Ich hatte solche Angst. Und ich konnte nichts tun, außer von dem Inneren meines Wagens zuzusehen wie eine Unbeteiligte. Ich hörte nur das laute Knallen des Schusses, dazu noch das Splittern von Glas und meine Angst stieg ins Unermessliche. Mit einem lauten, ohrenbetäubenden Schleifen streifte der Jeep mein Auto. Ein Ruck ging durch meinen Wagen und ich kugelte mich schreiend auf dem Fahrersitz zusammen, krallte mich ans Lenkrad und hoffte, dass ich überleben würde. Ich sah nach draußen. Keine Ahnung, von wem der Schuss kam. Ich konnte nur daran denken, dass er hoffentlich James nicht getroffen hatte!
Ihm durfte nichts passiert sein, das würde ich nicht ertragen. Er hatte mir das Leben gerettet, sonst würde ich wahrscheinlich irgendwo am Straßenrand liegen und einsam sterben.
Ich war ihm unendlich dankbar und einfach froh, ihn zu haben. Wenn ich ihn brauchte, war er für mich da.
Immer.
Genau wie jetzt auch.
Der Jeep meines Verfolgers stoppte ein paar Meter weiter und alles, was ich erkennen konnte, war, dass die Frontscheibe kaputt war. Und ich sah James, der gerade seine Pistole sicherte. Ein Glück war ihm nichts passiert!
Also war der Schuss von ihm gekommen. Das beruhigte mich ein wenig. Trotzdem zitterten meine Finger und meine Atmung ging stoßweise. Ich versuchte, mich zu beruhigen, merkte aber auch, wie mich die Ereignisse plötzlich überrollten. Es tat alles so weh. Jeder Zentimeter meines Körpers schmerzte auf unerklärliche Weise. Der Sauerstoff wurde knapp in meiner Brust und eine unsichtbare Macht schnürte mir die Luft zum Atmen ab. Meine Lunge war nicht mehr in der Lage, etwas aufzunehmen. Ich wusste, dass ich kurz vor einer Panikattacke stand und nichts dagegen tun konnte. Meine Adern waren noch voll mit aufgestautem Adrenalin, welches erst jetzt langsam abebbte. Ich versuchte, meinen Atem zu regulieren, mich irgendwie zu beruhigen, scheiterte aber kläglich.
Es war einfach alles zu viel und ich starrte stur auf meine Hände, weil ich Angst hatte, James anzusehen. Meine Gedanken überschlugen sich und plötzlich kam die Erinnerung daran, was vor einiger Zeit auf dem Parkplatz des Heavenly’s
passiert war, wieder hoch. Schon damals hatte mich ein Fremder angegriffen und nur durch James war nichts Schlimmeres passiert. Es war einer von James‘ Feinden gewesen, der mich hinter dem Club ins Gebüsch hatte zerren wollen. Genau wie auf dem Flur, als Jason mich bedrängt hatte. Es war widerlich gewesen, wie er meinen Slip
zerrissen hatte und mit seinen ekligen Händen zwischen meine Schenkel gefahren war. Doch James war da, um mir zu helfen.
Er
war mein Retter.
Er
war der Grund, warum ich noch lebte.
Er
war meine große Liebe.
Nur durch ihn
hatte ich noch Freude am Leben, trotz der ganzen beschissenen Sachen, die passiert waren.
Er
gab mir die Kraft, die ich brauchte.
Er
gab mir meine Luft zum Atmen.
Er
gab meinem schwarz-weißen Leben die Farbe.
Als jemand die Fahrertür öffnete, schreckte ich hoch und sah in die wunderschönen, blauen Augen von James, dem einen Mann für mich. Und das trotz allem, was passiert war und jetzt zwischen uns stand. Niemals würde ich einen anderen Menschen so lieben können wie ihn. Er beugte sich zu mir herunter, berührte mit seinem Finger mein Kinn und hob es an.
Dann legte er plötzlich und wie einem spontanen Impuls folgend seine Lippen auf meine und verschloss unsere Münder miteinander.
Ich küsste ihn voller Verzweiflung und Leidenschaft zurück, griff in sein Shirt und hielt mich an ihm fest. Er erdete mich, gab mir Halt. Als ich mich von ihm löste, murmelte ich leise: »Danke, James …«
Er zog sich leicht zurück, um mir wieder in die Augen zu schauen, und sagte dann:
»Für dich immer, Kay. Ich würde alles für dich tun und dir helfen, egal, was ist.«
Ich nickte dankbar, denn im Gegensatz zu meiner Schwester war ich einfach nur froh, dass er mein Leben gerettet hatte und ließ
dieses Gefühl nicht von Schuld oder Zweifel erdrückt werden. Ich zog ihn wieder zu mir herunter, um seine weichen und zugleich rauen Lippen noch einmal zu spüren.
James nahm sich die Zeit für mich, die ich brauchte, um wieder ruhiger zu werden, während sein Mitarbeiter West sich darum kümmerte, dass der Jeep und die Leiche weggeschafft wurden. Dann machten wir uns zusammen auf den Weg ins Heavenly’s
. Ich fuhr langsam vor, da ich nur noch einen Spiegel hatte, und er mit dem Mercedes hinterher. Ich fühlte mich so viel sicherer, nur weil ich die Gewissheit hatte, dass er bei mir war.
Bei ihm war ich in Sicherheit.
Immer
.
Außer eben vor ihm selbst.
Auf dem Parkplatz des Clubs angekommen, stieg ich aus meinem Wagen und betrachtete erst mal den Schaden an meinem Fahrzeug. Mein armes Auto. Ich hatte es so gut gepflegt. Trotz des Alters war der BMW in einem super Zustand und hatte kaum Kratzer. Diese riesige Schramme würde mich nicht nur solange ich das Auto behielt an den Tag erinnern, an dem ich um mein Leben fürchten musste, sondern auch an den Mann, der mir stets in solchen Zeiten zur Seite stand.
James hatte inzwischen neben mir geparkt, gesellte sich zu mir und betrachtete den Schaden ebenfalls.
»Tut mir leid, Kay, das konnte ich leider nicht verhindern. Ich kenne da aber jemanden, der das bestimmt wieder hinkriegt.«
»Ach, nein, es ist nur ein Auto, aber trotzdem danke. Ich werde
nur den Spiegel reparieren lassen und der Rest kann bleiben. Lass uns reingehen, hier ist es so kalt.« Dann sah ich nach oben und zeigte ihm ein Lächeln, auch wenn dieses nicht meine Augen erreichte.
Er nickte und wir machten uns durch den Hintereingang auf den Weg in die Wärme. Kaum waren wir durch die Tür gekommen, da wurden die hämmernden Bässe und die Stimmen der Menschen, die gerade feierten und tanzten, lauter. Sie waren unbeschwert und hatten ihren Spaß. Dachten nicht an das, was in dieser grausamen Welt dort draußen passierte. Vielleicht musste ich auch einfach mal den Kopf von all den negativen Einflüssen freibekommen. Ich folgte James in sein Büro, wo ich mich gegenüber von seinem Drehstuhl niederließ.
Er ging zu der kleinen Küchenecke, die sich rechts im Büro befand, und stellte den Wasserkocher an.
Ich beobachtete ihn dabei, wie er eine saubere Tasse nahm und in diese einen Teebeutel legte. Als der Inhalt des Wasserkochers sprudelte, brühte er den Tee auf und stellte ihn vor mir auf dem Schreibtisch ab.
Ich nickte dankbar, da ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
Während ich mich wärmte und schwieg, erledigte James irgendwelchen Papierkram und sah andauernd auf die Uhr.
Hm, hatte er vielleicht noch was vor? Es war jetzt 22:10 Uhr. 15 Minuten waren vergangen, seitdem wir hier angekommen waren.
Ich nahm die Tasse mit dem Früchtetee, den ich so liebte, und nippte vorsichtig an dem leckeren Gebräu. Erneut musste ich darüber den Kopf schütteln, welche verrückten und erschreckenden Dinge sich in meinem Leben abspielten. Darüber könnte ich echt ein
Buch schreiben. Es war so absurd wie ein Blockbuster aus Hollywood. Einfach unglaublich.
Ich hoffte, dass meiner Schwester so etwas nie zustoßen würde, denn sie hatte schon genug gesundheitliche Probleme, als dass sie noch so eine Psychoscheiße ertragen konnte. Niemand konnte so viel so einfach wegstecken. Auch ich nicht. Irgendwann war das Fass voll und lief über. Bei mir fehlte inzwischen nur noch ein einziger Tropfen, bis ich meinen Zusammenbruch nicht weiter hinauszögern können würde. Jedenfalls fühlte es sich so an. Ich fragte mich manchmal, womit ich das alles verdient hatte und ob es sich vielleicht einfach um das berühmte Karma handelte. Denn man bekam im Leben immer das, was man verdiente, oder?
Ich stieß die Luft aus meiner Lunge und versuchte wieder, auf normale Gedanken zu kommen.
Als ich nach oben sah, war ich ein wenig geschockt darüber, dass James mich die ganze Zeit beobachtet hatte. Was er sich wohl denken musste, dass mir fortlaufend so was passierte und er mich auch noch retten musste? Und wieso verlor er kein Wort über die ganze Situation? Wusste er etwa, wieso ich Zielscheibe dieses Attentats gewesen war?
»Was war das für ein Mann? Was wollte er von mir?«, fragte ich ihn und bei dem Gedanken zog sich mein Magen zusammen.
»Es war einer von Jasons Männern. Er hatte die gleiche Tätowierung am Hals.« Er blickte mich starr an und ich merkte, dass es ihm nicht im Geringsten leidtat. James wurde zum Mörder, wenn es die Situation erforderte.
»Schrecklich, dass dieser Mann sterben musste. Aber Scheiße,
James, er hätte uns umbringen können!«, sagte ich reuevoll, denn selbst wenn es einer von Jasons Männern war, hatte niemand solch ein Schicksal verdient. »Es tut mir leid, dass du mir ständig helfen musst, James. Sowas hast du nicht verdient. Niemand hat das. Du kannst mich doch nicht ständig retten müssen!«
James zog die Brauen hoch, lachte und schüttelte den Kopf.
»Das kann kaum dein Ernst sein, oder Kay? Du hast wohl vergessen, was ich dir angetan habe. Ich bin kein Engel
und ganz sicher auch nicht dein Retter.
Ich habe dich auf die dunkle Seite gezogen, ohne dass du es ahnen konntest. Du hast dich, ohne es zu merken, in den Teufel verliebt, mein Engel. Und außerdem war es meine Schuld, dass dieser Typ dich verfolgt hat. Schließlich ist Jason mein
Rivale. Du kannst nichts dafür. Es ist uns zum Glück ja auch nichts Schlimmeres passiert«, sagte er lächelnd. Doch der bittere Beigeschmack blieb.
Das konnte ich nicht glauben. Ich wusste, was er für ein Mensch war, und er war vieles, aber keine schlechte oder böse Person! Was war denn los mit ihm? Natürlich hatte ich das, was er mir angetan hatte, immer im Hinterkopf. Das war zwar eine Sünde, aber deswegen war er nicht gleich der Teufel!
»Nein, James. Du hast zwar einen Fehler gemacht, aber das ist nichts, was unsere Liebe nicht überwinden kann. Siehst du das etwa anders? Ich weiß, dass du mich liebst, du kannst mir da nichts vormachen. Du hättest mich heute auch elendig verrecken lassen können. Lüg mich jetzt bitte nicht an. Mit dieser einen Sache hast du mich schon genug verletzt, das reicht für den Rest meines Lebens. Es tat so schrecklich weh, dich mit dieser Bitch zu sehen! Stell dir vor,
du hättest mich so gesehen …« Ich schnappte nach Luft, weil mich der ganze Schmerz des Verrates wieder überkam. Mein Herz schmerzte wie zuletzt an dem Todestag meiner Eltern. Tränen rannen mir ungehindert über die Wangen und ich war nicht mehr in der Lage, die Liebe meines Lebens auch nur anzusehen. Zudem war die ganze Situation mehr als verstörend und beängstigend. Wir waren gerade beinahe gestorben. Ich
wäre beinahe gestorben, wenn James mir nicht zur Hilfe gekommen wäre! Dieser Mann, der es auf mich absehen hatte, war nun tot. Das ganze Blut, das gegen die Scheibe gespritzt war ... Wie ein schrecklicher Film spielte sich alles erneut vor meinem inneren Auge ab. Die Erinnerungen waren noch zu frisch, zu roh, zu traumatisierend. Dann noch meine Schwester, die seit Wochen im Krankenhaus lag ...
Es war zu viel.