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Wortlos schreitet Lord Farnfield auf den Kamin zu, um die beiden Kerzen anzuzünden, dann geht er weiter auf den Frisier- und den Nachttisch zu, um dort ebenfalls Licht zu entfachen. Unendlich langsam dreht er sich dann zu mir um. Sein Gesicht liegt im Schatten, als er zu sprechen beginnt. »Bitte entschuldigen Sie diesen kleinen Trick. Er ist nötig geworden, weil Sebastian Sie nie im Leben mit mir hätte davontanzen lassen. Er ahnt, was los ist, und bald wird ihm auch wieder alles einfallen. Aber noch weiß er nicht, von wem Gefahr droht. Oder ob er vielleicht selbst derjenige ist, vor dem er sich fürchten sollte. Und diese Sorge lähmt ihn.«

Nur mit Mühle gelingt es mir, zu schlucken. »Warum bin ich hier?«

»Um zu sterben!« Mit tieftraurigen Augen schüttelt Lord Farnfield den Kopf. »Ich werde Sie töten. Genauso wie Fiona Isobel getötet hat.«

»Was?«, flüstere ich. »Fiona hat Isobel getötet? Wann?«

»Schwer vorzustellen. Ich weiß«, murmelt Lord Farnfield, während er zu den schweren Gardinen hinübergeht und mit einem Ruck die Kordeln abreißt. »Aber sie hatte Hilfe. Von Sebastian.«

Nein, bitte, nein!

»Isobels grausamer Tod ist der Grund dafür, dass ich Sie hergelockt habe. Sie und all die anderen, die vor Ihnen hier gewesen sind.«

In meinem Kopf fängt es an zu pochen.

Langsam dreht Lord Farnfield sich zu mir um. Er spricht jedes Wort klar und deutlich aus und trotzdem lässt ihn der Alkohol schwanken.

»Ich will Fiona und Sebastian leiden sehen, Miss Sondorf. Sie sollen den gleichen unstillbaren Schmerz empfinden, der seit Isobels Tod jeden Tag, Stunde um Stunde, Minute um Minute, jede grausame Sekunde mein Herz zernagt. Deshalb habe ich mich an die Arbeitsvermittlungsagentur Plimpton & Sons gewandt. Zwar im Auftrag und in Sebastians Namen, aber die Beschreibung der jungen Dame, die als Gesellschafterin für Lady Marjorie gesucht wurde, die stammte einzig und allein aus meiner Feder. Was ich brauchte, war eine zweite Isobel. Eine junge Frau, deren Haare die gleiche Beschaffenheit hatten wie Isobels, deren Augen genauso grün wie Isobels wären und deren seidige Haut genau den gleichen Alabasterton aufweisen würde wie Isobels. Denn Sebastian musste sich in sie verlieben und für Fiona musste sie zur unersetzlichen Vertrauten werden. Keine Ihrer Vorgängerinnen, Miss Sondorf, war so perfekt wie Sie. Sie sind Isobel. Zum ersten Mal in all den vielen, vielen Jahren seit Isobels grausamen Tod konnte mein Plan funktionieren. Und er hat es. Sebastian liebt Sie mehr als sein Leben, mehr als er Isobel jemals geliebt hat, auch wenn er sich dagegen sträubt, aus Angst, er könne Ihnen etwas antun. Und Fiona habe ich noch nie so glücklich gesehen wie in Ihrer Gesellschaft.«

Den Blick auf die Stricke in seinen Händen geheftet, kommt Lord Farnfield zu mir herüber. Unwillkürlich schrecke ich zurück, als er sich vor mich hinhockt, die Gardinenkordeln neben sich auf den Boden legt und seine Hände um meine schlingt.

»Bitte, Miss Sondorf, Sie müssen mir verzeihen. Was ich gleich machen werde, hat nichts mit Ihnen zu tun. Ganz im Gegenteil. Ich mag Sie sehr und es fällt mir nicht leicht, meinen Schwur zu erfüllen. Aber es muss nun mal sein.«

Tränen schießen mir in die Augen, mein Herz überschlägt sich, mein Atem rast und trotzdem bekomme ich nicht genug Luft.

»Sie werden den gleichen grausamen Tod sterben, den Isobel gestorben ist.«

Ein erstickter Schrei windet sich aus meiner Kehle, als vor meinen Augen das grausam entstellte Gesicht Isobels erscheint.

»Nein!«, schreie ich und springe auf die Füße, obwohl ich weiß, dass ich keine Chance gegen ihn habe. Ich erreiche die Tür nur vor ihm, weil er nicht die geringsten Anstalten macht, mich aufzuhalten.

Muss er auch nicht, denn der Schlüssel steckt nicht mehr im Schloss.

»Bitte, Miss Sondorf!« Als ich zu ihm herumwirbele, sehe ich Tränen in seinen Augen schimmern. »Es muss doch nun mal sein. Ich habe geschworen, Isobel zu rächen.« Langsam richtet er sich auf.

Fieberhaft jagen die Gedanken durch meinen Kopf. Ich muss ihn dazu bringen weiterzureden. Nur so gewinne ich Zeit, auch wenn ich nicht weiß, wofür. Schließlich gibt es niemanden, der kommen wird, um mich zu retten.

Sebastian weiß nicht, wo ich bin, und Fiona wartet im Stall auf mich.

»Bevor ich … sterbe … erzählen Sie mir von Isobel?«

Augenblicklich legt sich ein glückliches Lächeln auf Lord Farnfields Gesicht. »Isobel war eine ungewöhnliche Frau«, setzt er an, während er mit der ausgestreckten Hand auf einen der zwei antiken Sessel deutet. Ich nehme mir sehr viel Zeit zum Hinübergehen und noch mehr zum Hinsetzen. »Keine Frau, die artig nur das Wohl ihres Gemahls im Sinn hat und sich selbst völlig zurücknimmt.«

Bedächtig nimmt er im Sessel mir gegenüber Platz. Mir entgeht nicht, dass er die Kordeln mitgebracht hat und gedankenvoll durch seine Hände zieht.

»Oh, nein, so war sie nicht. Auch wenn sie Sebastian gerne glauben ließ, sie sei eine bescheidene, großherzige, naturverbundene, selbstlose Frau mit dem Wunsch, ihrem Mann eine vollkommene Gefährtin und ihren Kindern eine aufopferungsvolle Mutter zu sein.« Er stößt ein amüsiertes Schnauben aus. »Ich weiß nicht, ob ihm jemals aufging, dass sie ihm nur Theater vorspielte. Alles, um ihre Eltern nicht zu enttäuschen. Ihnen war es doch so wichtig, dass sie die Frau eines Earls wurde. Ich aber kannte die wahre Isobel.«

Die Erinnerung lässt seine Augen aufleuchten.

»Sie war wild, suchte das Abenteuer, unbändig und leidenschaftlich, und zwar in jeglicher Hinsicht. Sie machte gerne dem Schicksal ein Angebot. Ich habe versucht, mich gegen meine Gefühle für sie zu wehren. Ich glaubte, Fiona zu lieben, bis Isobel mich in ihren Bann zog. Vom ersten Kuss an war ich ihr verfallen. Ich wusste, dass wir für immer zusammengehörten. Auch wenn mich das schlechte Gewissen Sebastian gegenüber auffraß. Er war doch mein bester Freund und ich wusste, dass er sie heiraten wollte.«

»Und was passierte dann?« Meine Stimme zittert.

Seine Augen wandern zu Isobels Bett hinüber.

»Wir liebten uns. Hier in diesem Zimmer. Nacht für Nacht schlich ich mich durch den Geheimgang zu ihr. Unsere Liebe war so groß, so unermesslich, so einzigartig. Ich wusste, dass ich nicht einen Tag ohne sie leben könnte. Und ihr ging es genauso. Sie schwor mir ewige Liebe! Dabei hatten wir beide so ein schlechtes Gewissen wegen Sebastian und dem, was wir hinter seinem Rücken trieben. Mich leitete immer die Hoffnung, dass Isobel ihn trotz der Erwartungen ihrer Eltern aufgeben würde.«

Er ist blind vor Liebe und sieht nicht, wie hinterhältig diese Frau gewesen ist.

»Dann kam der Abend ihres letzten Balls …«

Unauffällig taste ich nach dem Tagebuch in meiner Abendtasche, die ich immer noch um mein Handgelenk trage. Es ist der Mut der Verzweiflung, der mich so einfühlsam und vorsichtig wie möglich sagen lässt: »Aber was wäre, wenn Sie sich in Isobel getäuscht hätten und …«

Urplötzlich springt Lord Farnfield aus dem Sessel auf. Schmerz und Zorn über meine blasphemische Andeutung haben sein Gesicht zu einer grausamen Fratze verzerrt. »Wagen Sie es nicht, Isobels Andenken in den Schmutz zu ziehen!«

Ich will treten, kratzen, beißen. Aber stattdessen sehe ich ihm wie gelähmt dabei zu, wie er die erste Kordel um meine Handgelenke schlingt, bevor er auch meine Füße zusammenbindet und mich schließlich an den Sessel fesselt.

»Lord Farnfield, bitte!« Ich zittere unkontrolliert, die Tränen laufen mir über die Wangen. Erwacht aus meiner Erstarrung, rüttele ich wie irre an meinen Fesseln, aber sie wollen mich nicht freigeben.

»Verzeihen Sie mir, Miss Sondorf! Bitte verzeihen Sie mir!«, fleht er mit tränenerstickter Stimme, nimmt einen der Kerzenleuchter vom Kaminsims und geht zur Tür. Langsam zieht er den Schlüssel aus seiner Hosentasche und steckt ihn ins Schloss. Ich sehe ihm an, wie sehr er mit sich kämpft, dann holt er tief Atem und schleudert den Leuchter auf den Teppich vor dem Frisiertischchen, der sofort Feuer fängt. Ich schreie und schreie, spüre die Hitze näher kommen.

Plötzlich mischt sich etwas anderes in meine Stimme. Das Geräusch von splitterndem Holz. Die Tür fliegt krachend auf und dann höre ich Sebastians Stimme.

»Robert, was hast du getan?« Er stürzt ins Zimmer und wirft sich auf Lord Farnfield. Gemeinsam gehen sie zu Boden, wälzen sich im Kampf. Mal ist Sebastian oben, mal Lord Farnfield. Jetzt ist auch Fiona da. Kurz entschlossen eilt sie auf das Fenster zu, reißt mit einem Ruck eine der Gardinen herunter und schleudert sie auf die hungrigen Flammen, um ihnen den Sauerstoff zum Leben zu nehmen.

»Was tust du da?« Die Verzweiflung macht Lord Farnfields Stimme schrill. »Sie muss sterben! Für Isobel! Weil ihr sie ermordet habt.«

»Robert, du bist ja von Sinnen!«, keucht Sebastian, von dessen aufgeplatzter Lippe Blut tropft. »Es war ein Unfall! Ein Unfall! Glaub uns doch endlich.«

»Lügen, nichts als Lügen!« Bebend hat sich Lord Farnfield auf die Füße hochgerappelt, die Fäuste zum nächsten Schlag geballt. Der Alkohol in seinem Blut lässt ihn schwanken. »Ihr habt sie ermordet, weil ihr es nicht ertragen konntet, dass sie mich liebte, dass sie euch für mich aufgegeben hätte, dass ihre ganze Liebe nur mir gehörte.«

»Schnell, Fiona, binde mich los!« Ich kann es gar nicht abwarten, bis sie meine Hände von den Fesseln befreit hat und ich Isobels Tagebuch hervorziehen kann.

»Du kannst mich nicht aufhalten, Sebastian!« Blitzschnell fährt Lord Farnfield zum Kamin herum und greift nach dem zweiten Kerzenleuchter, bereit, ihn auf mich und den Sessel zu schleudern.

»Nein, Robert! Nein!«, fleht Sebastian. »Ich liebe sie doch.«

»Ich weiß!« Lord Farnfield holt zum Wurf aus. »Gerade deshalb muss sie ja sterben!«

»Hätte ich geahnt, dass Robert so unbeherrscht und uneinsichtig sein könnte, hätte ich niemals eine Affäre mit ihm angefangen« , lese ich mit bebender Stimme Isobels Tagebucheintrag vor, während Fiona noch dabei ist, meine Füße zu befreien. Kurz schaue ich auf, um sicherzugehen, dass ich Lord Farnfields volle Aufmerksamkeit habe. Ganz offensichtlich habe ich sie, denn er kommt langsam auf mich zu. Schnell fahre ich mit der Zunge über meine trockenen Lippen. »Sebastian hat ihm von seinen Plänen erzählt. Mitten in der Nacht ist er durch den Geheimgang in mein Zimmer gekommen und hat mir eine Szene gemacht. Gerade ist er erst weg. Gott, was hatte ich Sorge, dass jemand sein lautes Schluchzen hören könnte und er mir so kurz vor meinem Ziel alles verdirbt. Dass er mich liebt, hat er immer wieder gestammelt. Dabei hat er geweint wie ein kleines Kind. Er ist vor mir auf die Knie gesunken, ist vor mir herumgerutscht. Niemals könne er eine andere so lieben wie mich. Dass er mich braucht, hat er gejammert. Dass er ohne mich nicht leben kann. Wie erbärmlich. Robert ist ein solcher Wurm! Er würde Sebastian von unserer Affäre erzählen. Er würde mich heiraten. Als ob ich mich an einen jämmerlichen Viscount ohne nennenswertes Vermögen verschwenden würde!«

Alle starren mich an. Sebastian, Fiona, aber vor allem Lord Farnfield, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen ist. Leise klappe ich das Tagebuch wieder zu.

»Was ist das?«, zischt er keuchend.

»Das sind Isobels eigene Worte. Am Vorabend ihres Todes hat sie sie in ihr Tagebuch geschrieben. Lesen Sie selbst, wenn Sie mir nicht glauben wollen, Lord Farnfield. Sie hat mit Ihnen gespielt. Genauso wie mit allen anderen. Sie hatte Sie nicht verdient!«

»Sie lügen!« Lord Farnfield reißt mir das Tagebuch aus der Hand. Dann setzt er sich auf das Bett, stellt den Kerzenleuchter zu dem anderen auf dem Nachttisch und beginnt zu lesen. Kaum, dass seine Augen über die ersten Worte huschen, erkennt er scheinbar Isobels Schrift. Seine Schultern sacken kraftlos nach vorne. Keiner von uns traut sich, auch nur ein Wort zu ihm zu sagen, während Lord Farnfield mit traurigen Augen die Wahrheit über seine große Liebe liest.

»Bist du wohlauf?«, flüstert Fiona mir zu, während sie mit schnellen Fingern meine Füße von ihren Fesseln befreit. Dann greift sie nach meiner Hand. »Als du nicht zum Stall gekommen bist, war ich so außer mir, dass ich in voller Reitmontur in die große Halle gestapft bin, um dir tüchtig die Meinung zu sagen. Aber als ich dich dort nicht finden konnte, habe ich mir Sorgen gemacht und wollte dich in deinem Zimmer suchen. Schon auf dem Gang habe ich den Tumult gehört. Genau in dem Moment ist mir alles wieder eingefallen. All das Schreckliche, was sich in jener verhängnisvollen Nacht zugetragen hat.«

»Außer einem tüchtigen Schrecken ist alles okay mit mir!«, nicke ich.

»Großer Gott, Juno, ich hätte es nicht ertragen, dich zu verlieren!« Sebastian steht vor mir und schaut mich mit seinen wunderschönen Augen an.

Kurz schaut Fiona zwischen uns hin und her, zieht sich mit einem breiten Grinsen auf die Füße hoch und tritt zur Seite, damit Sebastian mich in die Arme schließen kann. Oh Gott, wie sehr genieße ich es, den verführerischen Sebastian-Duft aufzusaugen. Langsam lässt er sich auf die Armlehne meines Sessels gleiten, haucht mir zärtlich einen Kuss aufs Haar und legt meine Hand in seine.

Schweigend beobachten Fiona, Sebastian und ich, wie Lord Farnfields Augen über Isobels Schrift huschen. Viel zu fröhlich klingt die Musik aus der großen Halle zu uns herauf, die nur ab und an von freudigem Gelächter übertönt wird. Die Minuten vergehen. Leise raschelt das Papier, wenn Lord Farnfield die Tagebuchseiten umblättert. Schwarz auf weiß lesen zu müssen, was diese Frau wirklich über ihn gedacht und dass sie nichts für ihn empfunden hat, muss ihm das Herz in Stücke zerfetzen.

Erschrocken zucken wir alle drei zusammen, als ihm Isobels Tagebuch aus den Händen gleitet und mit einem lauten Knall auf dem Boden aufschlägt.

»Isobel!«, flüstert er. Er hat die Augen geschlossen und rauft sich das Haar.

Sebastian und ich tauschen einen mitleidigen Blick. Da raschelt neben mir Fionas Kleid. Mit entschlossenen Schritten geht sie zu Lord Farnfield hinüber, setzt sich neben ihn auf mein Bett und legt den Arm um seine Schultern.

»Isobel war ein falsches Biest. Schön, schlau und verführerisch, aber auch berechnend, durchtrieben und mit einer Seele so schwarz wie die Nacht. Sie hat dich, mich, uns alle um den Finger gewickelt, gelogen und betrogen«, versucht Fiona ihn zu trösten.

Wortlos beugt sich Lord Farnfield vor, um das Tagebuch aufzuheben.

»Ich schwöre dir, Robert, es war ein grauenhafter furchtbarer Unfall!«, meldet sich Sebastian zu Wort. »Wenn es auch nur den Funken einer Chance gegeben hätte, hätte ich alles versucht, um Isobel zu retten. Hörst du, Robert, alles. Wahrscheinlich hat sie erst bemerkt, dass ihr Zimmer in Flammen stand, als das Feuer ihr schon den Weg abgeschnitten hatte.«

Mit gesenktem Kopf streicht Lord Farnfield über den Ledereinband von Isobels Tagebuch. Doch dann nickt er. Langsam und schicksalsergeben.

»Wie dumm ich war!«, murmelt er nach einer Weile. »Wie unendlich dumm!«

»Was ist denn geschehen? Wie kann es sein, dass Isobel schon tot ist und da draußen auf dem Friedhof begraben liegt? Wo doch auf dem Grabstein der heutige Tag als ihr Todestag eingemeißelt ist? Ich versteh das alles nicht.« Unendlich verwirrt schaue ich vom einen zum anderen.

Sebastian seufzt schwer.

»Da fangen wir wohl am besten ganz am Anfang an«, schlägt Fiona vor, holt tief Luft und erzählt erst stockend, dann immer flüssiger ihren Teil der Geschichte, den Sebastian um seinen ergänzt.