Kapitel 15
Meine Gefühle spielten verrückt und ich hatte keine Ahnung, wie ich über all diese Dinge denken sollte. Jason war tot und hatte mir mit seinen letzten Worten so viel offenbart, das ich bis jetzt noch nicht verstand. Stella war meine Schwester? Das freute mich zwar auf eine Art und würde auch erklären, warum wir so einen guten Draht zueinander hatten, aber was mir nicht aus dem Kopf ging: Er hatte sie vergewaltigt. Denn was anderes war Sex gegen ihren Willen nicht. Und warum zur verdammten Hölle sollte ich sie fragen, vom wem Mina war?
Fragen über Fragen und es gab nur eine Person, die mir diese beantworten könnte.
Ich musste zu Stella, und zwar sofort.
Ich stand auf und das Erste, was mir auffiel, war, dass Kaycee fort war. Sofort suchte ich nach meinem Handy, was ich auf der Couchlehne fand und blickte auf die Uhrzeit. 11:00 Uhr. Wo zum Teufel war Kay?
Ich suchte im ganzen Haus nach ihr, aber sie war nirgends zu finden. Sie war weg !
Angst kroch meinen Rücken herauf und meine Lunge zog sich schmerzvoll zu. Ein kalter Schauer lief über meinen ganzen Körper und meine Hände klebten. Panik breitete sich in meinen Gliedern aus. Ich rannte zur Haustür, wollte blind nach dem Autoschlüssel auf dem kleinen Beistelltisch greifen, als ich ins Leere fasste.
Eilig bückte ich mich und suchte unter dem Tisch. Aber auch hier war er nicht.
In dem Moment hörte ich Motorgeräusche, die sich näherten. Scheinwerferlicht fiel durch das kleine Fenster in der Tür und ich riss diese auf. Der Mercedes fuhr gerade vor und parkte nun in der Einfahrt. Mein Mercedes, um genau zu sein.
In mir brodelte die Wut, dass Kay einfach gefahren war, ohne mir etwas zu sagen! Ihr hätte sonst was passieren können.
Frauen …
Sie stieg aus und hielt eine riesige Tüte in den Händen. Als ich sie genauer betrachtete, konnte ich erkennen, dass sie geweint hatte. Irgendwas hatte ihr derartige Schmerzen verursacht, dass sie ganz verquollene Augen hatte.
»Was ist passiert, Kay? Geht es Dina nicht gut?«
Sie kam auf mich zu und presste sich ein Lächeln heraus.
»Ich habe Frühstück mitgebracht«, verkündete sie. Ihre Stimme klang anders als sonst, belegt und voller Trauer. Ich kannte meine Kay zu gut, um das nicht zu erkennen.
Auch wenn ich sofort zu Stella wollte, musste das erst mal warten, ich konnte sie so nicht allein lassen.
»Warum hast du geweint?«, fragte ich sie geradeheraus. Ich griff nach der Tüte in ihren Händen und nahm sie ihr ab.
Sie rang nach einer Antwort und blickte den Boden an, als ob er ihr diese geben könnte.
Wir standen nach wie vor draußen auf der Treppe und bewegten uns beide nicht.
»Dina geht zurück nach Deutschland …«, wisperte sie, woraufhin erst ihre Unterlippe zu beben begann und dann Tränen in ihre grünen Augen stiegen. Ihre schmalen Schultern zitterten.
Was sollte das denn heißen? Ihre Schwester ging zurück? Dann würde Kay auch gehen! Ich wollte sie in den Arm nehmen und trösten, doch ich konnte es noch nicht. Zuerst brauchte ich die Klarheit. Also umgriff ich die Tüte fest.
»Und du?«
»Ich bleibe.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen und Kaycee redete weiter.
»James, sie will mir keine Last sein! Niemals wäre sie eine Last für mich, sie ist doch meine Schwester!«
Ich verstand von ihrem wirren Gerede nur Bahnhof, aber ich zog sie erstmal ins Haus, damit wir uns in Ruhe unterhalten konnten. Wir gingen zusammen in die Küche, wo ich ihre Einkäufe auspackte und auf den Tisch stellte.
»Setz dich und erzähl alles, was sie gesagt hat, aber fang von vorne an, Kaycee. Sonst komme ich nicht mit«, bat ich sie.
Und das tat sie. Nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatte, gab sie mir das ganze Gespräch mit ihrer Schwester unter Tränen wieder und versuchte, auch die Sicht von Darina zu erklären.
Es war zwar verständlich, denn auch ich sah, wie Kaycee sich für ihre Schwester kaputtarbeitete, aber dennoch brach Dina ihr damit das Herz. Sie hatten ihre Situation, den Tod ihrer Eltern und den Krebs letztes Jahr so gut zusammen gemeistert und jetzt ging sie zurück nach Deutschland zu ihrer Großmutter.
Natürlich würde es finanziell vieles erleichtern, vor allem, was die hohen Klinik- und Behandlungskosten anging. Aber was bedeutete Geld schon? Es war nichts als Papier, mit dem man sich genauso den Arsch abwischen konnte. Geld war nicht alles, aber ohne konnte man nicht leben. Die Gesellschaft machte es zu einem unabdingbaren Gut, nach dem sich alle sehnten. Leute, die nichts hatten und auf der Straße lebten, waren oft glücklicher als wir, die alles hatten. Denn sie hatten gelernt, mit weniger zufrieden zu sein als die Oberschicht. Menschen mit Geld bekamen ihren Hals nie voll genug und strebten nach mehr. Geld bedeutete auch, Macht zu haben und anderen überlegen zu sein. Doch ich wusste, dass Geld allein nicht glücklich machen konnte. Die Beziehung zu meiner Familie, Freunden und Kay war so viel mehr wert. Ich wusste, wovon ich redete, denn mir hatte es nie an Geld gefehlt. Durch meinen Vater hatten wir mehr als genug. Oder konnte ich nur aus diesem Grund so denken und würde es anders sehen, müsste ich mir darum Sorgen machen?
Geld veränderte die Menschen. Meist mehr zum Schlechten denn zum Guten.
Dennoch war ich mehr als froh, dass ich Stella das Leben auf der Straße erspart hatte, denn es war hart, keine Frage.
Meine Mutter kam zu uns in die Küche und war geschockt von Kaycees Zustand. Sie riss ihre Augen auf und schlug sich die Hände vor den Mund. Sofort eilte sie zu ihr und nahm sie fest in den Arm. Kay hielt sich an meiner Mutter fest und weinte an ihrer Schulter.
»Was ist los?«, fragte meine Mum nervös.
»Kays Schwester will nach Deutschland zurückgehen«, klärte ich meine Mum mit der Kurzfassung auf. Ihre Lider senkten sich. Sie sah mitleidig zu Kay herab und drückte sie fester an sich. Ich war ihr wirklich dankbar, dass sie Kay fast genauso eine Mutter war wie mir. Sie liebte sie vom ersten Augenblick an und Avery war wirklich niemand, der schnell oder einfach andere Menschen an sich heranließ. Umso mehr zeigte es mir, dass Kay die Eine für mich war.