Kapitel 17
Ich hatte ein paar Tage versucht, das Gespräch mit Stella aufzuschieben, doch ich wusste, dass ich endlich mit ihr reden musste. Es machte mich nervös und ich sah Stella jetzt in einem anderen Licht. Ich fühlte mich mehr für sie verantwortlich als je zuvor und es erdrückte mich innerlich, so wenig aus ihrer Vergangenheit zu wissen.
Die letzten Tage hatte ich alle Hände voll damit zu tun, mich um Kay zu kümmern, die um ihre nach Deutschland zurückgekehrte Schwester trauerte.
Aiden zog sich mehr und mehr zurück, weil er Dina nicht verstehen konnte. Sie hatte sich nicht mal von ihm verabschiedet.
Dann waren da noch meine eigenen Probleme und alles zusammen war ein riesiger Cocktail aus unerwarteten Sorgen. Langsam, aber
sicher regelte ich die Sache mit den Clubs und seitdem Jason nicht mehr lebte, waren auch seine Leute ruhiger geworden – jedenfalls fürs Erste.
Heute aber wollte ich endlich mit Stella reden, ich musste es einfach! Die Ungewissheit nagte an mir. Es war wie vor einem Kampf mit einem Gegner, den ich noch nicht kannte. Ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde.
Ich griff nach meinem Handy und wählte ihre Nummer. Für heute war ich im Heavenly‘s
fertig und saß schon in meinem Auto. Ich fuhr sinnlos durch die Gegend, um meine Nerven ein wenig zu beruhigen. Nach dem dritten Tuten nahm Stella mit einem: »Hi James, ich dachte, du bist verschollen«, ab.
»Stella, ich muss mit dir reden, wann passt es dir? Es ist wirklich wichtig«, fiel ich mit der Tür ins Haus. Ich war einfach niemand, der lange um den heißen Brei herumredete.
»Dann komm jetzt vorbei, Mina ist gerade noch im Kindergarten«, sagte sie.
»Okay, ich mache mich auf den Weg. Gib mir zehn Minuten. Ich bin sogar schon unterwegs.« Damit legte ich auf und lenkte weiter in die Richtung, in der Stella wohnte.
Das Viertel war nicht gerade das Beste – voller Hochhäuser und Plattenbauten. Ich hatte ihr schon oft gesagt, dass sie endlich umziehen sollte, aber sie hörte nicht auf mich. Ihr waren die anderen Wohnungen zu teuer. Und jetzt, da sich herausgestellt hatte, dass nicht nur eine Freundin, sondern sogar meine Schwester mit meiner Nichte in so einer Gegend wohnte, würde ich alles daransetzen, damit es ihnen besser ging. Ich wollte nicht, dass sie weiter in so
einem Umfeld blieben. Mina sollte beschützt und geborgen aufwachsen.
Ich suchte nach einem Parkplatz zwischen den ganzen alten Rostlauben, stellte meinen Wagen ab und ging zu dem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus.
Stella hatte mich anscheinend schon vom Fenster aus gesehen, denn der Türöffner brummte bereits, als ich am Eingang ankam. Ich ging die Treppen bis zur sechsten Etage zu Fuß, weil ich den Fahrstuhl nicht mochte. Seitdem ich als Kind in einem stecken geblieben war, fühlte ich mich darin nicht mehr wohl und nutzte sie nur im äußersten Notfall.
Nun stand ich vor ihr. Vor meiner Freundin, die ich seit sechs Jahren an meiner Seite hatte. Unsere Freundschaft war stets eine besondere gewesen. Ich hatte sie damals kennengelernt, als sie hochschwanger mit Mina gewesen war. Sie hatte in einem Stadtviertel in einem Park gesessen, welches noch viel schlimmer als dieses hier war. Um sie herum befanden sich nur Junkies und die Frau mit dem runden Babybauch passte nicht ins Bild. Aber aus keinem Anflug von Rührseligkeit und Gutmütigkeit nahm ich sie mit, gab ihr Essen und ein Dach über dem Kopf. Den Gedanken, jeden retten zu können, hatte ich nie gehegt. Hatte mich auch nicht für einen Helden oder einen guten Kerl gehalten. Auch in diesem Fall war ich
kein strahlender Ritter.
Ich hatte Stella keine Fragen gestellt, doch zwischen uns war gleich ein inniges Band entstanden. Stella wusste bis heute nicht, wieso ich sie damals aufgesammelt hatte. Es war kein Zufall gewesen, aber es stand mir nicht zu, es ihr zu sagen. Und weil ich sie schnell ins Herz
geschlossen hatte, erzählte ich niemanden, wo ich sie gefunden hatte. Stella wusste nicht, dass er
mich zu ihr geschickt hatte.
Ich musterte sie, aber dieses Mal eingehend. Anders als sonst. Und zum ersten Mal in diesen ganzen Jahren fiel mir auf, dass sie dieselben, blauen Augen hatte wie ich. Nie war mir das auch nur in den Sinn gekommen.
Ansonsten gab es jedoch nicht viele Gemeinsamkeiten. Stella war klein und zierlich, wohingegen ich eher großgewachsen und kräftig war – selbst für einen Mann. Sie hatte lange blonde Haare, die sich an den Enden lockten. Ein herzförmiges Gesicht. Eigentlich sah sie aus wie ein Engel. Es fühlte sich anders an als sonst, sie zu betrachten. Ich nahm sie aus einer neuen Perspektive wahr. Alles zwischen uns wirkte vertrauter und inniger. Ihre Augen waren bloß einen Ticken heller als meine und ein kleiner Schuss Grün war mit darin. Wenn sie unsicher war, zog sie die linke Braue in die Höhe, wie jetzt gerade. Stella wirkte so unschuldig und zerbrechlich, dass ich sie vor allem beschützen wollte. Jetzt mehr denn je zuvor.
Ich hatte verdammt noch mal eine Schwester.
Sie lächelte mich freundlich an und wartete ab. Als ich aber nichts sagte und sie weiter anstarrte, legte sie die Stirn in Falten.
»Was zum Geier ist los, James Torres? Du stehst hier und starrst mich an wie einen Geist. Willst du nicht endlich reinkommen? Oder hast du es dir auf der Fußmatte schon so gemütlich gemacht?«
Typisch Stella, immer einen frechen Spruch auf den Lippen.
Ich schüttelte den Kopf und trat in ihre kleine Wohnung ein. Sie war sauber und hatte lediglich zwei Zimmer. Eine echte Kaninchenbude, wenn man mich fragte, aber das würde sich bald
ändern. Ich setzte mich auf die Couch und wartete, bis sie sich zu mir gesellte.
Stella ließ sich neben mir nieder und blickte mich neugierig an. Vermutlich hoffte sie, dass es hier um Kaycee ging. Doch zur Abwechslung war es nicht so.
»Also Mister Ich-will-mit-dir-reden, was ist los? Spann mich nicht länger auf die Folter.«
»Kennst du deinen Vater?«, fragte ich geradeheraus.
»Nein, wieso?«
»Wo ist deine Mutter?«
»James, was soll das? Meine Mum ist tot und das seit Jahren.«
»Hast du Geschwister?«
Sie sah mich ungläubig an, zog ihre Brauen hoch und formte ihre Lippen zu einem O, ehe sie sie zu einem schmalen Strich presste.
»Soweit ich weiß – nein. Aber wieso zum Teufel bohrst du ausgerechnet jetzt so nach? Das hat dich sonst nie interessiert!«
Ein Schleier aus Angst legte sich über ihre Augen. Ihre Pupillen weiteten sich und ein leichter Schweißfilm legte sich auf ihre Stirn. Sie zitterte am ganzen Körper, versuchte es aber vor mir zu verbergen.
»Wer ist der Vater von Mina? Und komm jetzt nicht wieder damit, dass dein Ex dich verlassen hat! Du saßt auf der verdammten Straße, neben Bergen von Müll und zugedröhnten Junkies.«
Das war der Moment, in dem ihr die Tränen kamen. Sie sprang auf, rannte aus dem Zimmer Richtung Bad. Die Tür wurde aufgerissen und ich hörte nur die Geräusche, wie sie sich erbrach.
In meinem Hals formte sich ein Kloß und ich fühlte mich leer. Nach
all den Jahren konnte sie es mir immer noch nicht sagen. Es enttäuschte mich. Vertraute sie mir nicht genug? Oder war es so schlimm, dass sie wirklich nicht in der Lage dazu war? Doch die Sorge um sie überwog und ich stellte mich lieber in den Hintergrund.
Ich stand auf und ging zu ihr. Im Bad holte ich einen Waschlappen aus dem Schrank, machte ihn unter dem Wasserhahn nass und reichte ihn ihr, sowie sie ihren Magen komplett entleert hatte. Ihr rannen nach wie vor Tränen über die Wangen. Nur langsam versiegten sie. Noch immer zitterte sie wie Espenlaub und konnte sich kaum beruhigen.
Sie putzte sich schnell die Zähne und ich wartete am Türrahmen auf sie. Ihre Schultern hingen kraftlos hinab und wir gingen zusammen wieder ins Wohnzimmer.
»Lassen wir diese Frage erst mal außen vor«, sagte ich, atmete tief ein und entschloss, mit offenen Karten zu spielen. Da ich keine Ahnung hatte, wie ich so etwas sensibel rüberbringen konnte, platzte es aus mir heraus: »Du bist meine Schwester, Stella.«
Das brachte sie anscheinend völlig aus dem Gleichgewicht, denn sie sprang auf.
»Was? Soll das ein verdammter Scherz sein?«, schrie sie und sah mich entgeistert an. Sie stand vor mir und tat nichts anderes, als ihren Kopf zu schütteln.
»Nein. Jason hat es mir vor seinem Tod gesagt. Wir haben denselben elendigen Hund von Vater. Also hallo, Schwesterherz«, sagte ich bitter zu ihr und lächelte. Ich fühlte ihren Unglauben, aber es war richtig, es endlich ausgesprochen zu haben.
»Das kann nicht sein! Moment ...« Kurz hielt sie inne, ehe sie sich
nervös die Hände knetete und fragte:
»Wie meinst du, Jasons Tod?«
»Ich habe ihn bei dem letzten Kampf umgebracht, Stella. Als er mir seine letzten, schmutzigen Worte ins Gesicht gepfeffert hatte. Wusstest du es noch nicht?«
Sie schluckte sichtlich, aber sagte nichts mehr.
Ich sah ihr an, dass sie innerlich mit sich haderte. So viele Emotionen in einem einzigen Augenblick.
Ich überbrückte die Distanz und nahm sie fest in meine Arme.
»Er wird dir nichts mehr tun, hörst du? Er ist nicht mehr da.«
»Du weißt davon?«, sagte sie mit zitternder Stimme.
»Ja, es tut mir so leid, Stella. Das hast du nicht verdient. Mein Vater muss von dir gewusst und es Jason gesagt haben. Aber ich war völlig ahnungslos.« Innerlich zog sich mein Herz schmerzvoll zusammen bei ihrem Anblick. Sie nickte an meiner Schulter und beruhigte sich langsam wieder.
»Kommst du damit klar?«, fragte sie voller Sorge und blickte mich mit großen Augen an.
»Mach dir keine Sorgen um mich.« Ich schnaubte belustigt und streichelte vorsichtig über ihren Rücken.
Sie lächelte mich an.
»Na, dann habe ich jetzt wohl einen großen Bruder. Aber der warst du so oder so schon seit damals für mich.«
Nochmals drückte sie mich fest an sich.
Ja, wir beide waren uns schon sehr ähnlich und ich war froh, dass auch sie es nun wusste. Auf die Vergewaltigung würde ich sie erst mal nicht ansprechen und auch nicht darauf, wer nun der Vater von
Mina war. Das würde ich wohl so schnell nicht erfahren, aber ein guter Mensch war er zu hundert Prozent nicht. Andernfalls wäre ihre Reaktion nicht so heftig ausgefallen.
Aber es war okay, noch ein wenig länger im Unwissen zu bleiben. Stella würde mir ihre Geschichte erzählen, wenn sie soweit war. Und so lange konnte ich ihr als ihr Bruder beistehen und Kraft schenken.