Ich suchte seit Tagen nach einer Lösung, wie ich Kaycee befreien konnte, aber ich fand keine. Charlie kam jeden verdammten Tag zu mir und hielt mich doch nur weiter hin. Sie wollte mich, doch ich würde es ihr nicht geben. Ich wusste, dass sie mich nur verarschte und ich selbst rausfinden musste, wo Kay war. Doch heute, nach all den Tagen der Ungewissheit, kam Charlie nicht ohne einen Beweis für ihre Macht. Sie hielt mir ihr Handy vor die Nase und was ich dann sah, ließ alle Sicherungen in meinem Kopf durchbrennen:
Kaycee war an einen Stuhl gebunden. Ein Knebel füllte ihren Mund und unter den an den Stuhllehnen gefesselten Händen bildeten sich rote Pfützen. Ihre Hände waren über und über mit Blut bedeckt und ich wusste, was sie mit ihr gemacht hatten.
Kay war bewusstlos und nackt.
»Das war am Anfang, James. Was denkst du, wie es ihr jetzt wohl gehen wird? Bist du nun doch bereit, mir zu geben, was ich will?« Charlie sah mich gewinnend an.
Eiskalte Wut fuhr durch meine Glieder. Mein Lid zuckte und ich hatte Mühe, sie nicht gleich umzubringen.
Ich hatte nicht gedacht, dass das überhaupt ging, aber sie war noch schlimmer als ihr Bruder.
Charlie war vom selben Schlag wie mein Vater. Verdorben bis in den letzten Winkel ihrer schwarzen Seele. Und dazu noch völlig übergeschnappt.
Dieses Mal würde sie den Raum hier nicht verlassen. Charlie rechnete nicht mit meinem Angriff und es war ein Leichtes, sie zu überwältigen. Ich fesselte sie an die Heizung und versuchte, sie nun mit Gewalt zum Reden zu bringen. Mit meinem Messer schnitt ich sie, mit den Händen würgte ich sie, mit der Pistole bedrohte ich sie – doch sie redete nicht. Egal was ich tat, die Schlampe blieb ruhig.
»Bring mich ruhig um, James. Dadurch wird das Miststück trotzdem nicht wiederkommen! Ganz im Gegenteil. Ich habe dir doch gesagt, dass sie dann stirbt! Ihr Schicksal ist an meines geknüpft!«, zischte sie mit schmalen Augen.
Mein Herz zerbrach mit jedem Tag und jeder Minute der Ungewissheit mehr. Ich wusste nicht mal, ob die Liebe meines Lebens noch lebte oder ob sie schon längst tot war und irgendwo verrottete. Ich wusste nichts. Rein gar nichts. Und Charlie war gefährlich und unberechenbar. Ich sollte sie töten – jetzt und hier. Aber die Angst, dass es tatsächlich Kaycees Schicksal besiegelte, hielt mich ab.
Unruhig sah ich auf die Uhr. Es war bald zehn Uhr abends des fünften Tages seit ihrer Entführung. Einer Entführung, die meine verdammte schuld war. Immer, wenn ich jemanden zu dicht an mich
heranließ, passierte so etwas. Bei Lilly war es dasselbe gewesen.
Das alles war zwar auf Charlies Mist gewachsen, aber ich wurde diese Schuldgefühle nicht los. Immerhin lag es an ihrer Besessenheit mir gegenüber.
Wenn Kay jetzt etwas passiert war, würde ich es mir nie im Leben verzeihen.
Ohne ein Klopfen ging die Tür auf und Aiden trat in den Raum. Seitdem Darina nach Deutschland abgereist war, war Aiden nicht mehr der Alte. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst, mit dunklen Ringen unter den Augen und ohne jegliche Lebenslust. Kaycees Schwester hatte sich nicht mal von ihm verabschiedet, war regelrecht vor ihm geflüchtet und auch wenn er nicht mit mir darüber gesprochen hatte, mit Sicherheit hatte es ihm das Herz gebrochen. Denn ich wusste, dass er Gefühle für Darina hegte. Doch momentan konnte ich ihm nicht der Freund sein, den er brauchte. Erst musste ich Kaycee finden und befreien.
Ich sah ihn abwartend an und er erwiderte meinen Blick fest. Aiden hatte Neuigkeiten für mich, das sah ich auf Anhieb.
»Sag mir, was du weißt … und bitte sag mir, dass es etwas Gutes ist.« Etwas anderes konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.
»Wir wissen, wo sie gefangen gehalten wird. Einer meiner Kollegen war in dem Haus und hat sie im Keller gefunden. Sie ist in keiner guten Verfassung. Noch wissen wir nicht, was sie mit ihr gemacht haben«, sagte er.
Auf der einen Seite fiel mir ein Stein vom Herzen, weil Kaycee lebte, und auf der anderen Seite wurde mir schlecht bei der Vorstellung, wie es ihr ging und was sie ihr angetan hatten.
Bei dem Wort ›Kollege‹
wurde ich jedoch hellhörig und stutzte.
»Was zum Teufel soll ›Kollegen‹ heißen, Aiden? Wo zum Geier arbeitest du wirklich, dass du so etwas mir nichts dir nichts herausfindest? Lüg mich jetzt nicht an, verdammt nochmal!« Ich fühlte mich betrogen von ihm. Einem meiner besten Freunde. Ich war schon aggressiv, weil ich aus Charlie nichts rausbekam, aber das hier war die Spitze!
Aiden blickte mir in die Augen, bevor er den Kopf senkte und zu Boden sah. Er presste seine Lippen zusammen und rang offensichtlich mit sich.
»Ich kann es dir nicht sagen, tut mir leid, James. Sei einfach froh, dass wir nun wissen, wo Kaycee ist und dass sie noch lebt«, sagte er.
Dieser beschissene Wichser! Ich hatte ihm all die Zeit vertraut, zählte ihn zu meinen engsten Freunden, aber er war nicht mal in der Lage, mir seinen verdammten Job zu verraten?
Ich tat das Einzige, was mir in diesem Moment richtig erschien, ging auf ihn zu und packte ihn am Kragen. »Du sagst mir besser sofort die Wahrheit, bevor ich mich vergesse und dir deine verdammte Nase breche. Ich habe genug Scheiße und Verrat in meinem Leben erfahren, dass ich das von dir – meinem besten Freund – nicht auch noch gebrauchen kann! Anscheinend kannte ich dich gar nicht! Hast du mich auch nur hintergangen?!« Um meiner Aussage Nachdruck zu verleihen, verstärkte ich den Griff um seine Kehle.
Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und schluckte dann.
»Bitte, James, ich erkläre es dir, beruhige dich!«, röchelte Aiden defensiv und versuchte, mich zu beruhigen.
Diese letzte Chance, sich zu erklären, wollte ich ihm geben. Lange genug hatte ich sein Schweigen hingenommen, doch jetzt war es Zeit für die Wahrheit. Keine Lügen mehr! Kein Verrat mehr!
Ihm war die Lage sichtlich unangenehm, aber er begann, zu sprechen. Er hob seine Hände beschwichtigend nach oben.
»James, ich bin ein Undercover-Cop«, gestand er leise. »Ich habe dich jedoch stets unterstützt und wollte dir helfen, die Geschäfte deines Vaters auffliegen zu lassen und aus dieser Welt rauszukommen. Du warst nie der, den wir wollten. Wir wollten die ganz Großen, die Bosse des Untergrundes. Du warst nur das Mittel, um an diese Leute ranzukommen. Ich hatte schon alles in die Wege geleitet, damit du Straffreiheit bekommst. Du hättest endlich dein normales Leben mit Kaycee haben können. Es tut mir leid, aber ich konnte es dir nicht sagen. Das hätte alles gefährdet.«
Ich war völlig überrumpelt. Aiden war ein verdammter Cop?!
All die Zeit hatte er meinen besten Freund gespielt und war mir näher als jeder andere. Auch wenn selbst er nie alle Details kannte. Solch ein Geheimnis wie er vor mir, hatte ich nie vor ihm gehabt.
»James, ich weiß, das klingt wie aus einem Hollywoodschinken – aber nicht alles war eine Lüge.« Sein rechter Mundwinkel hob sich freudlos.
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Ach ja. Unsere Liebe war echt, oder wie?« Mein Sarkasmus war genauso scharf wie mein Messer. Aber Aiden sah mich ernst an.
»Auch wenn ich dir nie sagen konnte, was ich wirklich mache, bin ich genau der Aiden, den du all die Zeit kanntest. Und ich bin
dein Freund. War ich immer und werde ich immer sein. Jetzt weißt du es und jetzt weißt du auch, dass ich es dir nicht erzählen konnte
.«
Ich wusste, dass er recht hatte. Auf seine Weise hatte er mir stets beigestanden, auch ohne seine wahre Identität preiszugeben. Tief in meinem Inneren hatte ich Verständnis für die Zwickmühle, in der er gesessen hatte, und nahm es ihm nicht so übel, wie ich eigentlich wollte.
Ich wollte nicht mehr so weiterleben. Kein Krimineller mehr sein. Wir hatten von Anfang an dieselben Ziele verfolgt.
Bloß war er nie ehrlich zu mir gewesen. Für den Verrat donnerte ich ihm meine Faust ins Gesicht und sein Kopf schlug hart zur Seite.
»Das ist für dein doppeltes Spiel! Also – woher weißt du jetzt, wo Kaycee ist?«
»Ich habe eine Fahndung an meine Kollegen rausgegeben, die haben ihr Haus durchsucht und durch die Überwachungskamera der Nachbarn konnten wir das Kennzeichen ausfindig machen. Dadurch sind wir endlich den Tätern und auch Charlie auf die Spur gekommen. Sie haben sich sofort darum gekümmert und sie gefunden, allerdings konnten wir sie noch nicht befreien, ohne unsere Deckung aufzugeben. Wir müssen jetzt allerdings schnell handeln, um sie da rauszubekommen. Verstärkung macht sich gerade bereit. Hilfst du uns?«
Hoffnung machte sich in meinem Herzen breit und Aidens Geständnis war erst mal außen vor. Die Aufregung, endlich Kay zu befreien, nahm allen Platz in mir ein. Ich konnte nur hoffen, dass es ihr gut ging.
Ich nickte und wir machten uns zusammen auf den Weg, um meine Kaycee zu retten. Charlie blieb angekettet zurück.
Um die würde ich mich später kümmern.