Kapitel 16
Darina hatte glücklicherweise alles gut überstanden. Sie war nun auf dem Weg der Besserung und erstmal sollte der Krebs nicht wiederkommen. Denn dank James‘ Freund Aiden war ihr Immunsystem nun gestärkt.
Die Tage des Eingriffes waren hart für uns alle gewesen. Stella, Avery, James, Aiden und Zoey hatten Dina die ganze Zeit über beigestanden.
Die Krankheit war zwar nun im Zaum, aber Dina ging es psychisch schlechter. Ihr Gewissen ließ ihr keine Ruhe und es schmerzte sie sehr, uns alle zu verlassen.
Mittlerweile war sie zuhause, ich hatte sie gestern aus dem Krankenhaus in Phoenix abgeholt, doch zwischen uns standen so viele unausgesprochene Worte. Darina hatte das Schlimmste
überstanden und ich wusste, dass es an der Zeit war, mit ihr zu reden. Schon für übermorgen war der Flug nach Deutschland gebucht, was mir große Schmerzen in der Brust bescherte.
Wir saßen in Dinas Zimmer und packten ihre Sachen, die sie mitnehmen wollte.
Stumm verharrte ich auf dem Bett und faltete einige Shirts zusammen, als ich endlich das Wort an sie richtete:
»Dina, es gibt da was, was ich dir sagen möchte«, fing ich vorsichtig an.
Sie blickte von dem Jeansstapel auf und sah mich verwirrt an. Ihre Brauen waren leicht zusammengezogen und ihre Stirn lag in Falten.
»Was ist denn los?«
»Als du mir gesagt hast, dass du zurück nach Deutschland willst, habe ich mit Oma gesprochen. Sie erzählte mir, dass Dad einige Geheimnisse vor uns gehabt hatte. Doch ich konnte es dir nicht im Krankenhaus sagen.«
Ihre Brauen senkten sich nachdenklich und sie schien abzuwarten, was ich ihr nun offenbaren würde. Also sprach ich leise weiter.
»Dad hat noch eine Tochter. Er ist Mum auf einer Reise hierher fremdgegangen, sie muss in deinem Alter sein. Mum wusste nichts davon und als er es Oma Tana erzählt hat, sagte sie Dad, er solle es Mum beichten, doch er wollte nicht. Er brach daraufhin den Kontakt ab, aus Angst, dass Oma es preisgab. Und das war nicht alles. Dad hatte auch Krebs. Er hatte einen Hirntumor ...« Ich brach ab und spürte, wie mir während des Erzählens mehr und mehr heiße Tränen in die Augen traten und kurz davor waren, über meine Lider zu laufen. Ich versuchte, sie zurückzuhalten, und blickte Dina aus dem
Schleier der Tränen entschuldigend an. Ich konnte ihr Gesicht nicht richtig erkennen, nur, dass ihr Mund zu einem stummen O geformt war.
»Waaas? Aber das kann doch nicht sein?! Dad hat Mum so sehr geliebt!«, sagte sie voller Verzweiflung in ihrer Stimme. Sie konnte es nicht glauben. Diese Informationen mussten sie vollkommen überrumpeln, ebenso wie es mir ergangen war, als ich all das von Oma erfahren hatte. Auch für Dina war unsere Familie ein heiliger, unbefleckter Tempel gewesen.
»Ja, aber er hat uns alle angelogen. Wie soll es bloß diesem Mädchen gehen? Sie hatte nie einen Vater, Dina.«
Sie schüttelte den Kopf und war mehr als fassungslos. Ihr Mund klappte auf und zu und sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie folgende Worte zustande brachte:
»Wer ist sie?«
»Ich weiß es nicht, aber ich werde sie suchen.« Ich schluckte hart. »Das wollte ich dir sagen, bevor du gehst ...«
Der Schock stand Darina noch immer in den Augen. Diese waren aufgerissen und sie schluckte sichtlich.
»Kay, ich werde nicht für immer bleiben«, versicherte sie mir sogleich. Nun hatte sie wohl ein schlechtes Gewissen, mich mit diesen Erkenntnissen allein hier zu lassen. »Aber ich brauche erstmal eine Auszeit, und wenn es mir besser geht, komme ich zurück.«
Ein Schauder durchfuhr mich. Heiße Aufregung und Adrenalin peitschten durch meine Adern. All die Trauer, war wie weggeblasen.
»Was?! Ich dachte, du gehst für immer?«, rief ich geschockt und
erfreut zugleich aus.
»Nein. Ich kann doch nicht auf ewig von dir getrennt sein. Lass mir die Zeit und wenn es mir besser geht, komme ich wieder. Vielleicht in einem Jahr oder in zwei. Wenn ich bereit bin, mich allem zu stellen. Dann bin ich dir keine Last mehr und kann vielleicht sogar arbeiten!«
Ich strahlte sie an und zog sie fest in meine Arme. »Danke ... Das bedeutet mir viel!«
»Und du suchst in der Zwischenzeit unsere verlorene Schwester.«
Ich nickte ihr zu und konnte all das kaum glauben.
Der Tag, an dem meine Schwester zurück nach Deutschland flog, war gekommen. Zurück in unser altes Leben. In unsere Heimat, die ich jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Dina musste in Deutschland weiter ihre Therapie machen und ich würde sie erst mal nicht mehr sehen. Es waren insgesamt drei große Gepäckstücke, die sie mitnahm. Doch endlich hatte ich Gewissheit, dass es kein Abschied für die Ewigkeit war, sondern nur für eine absehbare Zeit. Dieser Gedanke beflügelte mich so sehr, dass all die Sorgen nur noch halb so schwer auf meinen Schultern lasteten. Dennoch wollte ich sie nicht gehen lassen und die Aussicht darauf, sie so lange nicht mehr wiederzusehen, rumorte schwer in meinem Inneren.
Wir fuhren gemeinsam zum Flughafen und es waren mit die härtesten 40 Minuten meines Lebens. Dina setzte sich eine Maske auf, um sich vor den Keimen im Flughafen zu schützen. Ihr Arzt hatte abgeraten, so früh zu fliegen, doch Dina wollte nicht hören und machte es trotzdem.
Mein Herz schmerzte und es fiel mir schwer, zu atmen. Jeder Schritt tiefer in den Flughafen hieß, dem Moment des Abschieds näherzukommen.
Wir gingen nebeneinander her und rollten die Koffer über den glänzenden Boden. Es fühlte sich an, als würde die Zeit viel zu schnell vergehen.
Am Gate angekommen drehte sie sich zu mir um und blickte mich traurig an. Tränen rannen über ihre Wangen.
»Mist, ich dachte, es wird einfacher, Kay. Aber es tut so weh, dich ab jetzt nicht mehr jeden Tag zu sehen.«
Ich schloss meine Arme um sie und atmete noch einmal den vertrauten Duft meiner Schwester ein. Mein Herz setzte ein paar Schläge aus. Es zerriss mich, sie nun gehen zu lassen. Es war, als würde mit ihr ein Teil von mir herausgerissen werden.
»Pass auf dich auf und denk dran: Ich bin immer bei dir«, sagte ich zu ihr und versuchte mit aller Kraft, nicht bitterlich zu heulen.
»Danke, Kay, du auch. Ich habe dich lieb.«
Ein Abschied, aber dennoch nicht für immer. An diesem Gedanken hielt ich mich fest, um nicht zu zerbrechen.
Dina wischte sich schnell die Tränen weg, machte auf dem Absatz kehrt und drehte mir den Rücken zu.
Ich sah ihr dabei zu, wie sie in dem Gang verschwand. Gleich würde sie ins Flugzeug steigen und mich in Amerika zurücklassen. Meine kleine Schwester hatte ihre Entscheidung getroffen und ich musste sie akzeptieren, auch wenn es mir schwerfiel, aber es war ihr Leben und nicht meins.
Als ich mich umdrehte, um zum Fenster zu gehen und nach ihrem
Flugzeug Ausschau zu halten, streifte mein Blick über die Masse der Menschen. Zwischen all den fremden Gesichtern fiel mir jedoch eines auf, welches ich kannte. Mit steinerner Miene, die kein Gefühl zuließ, stand Aiden abseits an einem Pfeiler und schaute meiner Schwester hinterher. Einzig und allein in seinen Augen bemerkte ich den Schmerz aufflackern, den er empfinden musste, als er die Frau, die er liebte, davongehen sah und ihm nicht einmal die Möglichkeit gelassen wurde, sie in den Arm zu nehmen. Dina floh vor ihm. Mit Sicherheit war ihm das bewusst und er hatte genügend Respekt, sich nur im Stillen aus der Ferne von ihr zu verabschieden. So, dass sie es nicht bemerkte. So, dass er allein dieses Leid ertrug.
In dem er ihr das Leben gerettet hatte, hatte er sie verloren.
Was für ein bitteres Schicksal.
Ich wurde von einem Mann, der es offenbar eilig hatte, angerempelt, sodass ich Aiden aus den Augen verlor. Als ich ihn wieder suchen und zu ihm gehen wollte, war er verschwunden.
Auch nachdem der Flieger längst abgehoben hatte, stand ich noch am Fenster und weinte. Blickte gen Himmel und schaute, ob ich das Flugzeug noch finden konnte. Aber ich sah nichts außer Wolken.
Dann ging ich zum Parkplatz und suchte meinen Wagen. Orientierung war ohnehin nicht meine Stärke und da hier unzählige Autos standen, dauerte es ewig, bis ich zurück zu meinem BMW gefunden hatte. Na ja, zumindest die große Schramme unterschied ihn deutlich von anderen Autos.
Vor dem Wagen, schon den Schlüssel in der Hand, hielt ich kurz inne und atmete tief durch. Meine Augen brannten und ich hatte
Kopfschmerzen. Dennoch fühlte ich mich besser und befreit, denn nun gab es keinen Weg zurück. Meine Schwester reiste nach Deutschland und ich war noch hier. In Amerika.
Es war, als hätte ich ein Kapitel beendet und wäre nun bereit für das nächste, auch wenn die zuvor gelesenen Seiten niemals verblassen und auch nicht an Bedeutung verlieren würden.
Mit diesem Gedanken machte ich mich auf den Weg zurück nach Queens Creek.