Stella
Ich konnte mir partout nicht vorstellen, was hier los war. Alle hatten mich seit Tagen gemieden und redeten um den heißen Brei herum. Jetzt lag auch noch Kaycee im Krankenhaus und es ging ihr alles andere als gut? Ich würde James echt die Eier abschneiden, wenn er etwas damit zu tun hatte, und das war mein voller Ernst. Kay hatte schon genug in ihrem Leben ertragen müssen und ich hatte James oft genug gesagt, er solle vorsichtig mit diesen komischen Leuten sein. Wir hatten gesehen, was bei Lilly passiert war.
Ich brachte Mina kurzfristig zu ihrem Babysitter, der glücklicherweise spontan Zeit hatte.
Die Klinik lag nicht allzu weit von meinem Zuhause entfernt, also fuhr ich schnell mit der U-Bahn die fünf Stationen.
Ich war nur noch auf Autopilot, weil ich nicht wusste, wohin mit meinen Gedanken. Alles, was mir übrig blieb, war zu hoffen, dass sich die Situation als nicht allzu schrecklich herausstellte. Mehr als alles andere wünschte ich mir, dass sie es – was auch immer es war – unbeschadet überstehen würde. Dass sie eine solche Last, wie ich sie seit Jahren mit mir herumtrug, nicht ertragen musste. Ich wusste, was es hieß, gebrochen zu sein, und seit diesem einen Augenblick in meinem Leben war ich nie mehr ganz die Alte geworden.
All diese Erlebnisse hatten mich zerstört und ich hoffte, dass niemand so etwas je erleben musste. Nicht mal meinem ärgsten Feind würde ich das wünschen.
Als ich endlich in dem Krankenhaus ankam, suchte ich die Station mit der Zimmernummer, die James mir genannt hatte.
Ich klopfte an die Tür und da ich keine Geduld hatte, öffnete ich diese einfach, ohne eine Antwort abzuwarten. Als ich sie aufmachte und den ersten Blick auf Kaycee, James und Aiden warf, wurde mir schlagartig übel und ich ließ meine Handtasche fallen. Mit einem dumpfen Aufschlag landete sie auf dem Boden.
Kaycee ging es nicht nur schlecht, sie war halb tot geprügelt worden – das sah ich auf den ersten Blick. Und ich sprach aus Erfahrung. Niemand wusste besser als ich, wie man nach so einem Ereignis aussah. So sehr ich mir auch gewünscht hatte, dass sie so etwas nicht ereilt haben mochte, meine schreckliche Vorahnung hatte sich bewahrheitet. Kaycee war nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Hoffentlich war sie stärker als ich.
Bei ihrem Anblick zog sich mein Herz krampfhaft in meiner Brust zusammen. Der Schmerz war so intensiv, dass er mir bis in meine Fingerspitzen kroch.
Schnurstracks lief ich zu dem Bett, in dem meine Freundin lag, und sah sie mir genauer an. Tränen liefen mir in Strömen über die Wangen und ich war blind vor Mitgefühl. Ich umfasste ihre zarte Hand vorsichtig und weinte einfach. Wieso mussten solche schrecklichen Dinge ausgerechnet den liebenswerten Menschen passieren? Wieso traf es nicht gemeine Arschlöcher? Ich konnte diese Welt einfach nicht verstehen.
Sie war grausam.
Nein, mehr als das.
Ich sah nun zu Aiden und James, die ich beide seit Jahren kannte. Erst fixierte ich den einen, dann den anderen mit meinem Blick.
»Sagt mir, was passiert ist. Ich will die Wahrheit. Die ganze!«
Und sie gehorchten. Ob ich überhaupt damit umgehen konnte, hatte ich nicht bedacht, aber was heulte ich jetzt hier rum? Es ging in diesem Moment nicht um mich. Aber durch meine eigenen Erlebnisse wusste ich einfach, wie sich Kaycee fühlen musste und welcher schwere Weg noch auf sie wartete. Was die beiden Männer mir berichteten, war noch weitaus schlimmer, als ich gedacht hatte, doch ich würde ihr helfen. Ich würde ihr eine Freundin sein, die sie unterstützte, und ich würde versuchen, ihr den Schmerz von der Seele zu nehmen, soweit ich es konnte. In solch einer Situation brauchte sie Gleichgesinnte. Jemanden, der sie verstand. Jemanden, vor dem sie sich nicht schämen musste. Eine Schwester. Nicht im Blut, sondern im Geiste.
Aber wir alle mussten bedenken: All der Schrecken, der uns zustieß, konnte uns nicht zerstören, wenn wir es nicht zuließen. Und die Narben, die wir von all dem Leid davontrugen, zeigten uns nur, wie stark wir waren und was wir im Stande waren, zu ertragen. Jeden Tag, wenn ich meine Tochter sah, wusste ich, wie kaputt ich war, aber gleichzeitig auch, wie stark ich sein konnte.
Und genau das würde ich Kaycee zeigen.