzen können.