Kapitel 18
James hatte mir erzählt, dass er bei Stella gewesen war und wie sie reagiert hatte. Ich machte mir große Sorgen, also rief ich sie an. Stella nahm sofort ab, als hätte sie schon drauf gewartet, dass sie jemand anrief.
»Hey, Kaycee!«
»Hallo, Stella. Ich wollte fragen, wie es dir geht«, sagte ich sanft.
»Hat James es dir erzählt?«, fragte Stella zögerlich.
»Ja ... Hör zu, Stella, ich will nur, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin. Du bist nicht allein, egal, was du durchmachst. Ich weiß, du bist niemand, der ständig jammert und von seinen Problemen erzählt, und ich will dich zu nichts zwingen. Aber wenn du bereit dazu bist, dann rede bitte mit mir. Ich werde für dich da sein, wenn du mich brauchst!«
»Danke, Kay, das weiß ich zu schätzen.« Ihre Stimme klang sanft, aber auch zugeknöpft. »Vielleicht kann ich irgendwann darüber sprechen, aber noch ist es zu früh. Wie geht es dir damit, dass Dina nun weg ist? Sicher ist es eine harte Zeit«, fragte Stella und lenkte geschickt auf mich.
Innerlich verdrehte ich meine Augen, denn Stella war ständig so fürsorglich. Nie dachte sie an sich selbst. Dabei hätte es mir gutgetan, mich auch einmal um sie zu kümmern und nicht immer andersherum.
»Nicht so gut. Aber ich hoffe, es wird bald besser, denn ich kann nichts daran ändern. Ich vermisse sie. Wir waren all die Zeit zusammen, deshalb muss ich mich erst daran gewöhnen, dass sie nicht mehr hier ist. Das Haus ist so groß und leer ohne Dina.«
»Du bist stark, das schaffst du!«, munterte sie mich auf. »Wenn du dich einsam fühlst, ruf mich einfach an und ich komme sofort vorbei, wenn es sich mit Mina einrichten lässt! Hat sie sich denn bei dir gemeldet, dass sie gut zuhause angekommen ist?«
»Ja, sie hat mir anfangs ein paar Nachrichten geschrieben. Aber inzwischen ist es ganz ruhig und sie schreibt mir nicht mehr zurück«, erklärte ich bestürzt, woraufhin Stella ein nachdenkliches: »Hmm«, verlauten ließ.
»Sie ist gegangen, weil sie wollte, dass du lebst. Und nicht, damit du ihr jetzt ständig Nachrichten schreibst und doch noch Sorgen um sie machst! Sicher will sie nur, dass du dich endlich um dich selbst kümmerst. Nimm es ihr nicht übel, Kay. Dina liebt dich und sie will nur das Beste für dich.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, gab ich zu. Dennoch fand ich es merkwürdig, dass sie sich überhaupt nicht mehr meldete.
»Hast du schon mit James über die Charlie-Sache gesprochen?«, fragte Stella plötzlich.
Kurz setzte mein Herz aus und ich schnappte nach Luft.
Stella hörte es und sagte noch: »Ich weiß, dass du es nicht hören willst. Aber es wäre an der Zeit, es komplett aus der Welt zu schaffen, Kay.«
Mein Herz schmerzte bei den Erinnerungen.
»Du hast recht. Ich werde mit ihm reden!«, fasste ich einen Entschluss. Das wollte ich auch gleich nach dem Gespräch mit Stella machen und als wir uns verabschiedeten, ging ich ins Wohnzimmer und sprach James direkt an, der auf der Couch saß und fernsah.
»Ich würde gerne mit dir reden ...«
Er schaute mich verwundert an, zog seine Augenbrauen hoch und nickte. Dann griff er nach der Fernbedienung und stellte das Gerät stumm.
Ich setzte mich neben ihn und fing an zu reden, ohne darüber nachzudenken. Je mehr ich mir das Hirn zermarterte, desto unsicherer würde ich werden, und das konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Also schoss ich einfach drauflos.
»James, ich will wissen, was damals mit Charlie war.« Nervös knetete ich meine Hände und sah ihm in die blauen Augen.
Er verzog keine Miene.
»Charlie hat mich in der Hand, Kay. Sie hat ein Gespräch mit den Cops belauscht und wollte es gegen mich verwenden. Sie ist wie besessen von mir. Keine Ahnung, warum es ihr so wichtig war, mich zu ficken, dass sie mich derart erpresst hat. Aber ich habe in dem Augenblick nicht daran gedacht, was es für dich bedeuten würde. Ich sah bloß die Gefahr und ihr billiges Vorhaben, gegen das ich mich machtlos fühlte. Für mich war es nur ein Fick, nichts weiter. Weniger noch als das – es war eine Not! Ein Wunder, dass ich ihn überhaupt hochbekommen habe! Niemals wollte ich dir wehtun, doch es ist nicht zu entschuldigen ... Es wäre besser gewesen, ich hätte sie mich an die Cops verpfeifen lassen«
Ich atmete tief durch. Charlie war schon seit jeher ein intrigantes Miststück gewesen. Und ich wusste, dass James die Wahrheit sprach, weil ich auch wusste, dass Charlie mehr für ihn empfand. Und das schon länger. Irgendwie konnte ich ihr nicht mal böse sein, weil ihr Verhalten fast krankhaft wirkte. Sie war völlig verrückt nach ihm, konnte nicht akzeptieren, wenn sie etwas nicht bekam, und für sie war der Sex sicher trotz des erzwungenen Umstands etwas Wahrhaftiges gewesen. Möglicherweise regte sich sogar so etwas wie Mitleid in mir. Sie war so abgehoben und fern der Welt, dass sie nicht mal sah, wie sie sich nur noch mehr von James entfernte, als ihm näherzukommen.
»Okay.« Ich seufzte, als könnte ich all die zermürbenden Gedanken mit der Luft aus meiner Lunge entweichen lassen. »Aber versprich mir, dass sowas nicht noch mal passiert. Und wir müssen uns überlegen, wie wir Charlie davon abhalten können, dir etwas anzutun.«
Es war leichter, Menschen zu hassen, als ihnen zu verzeihen, aber ich entschied mich selten für den einfachen Weg. Ich griff nach James‘ Hand und sah den Totenkopf an, der in schwarzer Tinte unter seine Haut gestochen war. Leicht fuhr ich über die Linien. Ich war mir sicher, dass wir das zusammen schaffen würden.
»Heißt das, du gibst mir noch eine Chance?«, fragte James und das hoffnungsvolle Blitzen in seinen Augen war so süß, dass ich grinsen musste.
»Versau es nicht, James Torres«, riet ich ihm.
Er lehnte sich zu mir und unsere Lippen trafen sich zu einem liebevollen Kuss.
James war nun seit zwei Tagen bei mir und kümmerte sich rührend um mich. So kannte ich ihn gar nicht. Seine Nähe und Fürsorge half mir über das Gefühl, alleingelassen und enttäuscht worden zu sein, hinweg.
Dina war seit bald fünf Tagen in Deutschland und hatte sich noch nicht wieder gemeldet. Aber wenn es ihr Ziel war, dass ich mein Leben endlich lebte, dann ließ sie mich vermutlich mit Absicht in Ruhe, damit ich mich auf mich konzentrierte, so wie Stella es in unserem Telefonat gesagt hatte. Vielleicht sollte ich ihr dennoch einfach noch mal schreiben … Kurzentschlossen griff ich nach meinem Handy, öffnete WhatsApp und tippte los:
Wie geht’s dir? Hast du dich schon gut eingelebt in unserer alten Heimat? Melde dich bitte einfach mal, ich mache mir Sorgen.
Ich starrte auf mein Handy und wartete, bis sich die kleinen Haken an meiner Nachricht im Messenger blau färbten. Das Zeichen dafür, dass Dina es gelesen hatte. Aber sie antwortete mir nicht gleich. Auch eine Stunde später nicht.
Vielleicht brauchte sie wirklich erst mal Zeit für sich, redete ich mir ein und versuchte, den Schmerz in meiner Brust weit von mir zu schieben.
Ich wollte ab morgen wieder Avery unterstützen und musste mich endlich zusammenreißen. Selbst wenn Dina erst mal keinen Kontakt mehr zu mir haben wollte, müsste ich es so hinnehmen. Ich konnte es nicht ändern. Meine Gedanken drohten, nur noch um Darina zu kreisen, daher musste ich mich dringend ablenken, damit ich nicht von diesen Dämonen heimgesucht werden würde.
Also zog ich mich an und ging eine große Runde mit Casper spazieren.
James war gerade im Heavenly’s arbeiten und würde vor heute Abend nicht zurückkommen. Ich war wirklich dankbar, dass er jetzt bei mir schlief und ich nicht mehr in diesem riesigen Haus allein sein musste. Inzwischen war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich nur noch von hier wegwollte. Weg aus diesem Haus, das mich ständig mit Erinnerungen konfrontierte, weg aus Queens Creek. Ich hatte schon die letzten Tage darüber nachgedacht, was ich nun mit diesem riesigen Gebäude machen sollte. Für mich allein war es viel zu groß und zu teuer, um es auf Dauer halten zu können. Eigentlich hatte ich schon meinen Entschluss gefasst, ohne es zu merken. Ich würde das Haus verkaufen – mitsamt den Erinnerungen.
Hoffentlich würde ich wieder Fuß fassen können.
Irgendwann.
Anstatt mir Gedanken darüber zu machen, ob meine Zukunft allein oder an der Seite von James sein mochte, entschloss ich, in der Gegenwart zu leben. Das machte es einfacher.
Meine Zukunft begann jetzt .