Gebt ihr Wasser!«
»Wenn ich doch nur mein Riechsalz eingepackt hätte.«
»Diese jungen Dinger lassen sich immer zu eng schnüren und dann bekommen sie keine Luft mehr und fallen in Ohnmacht.«
»Wir brauchen Champagner. Der regt doch immer noch am besten den Kreislauf an.«
Als ich die Augen aufschlage, liege ich auf einem der Sofas und eine besorgte Menschentraube drängt sich um mich herum, während mir ein älterer Herr ein Champagnerglas an die Lippen hält. »Wohl bekomm’s!«
»Dankeschön!« Vorsichtig stütze ich mich auf meine Ellenbogen auf und nehme ein paar kleine Schlucke. Die Prickelbrause bringt ziemlich schnell meine Lebensgeister zurück.
»Nicht so eilig!«, rät mir eine Dame, als ich die Beine vom Sofa schwinge und mich aufsetzen will. »Sonst kippen Sie gleich wieder um.«
Wo sie recht hat, hat sie recht, weshalb ich sie dankbar anlächle und erst mal bleibe, wo ich bin. Mir ist dieser Menschenauflauf so was von peinlich. Wenn ich etwas wirklich hasse, dann ist es, im Mittelpunkt zu stehen und dann auch noch wegen so einer blöden Ohnmacht. Wo ist eigentlich mein …?
Oh, Shit! Hektisch blicke ich mich um, aber weil die vielen Abendkleider und schwarzen Hosenbeine mir die Sicht verstellen, kann ich nicht sehen, wo Isobels Tagebuch hingefallen ist, als mein Kreislauf beschlossen hat, mich im Stich zu lassen.
»Suchen Sie vielleicht das hier?« Eine ältere Dame löst sich aus dem Pulk. Ich halte den Atem an, denn von ihrer Hand baumelt mein Abendtäschchen.
Ungeduldig nehme die Tasche von ihr entgegen und schon im nächsten Moment durchspült mich eine Woge der Erleichterung, als meine Finger die Kanten und Ecken von Isobels Tagebuch durch den weichen Stoff spüren. Erlöst seufze ich auf.
»Ich dachte mir schon, dass das Büchlein Ihnen gehört!«, zwinkert mir die ältere Dame verschwörerisch zu. »Deshalb habe ich es schnell in Ihr Täschchen gepackt. Ihre Notizen gehen ja niemanden etwas an.«
»Das war superlieb von Ihnen! Vielen Dank!«
»Kein Ursache!«, erwidert die Dame und wendet sich zum Gehen.
»Ich höre, hier gibt es einen Notfall? Wird ein Arzt benötigt?« Schon bevor sich die Menschenmenge vor ihm teilt, um ihn zu mir durchzulassen, habe ich Sebastians Stimme erkannt. Nein, nicht Sebastian, bitte nicht!
»Alles wieder in völliger Ordnung«, informiert ihn der Herr mit dem nur noch halbvollen Champagnerglas in der Hand. »Eine kleine Ohnmacht. Nichts Ernstes.«
Als Sebastians Blick auf mich fällt, zieht er scharf die Luft ein, während ich das Abendtäschchen mitsamt seinem brisanten Inhalt schützend gegen meine Brust presse.
»Miss Sondorf! Sind Sie wohlauf?«
»An Ihrer Stelle würde ich die junge Dame zur Sicherheit auf die Tanzfläche entführen, damit ihr Kreislauf wieder so richtig in Fahrt kommt!«, rät ihm mein Retter, bevor ich auch nur den Mund aufmachen kann. Und auch wenn ich mich am liebsten mit Händen und Füßen wehren würde, bleibt mir nichts anderes übrig, als Sebastians ausgestreckte Hand zu ergreifen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Mit festem und unerbittlichem Griff führt er mich in die große Halle. »Warum bist du vor mir weggelaufen?«, raunt er mir zu. Erwartet er wirklich eine Antwort darauf?
Noch bevor er den Arm um mich legt und das Orchester das nächste Stück anspielt, wird mir klar, dass ich in der Falle sitze. So schnell wird er mich nicht wieder entkommen lassen. Aber solange sich unter den Augen der umstehenden Menschen so viele Paare mit uns auf der Tanzfläche drehen, fühle ich mich erst mal sicher.
»Hör zu, Juno!«, stößt er mit gepresster Stimme hervor. »Ich weiß, dass mein Verhalten dir gegenüber zu großem Erstaunen, ja Unverständnis geführt hat. Aber ich konnte nicht anders handeln.«
Wäre die Situation nicht so ernst, würde ich laut auflachen. Natürlich konnte er das nicht, denn er ist ein konservativer, hochadeliger Idiot, und ich, als seine Angestellte, tauge nun mal nach seinem Klassendenken nicht als seine Freundin.
»Spar es dir einfach!«, zische ich.
»Nein, bitte, lass mich erklären … Es ist schwer zu beschreiben und wahrscheinlich noch schwerer zu verstehen. Ich begreife es ja selbst nicht.« Er stockt. »Dein Leben ist in Gefahr, Juno. Ich kann dir jetzt nicht alles erklären, aber … glaub mir einfach. Ich habe solche Angst um dich. Und das Schlimmste ist …« Er zögert, dann fährt er heiser fort: »Das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, ob nicht ich es bin, der dir etwas antun wird.«
Meine Knie geben nach und Sebastian muss mich für einen Moment stützen.
»Egal, wie schwer es mir fiel, ich musste auf Abstand zu dir gehen. Deshalb habe ich dich von mir gestoßen, Juno. Nur zu deinem eigenen Schutz.«
Er ringt um Fassung. Mitten auf der Tanzfläche bleibt er so abrupt stehen, dass die anderen Paare uns nur mit Mühe und Not ausweichen können.
»Ich verstehe selbst nicht alles, aber ich spüre, dass das alles mit Isobel zu tun hat. Ich sehe, wie mir meine Großmutter …«
»Also gibst du endlich zu, dass du Isobel kennst«, stoße ich heftig hervor. »Dass du dich heute Abend mit ihr verloben wirst!«
»Mein Gott, Juno … ja!«, haucht er. Sein Geständnis trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. »Ich werde mich heute Nacht verloben.« Stockend setzt er hinzu. »Mit Isobel! Aber es ist nicht so, wie du denkst«, flüstert er mir beschwörend zu. Seine Lippen sind so nah an meinem Ohr, dass ich seinen warmen Atem spüre. »Du musst unbedingt bei mir bleiben. Hörst du, Juno? Ich weiß nicht, von wem die Gefahr ausgeht, aber ich weiß, dass du heute Nacht sterben wirst, wenn du nicht in meiner Nähe bleibst.«
Genauso wie Isobel. Wieder sehe ich den Grabstein mit der Inschrift und dem heutigen Datum vor meinem inneren Auge. Mein Herz hämmert gegen meine Brust. Dass ich in Gefahr bin, spüre ich. Aber ich weiß nicht, ob der Mann, der mich gerade in seinen Armen hält, mein Beschützer oder mein … Mörder ist. Ich weiß nicht, wer er überhaupt ist. Seine Worte sind wie tausend Nadelstiche. Alles hat er mir verheimlicht. Alles.
»Traue niemandem!«, fügt er nun passenderweise hinzu.
Er ist nicht der Erste, der mir das rät. So fest ich kann, presse ich meine Lippen aufeinander und kneife die Augen kurz zu, um nur nicht heulen zu müssen. Weinen kann ich später immer noch. Ich brauche einen klaren Kopf, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.
»Entschuldige, mein Freund, aber diesen Tanz hatte Miss Sondorf mir versprochen!« Mit einem strahlenden Lächeln hat sich Lord Farnfield den Weg zu uns gebahnt und Sebastian die Hand auf die Schulter gelegt. In der Zwischenzeit muss er noch weiter getrunken haben, denn sein Atem riecht unangenehm nach Wein. Im ersten Moment freue ich mich trotzdem über sein Auftauchen, aber nur die Millisekunde, die es dauert, bis mir wieder einfällt, dass Isobel mich auch vor ihm gewarnt hat.
»Ist es denn schon elf Uhr?«
Lord Farnfields bestätigendes Nicken auf meine Frage nehme ich nur aus den Augenwinkeln wahr, denn es ist Fiona, die vom Rand der Tanzfläche aus mit winkenden Bewegungen meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich muss nicht hören können, was ihre Lippen lautlos formen. Das fordernde Aufflackern in ihren Augen und das energische Nicken ihres Kopfes in Richtung Hintertreppentür verraten deutlich ihre Absichten. Alles in mir schreit nach Flucht. Aber wie und wohin?
»Keine Chance, Robert!«, weist Sebastian Lord Farnfield mit einem gezwungenen Lachen ab, während er seinen Griff um meine Taille verstärkt, als ob er meine Gedanken lesen könnte. »Für heute Abend gehört Miss Sondorf mir.«
Im letzten Moment fängt Lord Farnfield den drohenden Sturz ab, als ihn, angetrunken wie er ist, seine ironische Verbeugung vor Sebastian stolpern lässt. »Aber natürlich. Immer der Earl zuerst. Immer nimmt sich der Earl, was er haben will. Und zwar ohne Rücksicht auf Verluste.«
»Ich warne dich, Robert!«, zischt Sebastian. »Es ist mir selten etwas so ernst gewesen wie jetzt!«
Völlig untypisch für ihn gibt Lord Farnfield sich mit einem bedauernden Schulterzucken geschlagen, bevor er sich umdreht und ich ihn aus den Augen verliere. Fiona ist ebenfalls verschwunden. Wahrscheinlich ist sie schon auf dem Weg zum Stall.
»Und was wird das jetzt?« Ich lege so viel Mut und Widerstandsgeist in meine Stimme wie nur irgend möglich. »Wir tanzen bis zum Morgengrauen. Und dann?«
»Verspotte mich ruhig«, erwidert Sebastian, während er seine aufmerksamen Augen durch den Saal gleiten lässt. »Aber so ähnlich sieht mein Plan aus. Zumindest so lange, bis ich klarer sehe.«
»Ich habe Isobels Tagebuch gelesen. Oder zumindest genug, um zu wissen, dass …«
»Es gab da diese Abmachung zwischen meinen und ihren Eltern«, fängt Sebastian wie in Trance an zu erzählen. »Wir sollten eines Tages heiraten und an dieses Versprechen fühlte ich mich gebunden.« Plötzlich schaut er mich irritiert an. »Wie ähnlich ihr euch seht! Unglaublich! Und das liegt nicht nur an diesem Kleid. Ja, dieses Kleid, genau das gleiche hat sie auch getragen, an dem Abend, als sie …«
Jedes Wort ein Stich in mein Herz. Also ging es ihm nie um mich. Jeder seiner Küsse galt ihr, nicht mir. Er hat in mir immer nur sie gesehen.
»Liebst du sie?« Meine Stimme ist nicht mehr als ein heiseres Krächzen. Sebastian kneift die Augen zusammen und greift sich mit der Hand an die gefurchte Stirn.
»Alles ist so unklar!«, keucht er, reißt die Augen weit auf, starrt mich mit einem irren Blick an und packt mich an den Schultern. »Juno, du, Isobel, es dreht sich alles. Verstehst du? Ich kann mir selbst nicht trauen. Deshalb müssen wir hierbleiben. Unter all den Menschen. Damit auch ich es nicht wagen kann, einen Mord zu begehen.«
»Aber warum solltest du … sollte überhaupt jemand mich töten wollen?«, spreche ich die Frage aus, die schon länger durch meinen Kopf geistert, ohne dass ich sie mir vor lauter Angst und Benommenheit wirklich gestellt hätte. »Ich habe doch mit Isobel und dem allen hier nichts zu tun!«
Doch. Natürlich habe ich das. Ich wohne in ihrem Zimmer, ich trage ihre Kleider, ich bedeute Fiona das Gleiche, was sie ihr bedeutet hat, der Mann, mit dem sie was am Laufen hatte, hat ganz offensichtlich auch Interesse an mir und ich bin in den Mann verliebt, den sie heiraten will. Und wenn kein Wunder geschieht, dann werden wir beide heute Nacht unseren gewaltsamen Tod finden.
Ich bin Isobel!
»Miss Sondorf! Bitte entschuldige, Sebastian, aber ich bin in einer ganz misslichen Lage und brauche dringend Miss Sondorfs Hilfe!« Mit schamhaft geröteten Wangen hat Mrs Wharton sich zu uns durchgekämpft, wobei ihr die Spielpause des Orchesters die Arbeit etwas erleichtert hat.
»Darf ich dich bitten, dich an einen der Diener zu wenden, Laura?«, setzt Sebastian leicht verärgert, aber immer noch höflich an, dabei müsste er doch wissen, dass sich eine Mrs Wharton von freundlichen Worten nicht bremsen lässt.
»Ich soll einen Diener in ein Frauenproblem einweihen?«, schnaubt sie bestürzt. Ohne auf Sebastians Antwort zu warten, greift sie mit der einen Hand nach meinem Handgelenk, während sie die andere hinter ihrem Rücken versteckt. Der arme Sebastian errötet auf der Stelle und schaut genau die kurze Zeitspanne beschämt zur Seite, die Mrs Wharton braucht, um mit mir in der Menge zu verschwinden.
»Was für ein Fiasko!«, zischelt sie mir zu, während die Musik zum nächsten Tanz aufspielt und sie uns in Schlangenlinien um die Paare manövriert. »Gerade fordert mich der französische Botschafter zum Tanz auf, da spüre ich eine ungewohnte Freiheit um die Körpermitte herum und im nächsten Moment werde ich der niederschmetternden Tatsache gewahr, dass sowohl mein Korsett als auch mein Kleid dem Drängen meiner Körpermassen nachgegeben haben.«
Möglichst dezent schiele ich dahin, wo Mrs Whartons Faust das aufgeplatzte Kleid hinter ihrem Rücken zusammengerafft hält.
»Wenn Sie wohl so nett sein würden und so dicht hinter mir gehen könnten, dass den Umstehenden der Blick auf das Desaster verstellt ist?«, fleht sie mich an. Wie es scheint, bin ich die einzige weibliche Person hier in der Halle, der Mrs Wharton in ihrer peinlichen Lage vertraut. Was bleibt mir also anderes übrig, als »Na, klar!« zu antworten? Was soll mir auch schon auf dem kurzen Weg in ihr Zimmer zustoßen? Ich liefere sie dort ab, sie klingelt nach ihrer Zofe und ich mische mich ganz schnell wieder unter die Leute.
Gerade will ich den Weg zur großen Treppe einschlagen, als Mrs Wharton zwei Paare umrundet, um auf die Tür zur Hintertreppe zuzusteuern. Was ja auch logisch ist. Der Weg die große Treppe hinauf ist der reinste Präsentierteller. So dicht könnte ich mich gar nicht an sie drängen, als dass nicht sofort jeder sehen würde, was los ist. Flink wie ein Wiesel huscht sie durch die Tür und vor mir die Stufen hinauf. In der ersten Etage angekommen, biegt sie aber nicht in Richtung ihres Schlafzimmers ab.
»Mrs Wharton, das ist der falsche Weg!«, stelle ich irritiert klar.
»Sie sind mir vielleicht eine!« Als hätte ich nichts gesagt, geht sie amüsiert in sich hineinkichernd schnurstracks weiter. Auf mein Zimmer zu. »Verdrehen jedem Mann den Kopf!«
»Bitte, was?« Jetzt erst bemerke ich, dass sie ihre rechte Hand gar nicht mehr hinter dem Rücken hält. Was sie auch nicht muss, denn mit ihrem Kleid ist alles in absoluter Ordnung. Mit einem schelmischen Lächeln lässt sie den gekrümmten Zeigefinger dreimal kurz, dreimal lang an meine Zimmertür klopfen.
Das »Was machen Sie denn da?« bleibt mir im Halse stecken, weil die Tür augenblicklich aufgerissen wird. Wer auch immer hinter ihr steht, er muss uns erwartet haben. Mit einem knappen, aber energischen Schubs drängt Mrs Wharton mich in den finsteren Raum. Sie erwischt mich so unvorbereitet, dass ich ein paar Schritte stolpere und mich gerade eben noch an den Bettpfosten klammern kann, um nicht zu fallen.
»Und wie versprochen, ich schweige wie ein Grab! Jaja, die Liebe!«, raunt sie in die Dunkelheit, bevor sie die Tür hinter sich zuzieht.
Durch den wolkenverhangenen Himmel gelingt es nur ein paar Sternen, ihr schwaches Licht durch die Fenster und bis in mein Zimmer zu schicken. Ein Klacken von der Tür herkommend verrät mir, dass gerade das Schloss zugesperrt wurde. Sehen kann ich immer noch niemanden, denn auch wenn sich meine Augen langsam an das Halbdunkel gewöhnen, sind die Tür und die Person, die vor ihr steht, in zu tiefe Schatten getaucht. Erst als sich Schritte über den Holzboden auf mich zubewegen, nehme ich den säuerlichen Geruch von Wein wahr. Dann flammt mit einem leisen Knistern ein Streichholz auf und es überrascht mich nicht mehr, in welches Gesicht ich da blicke. Kraftlos setze ich mich auf das Bett, meine Beine wollen mich einfach nicht mehr tragen.