EPILOG

»Das macht dann zweiunddreißig Pfund und fünfundachtzig Pence«, informiert mich der Taxifahrer. Ich kneife die Augen zu und ziehe zischend die Luft durch die Zähne. Laut ausgesprochen, klingt der Betrag noch Furcht einflößender als beim Ablesen. Das Leder seines Sitzes knarzt, als sich der Fahrer mit einem Lächeln zu mir umdreht. »Staunton House. Da beneide ich Sie ja richtig. Werden Sie länger bleiben?«

»Für ein Jahr. Ich werde hier wohnen und bei der Eventorganisation mithelfen.« Ich puste mir eine vorwitzige Haarlocke aus den Augen und überreiche ihm das Geld.

»Das ist schon der Wahnsinn, was Lord Witham so alles auf die Beine stellt, um den alten Kasten mit allem Zipp und Zapp finanziert zu bekommen. Konzerte, Lichtinstallationen, Theateraufführungen, Lesungen, Führungen durch das Herrenhaus. Wie ich gehört habe sogar inklusive Gespenstern. Und demnächst soll dort eine Serie für die BBC gedreht werden. Da werden Sie aber eine Menge zu tun bekommen.«

»Das hoffe ich!« Vor allem der Gedanke an die Dreharbeiten lässt mich grinsen wie ein Honigkuchenpferd. »Vielen Dank und haben Sie noch einen schönen Tag.« Die Handtasche über der Schulter wuchte ich mich, meinen vollgestopften Rucksack und den megaschweren Riesenkoffer auf die Landstraße.

Das eiserne Tor, hinter dem eine asphaltierte Straße so gerade, als wäre sie mit dem Lineal in die Landschaft gezogen worden, den bewaldeten Hügel hinaufführt, steht weit offen. Links und rechts davon verliert sich die von Regen, Sturm, Sonne und Schnee ausgewaschene, beachtlich hohe Mauer in der Unendlichkeit des satten Grüns der Wiesen und Wälder. Ich kann nur vermuten, wie gigantisch groß das dahinterliegende Anwesen sein muss, von dem ich im Moment nur einen kleinen Ausschnitt erhasche. Ich höre, wie das Taxi wendet und mit stotterndem Motor davonfährt.

»Oh, mein Gott, ist das schön hier!« Kaum bin ich durch das Tor getreten, lege ich staunend den Kopf in den Nacken und blinzele gegen das gleißende Sonnenlicht zu den sattgrünen Baumkronen hinauf, die sich wie riesenhafte Beschützer von beiden Seiten dicht an die Zufahrt drängen. Dann bemerke ich die Luft: würzig, klar, ein Hauch von Salz. Mein geliebtes Meer, dessen Nähe mit ein Grund war, warum ich mich für die Anstellung bei den Calvertons entschieden habe, ist nicht weit weg. Ich folge der Allee die kleine Anhöhe hinauf. Wie still es hier ist. Nur die Laute der Vögel und das leise Rauschen der Meeresbrise in den Blättern der Bäume sind zu hören. Aber ich habe jetzt echt keine Zeit, das alles zu bewundern, denn ich bin verdammt spät dran und schließlich will ich nicht gleich an meinem ersten Arbeitstag zu spät kommen. Also rase ich los.

Als ich aus dem Wald trete, verschlägt es mir glatt den Atem. Mir schräg gegenüber thront auf der Kuppe eines Hügels inmitten einer gigantisch großen, top gepflegten Rasenfläche stolz und erhaben das Ziel meiner Reise: Staunton House. House? Echt jetzt? House? Ne, das ist ein Palast! Und was für einer!

»Jackpot!«, kreische ich und reiße die Arme in die Luft, um mit wackelndem Po Emmas und meinen Shake-it-Baby-Freudentanz aufzuführen.

Apropos, Emma! Die glaubt mir doch kein Wort, wenn sie heute Abend beim verabredeten Video-Call zu hören bekommt, dass ihre beste Freundin, Juno Sondorf, also ich, in einem Mega-Jane-Austen-Downton-Abbey-Stately Home bei waschechten Adeligen und hopefully in Gesellschaft eines kettenrasselnden Gespenstes untergekommen ist.

Wie spät ist es eigentlich? Shit! Shit! Shit! Gleich Viertel vor fünf, verrät mir mein Handy. Wenn ich jetzt nicht lossprinte, bin ich schon arbeitslos, bevor ich überhaupt angefangen habe.

Mein Top klebt an meiner Haut. Ich muss ja einen großartigen Anblick bieten! Eilig streiche ich meine langen roten Locken von meinen feuchten Wangen und gebe mir ein paar Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen, bevor ich die Hand nach dem eisernen Klingelzug ausstrecke, der hier neben der Haustür baumelt. Es dauert gar nicht lange, bis sich Schritte nähern und die Tür aufschwingt.

»Miss Sondorf, wir haben Sie schon erwartet!« Wenn ich nicht aufpasse, bekomme ich gleich eine Kiefersperre. Der Typ, der da vor mir im Türrahmen steht, hat nicht nur eine Hammerstimme, sondern er sieht auch noch megacool aus in seiner Jeans und dem weiten weißen Hemd. Um sein linkes Handgelenk trägt er nicht nur eine Taucheruhr, sondern auch mehrere Lederarmbänder und sein schwarzes lockiges Haar reicht ihm bis zum Kinn. Seine nackten Füße stecken in weißen Sneakers. Dorian Gray, muss ich sofort denken. Nur in einer sehr modernen Version. Juno, rufe ich mich zur Ordnung, du bist zum Arbeiten hier und nicht, um dich sofort zu verlieben.

»Ich bin Sebastian Calverton und ein großer Freund vom Duzen.« Seine Stimme fährt mir durch Mark und Bein. Er ist groß. Bestimmt ein Meter neunzig.

»Prima!!« Ich greife nach seiner ausgestreckten Hand. Die Berührung seiner rauen Haut lässt mich erschauern. Auch wenn Mrs Plimpton mir erzählt hat, dass der Earl of Witham nur vier Jahre älter ist als ich, habe ich ihn mir ganz bestimmt nicht so hot vorgestellt. »Juno«, hauche ich und hoffe, dass er das Zittern in meiner Stimme nicht registriert.

»Also, Sebastian, willst du jetzt die Fotos von Robert und mir in Ägypten sehen oder nicht?« Ein Mädchen, das ich ungefähr so alt wie mich schätzen würde, schlendert in einem luftigen Sommerkleid auf uns zu. Ihre Augen sind auf das Handy in ihrer Hand geheftet und trotzdem kann ich ihr kleines Nasenpiercing im Sonnenlicht schimmern sehen.

»Auf jeden Fall, aber vielleicht begrüßt du erst mal unsere neue Mitarbeiterin? Das ist Juno Sondorf. Ich habe dir doch erzählt, dass eine deutsche Abiturientin unser Team verstärken wird.«

Als das Mädchen aufschaut, erkenne ich, wie ähnlich sie ihrem Bruder sieht. Sie ist mir auf Anhieb sympathisch. Vor allem ihr schwarzer Struwwelpeter-Haarschnitt passt zu ihrem freundlich-frechen Blick. »Hi, ich bin Fiona. Cool, dass du da bist. Wir können nämlich dringend fähige Hilfe gebrauchen. Aber worauf wartest du denn? Komm rein. Auspacken kannst du später. Lust auf Tee und Sandwiches?«

»Immer!« Ich könnte sie küssen. Woher weiß sie, dass ich am Verhungern bin?

»Bei der Gelegenheit kannst du auch gleich unsere Gran und unsere derzeitigen Hausgäste kennenlernen.« Sebastian bittet mich mit einer einladenden Geste einzutreten. »Also, herzlich willkommen auf Staunton House! Ich hoffe, du wirst dich bei uns sehr wohlfühlen, Juno!«

Ganz bestimmt werde ich das. Das weiß ich jetzt schon, denke ich, als ich die imposante Halle, mit dem riesigen Tisch in der Mitte betrete und Sebastian hinter mir die Türe schließt.