Sie können mich hier rauslassen. Den Rest gehe ich zu Fuß.«
Ich hatte mir so fest vorgenommen, den Taxameter nicht aus den Augen zu lassen. Und nun habe ich mich doch von der Schönheit der hügeligen Landschaft Cornwalls einfangen lassen mit dem Ergebnis, dass mein Portemonnaie gleich so leer sein wird wie mein knurrender Magen.
»Das ist aber noch ein ganzes Stück bis rauf zum Herrenhaus«, warnt mich der Taxifahrer. Obwohl er auf die Bremse geht, verlangsamt er nur unwesentlich die Fahrt.
Verstohlen werfe ich einen schnellen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Eine Stunde vor dem Nachmittagstee sollte ich da sein und jetzt bin ich schon – oh Gott, echt jetzt? – fünfzehn Minuten zu spät! Mit der Unpünktlichkeit der Bahn hatte ich gerechnet. Wieso soll die in England auch zuverlässiger sein als in Deutschland? Aber dass der Busfahrer sich nicht an die Haltestellen hält, sondern auf dem Weg für jeden stoppt, der vom Straßenrand aus winkt, konnte ich nun wirklich nicht ahnen.
Mir wird heiß und kalt. Ich hasse es, zu spät zu kommen, und dann auch noch gleich am ersten Tag. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob der Taxifahrer mich nicht doch bis vor die Haustür fahren soll. Was ist wohl peinlicher? Seinen Job mit überdeutlicher Verspätung anzutreten oder seinen Arbeitgeber als Erstes darum bitten zu müssen, den Taxifahrer zu bezahlen? Letzteres, entscheide ich und behaupte: »Kein Problem! Bei dem tollen Sonnenschein!«
Schulterzuckend und mit einem geraunten »Der Kunde ist König!« hält der Taxifahrer vor dem eisernen Tor, hinter dem eine staubige Straße so gerade, als wäre sie mit dem Lineal in die Landschaft gezogen worden, den bewaldeten Hügel hinaufführt. Links und rechts von dem geschlossenen Eingangstor verliert sich die von Regen, Sturm, Sonne und Schnee ausgewaschene, beachtlich hohe Mauer in der Unendlichkeit des satten Grüns der Wiesen und Wälder. Ich kann nur vermuten, wie gigantisch groß das dahinterliegende Anwesen sein muss, von dem ich im Moment nur einen kleinen Ausschnitt erhasche.
»Das macht dann zweiunddreißig Pfund und fünfundachtzig Pence«, informiert mich der Taxifahrer.
Ich kneife ein Auge zu und ziehe zischend die Luft durch die Zähne. Laut ausgesprochen klingt der Betrag noch Furcht einflößender als beim Ablesen. Das Leder seines Sitzes knarzt, als sich der Fahrer mit väterlich besorgter Miene zu mir umdreht. »Und Sie sind sich auch ganz sicher, dass Sie sich nicht in der Adresse geirrt haben?«
»Zwanzig Pfund, dreißig Pfund …« Ich puste mir eine vorwitzige Haarlocke aus den Augen und halte erschrocken im Zählen inne. »Wie viele Herrenhäuser mit dem Namen Staunton House gibt es denn hier in der Gegend?«
»Nur das eine«, brummelt der Mann und öffnet sein riesiges Portemonnaie. »Es ist nur so, dass sich so gut wie nie jemand hierher verirrt. Die Calvertons gelten als ziemlich spleenig. Gefühlt haben die seit Ewigkeiten keinen Fuß mehr ins Dorf gesetzt.« Sein Zeigefinger wandert an seine Schläfe.
»Wenn es nur das eine gibt, dann bin ich hier trotzdem richtig!«
»Ganz wie Sie meinen«, erwidert der Taxifahrer schulterzuckend und steckt das Geld ein. Die Art, wie er angesichts des mickrigen Trinkgeldes die zusätzlichen Münzen einzeln und in Zeitlupe in ein Extrafach plumpsen lässt, entgeht mir nicht. Ja, sorry, aber bis vor ein paar Wochen war ich noch Abiturientin ohne festes Einkommen. »Soll ich kurz warten, um zu sehen, ob Sie da überhaupt reinkommen?« Sein Kinn ruckt in Richtung geschlossenes Eisentor.
»Das wird nicht nötig sein. Die wissen, dass ich komme. Vielen Dank und haben Sie noch einen schönen Tag!« Die Handtasche über der Schulter wuchte ich mich, meinen vollgestopften Rucksack und den megaschweren Riesenkoffer auf die Landstraße. Auch wenn diese altjüngferliche Mrs Plimpton von der Arbeitsvermittlungsagentur Plimpton & Sons established 1879 in London mich ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass auf Staunton House und allem, was dazugehört, eine strikte Kleiderordnung herrscht und ich für die Dauer meines Aufenthalts alles, was ich brauche, gestellt bekomme, will ich doch wenigstens in meiner Freizeit in meinen eigenen Klamotten rumlaufen. Ich schultere meinen Rucksack, während das Taxi hinter mir wendet und mit ziemlicher Geschwindigkeit in Richtung Busbahnhof zurückjagt. Das Dorf Staunton ist so klein, dass die britische Bahn es eines Bahnhofs nicht für würdig befunden hat.
Eine richtige Klingel kann ich nicht finden. Dafür baumelt aber eine altmodische Glocke mit romantisch verrostetem Klingelzug von einer Art Steg, der am linken Mauerpfeiler befestigt ist.
Ohne auch nur eine Sekunde zu verschenken, ziehe ich an der Eisenkette und es passiert … nichts. Wenn man mal von dem heiseren Krächzen der Glocke absieht, das so leise ist, dass es noch nicht mal den kleinen Vogel aufschreckt, der mich neugierig von der Mauer aus beobachtet.
Ich versuche es noch mal. Das Ergebnis bleibt das gleiche, aber bevor ich richtig nervös werden kann, schießt mir eine Idee durch den Kopf, die mich sofort ruhiger atmen lässt. Wenn die Calvertons wirklich so spleenig sind, wie der Taxifahrer meinte, dann könnte es doch gut sein, dass die Glocke nur eine stilechte Attrappe ist und der Klingelzug direkt im Haus auslöst. Dann müsste jetzt gleich das Tor mit einem leisen Klicken aufspringen. Was es aber konsequenterweise nicht tut. Denn solche Leute benutzen natürlich keine Fernbedienung, wenn sie stilecht den Butler losschicken können, um den Besuch in Empfang zu nehmen. Genau so wird es sein und je nachdem, wie weit Staunton House entfernt ist, kann das natürlich ein paar Minuten dauern. Zufrieden beschließe ich jetzt noch, dass das Betätigen der Klingel gleichbedeutend ist mit dem Zeitpunkt meiner Ankunft, und entspanne mich. Aber nicht lange. Denn sosehr ich auch die Zufahrt hinaufstarre, es kommt niemand, um mich abzuholen. Probehalber rüttele ich kräftig am Tor. Doch wie erwartet, lässt sich das Mistding nicht mal einen Zentimeterbreit öffnen.
Gerade als ich überlege, dass die Mauer viel zu hoch ist, um sie zu erklettern, entdecke ich jenseits des Tors zwischen den Bäumen ein gut verstecktes kleines Häuschen. Zu Jane Austens Zeiten hätte dort der Pförtner gewohnt und mit etwas Glück leisten sich Menschen, die sich heute noch den Luxus einer Gesellschafterin gönnen, auch einen Pförtner.
»Hallo? Hallo, könnte mich wohl jemand reinlassen? Ich bin Juno Sondorf. Die Calvertons erwarten mich! Hallo?«
Keine Reaktion.
Was für ein riesengroßer Scheißmist! Jetzt sitze ich irgendwo im Nirgendwo, habe bis auf die von Mrs Plimpton im fernen London keine Telefonnummer, unter der ich mich melden könnte, und so langsam, aber sicher läuft mir die Zeit davon. Wieso überhaupt hat Mrs Plimpton mir nicht von Anfang an die Telefonnummer der Calvertons gegeben und warum habe ich Idiot sie nicht danach gefragt?, ärgere ich mich, als ich mein Handy hervorzerre, um in der Agentur anzurufen.
»Bitte mach, dass die auch samstags zu erreichen sind. Bitte mach …«, bete ich leise, während ich auf das Freizeichen im Hörer lausche.
Beinahe hätte ich es überhört. Das ganz leise Klack, mit dem das Tor hinter meinem Rücken dann doch noch aufspringt.
»Na, endlich!«, hauche ich und schiebe energisch den weniger widerspenstigen Torflügel zumindest so weit auf, dass ich mich mitsamt Tasche, Rucksack und Koffer hindurchquetschen kann. Jetzt aber los! Doch bevor ich mich in Bewegung setze, straffe ich die Schultern, hole tief Luft und lasse für einen kurzen Moment den rechten Fuß über der unsichtbaren Grenzlinie zwischen der Landstraße und dem Park von Staunton House schweben, gerade so lange, wie es braucht, um diesen Moment für die Ewigkeit in mein Gedächtnis einzubrennen. Denn das hier wird der erste Schritt in mein neues Leben.
Kaum bin ich durch das Tor geschlüpft, fällt es hinter meinem Rücken mit dem gleichen fast geräuschlosen Klacken wie vorhin wieder ins Schloss.