Auf ihren Reisen steuerten die Vertreter Städte, öfter aber noch Dörfer an.
Dort, genauer gesagt in deren strategischen Zentren, den Hotels, schlugen sie ihr Feldlager auf. Von hier schwärmten sie – schwärmten wir – aus, mit dem Ziel, die angrenzenden Gebiete zu erobern. Wir waren Kolonisatoren und verfolgten die Mission, die Wilden zur Religion der Kramp-Produkte, Parker-Füller und -Kugelschreiber, englischen Duftwässer oder chinesischen Plastikbehälter zu bekehren.
Je mehr solcher jungfräulichen Gebiete es gab, desto besser. Anders gesagt, die dort hausenden Dörfler erlangten einmal pro Monat ihre Jungfräulichkeit schlagartig zurück. Mehr oder weniger zum selben Zeitpunkt trafen die Vertreter zu ihrem nächsten Besuch ein.
An derartigen Expeditionen teilzunehmen war mir im Verlauf meiner zweijährigen Reisetätigkeit jedoch nur vier oder fünf Mal vergönnt, da ich den sich daraus ergebenden Notwendigkeiten nur während der Schulferien gerecht werden konnte, schließlich kann ein achtjähriges Mädchen für gewöhnlich nicht einfach so außer Haus übernachten.
Nicht zur Schule zu gehen – und das immer öfter –, um bei der Heimkehr so zu tun, als wäre nichts gewesen, war dagegen geradezu ein Kinderspiel, war D. doch eines Tages unversehens zu folgender Erkenntnis gelangt: »Komplizierte Probleme erfordern in den meisten Fällen erstaunlich unkomplizierte Lösungen.«
Soll heißen, wir fertigten eine Kopie des Mitteilungsheftes an, in der D. für meine Fehltage unterschrieb. Daneben gab es weiterhin das echte Mitteilungsheft, in dem meine Mutter unterschrieb, wenn es um Elternabende, Museumsbesuche oder Ausflüge zum Bauernhof ging. Je nach Anlass legte ich das entsprechende Heft vor.
»Verwechsle die Hefte bloß nicht!«
»Keine Sorge.«
Obwohl es eigentlich egal gewesen wäre. Es war nahezu ausgeschlossen, dass die Lehrerin einer dreißigköpfigen Klasse bei der Lektüre der dazugehörigen Mitteilungshefte nicht irgendwann die Übersicht verlor. Dazu kam, dass meine Mutter ein sehr schweigsamer Mensch war. Obwohl, wenn ich jetzt darüber nachdenke, war sie eigentlich gar nicht schweigsam. Sie war bloß traurig, und ihre Traurigkeit hinderte sie daran, stets alle Einzelheiten im Blick zu behalten.
Alle Straßen, Dörfer und Städte nahmen ihren je eigenen Platz in meiner Parallelerziehung ein, durch die ich lernte, wie die Dinge funktionieren. Denn auch wenn alles, was mit den Kramp-Produkten zu tun hatte, im Zentrum der mir vermittelten Schöpfungsgeschichte stand, fügte D. ihr, falls mein Wissensdurst danach verlangte, unverzüglich weitere Elemente hinzu.
Zum Beispiel die folgende Veranschaulichung des Verhältnisses von Raum und Zeit.
»Erinnerst du dich noch an die Geschichte von R.?«
»War das der Mann, der sich totgestellt hat?«
»Nein, ich meine den aus der Gemeindeverwaltung, der den gesamten Jahresetat für den Bau einer Flugzeuglandebahn ausgab, auf der dann natürlich nie ein Flugzeug landete.«
»Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Er hatte die Sache von Kind auf geplant. Seine Klassenkameraden haben ausgesagt, dass er in der Schule nichts anderes gemacht hat, als Papierflugzeuge basteln.«
»Genau, den meine ich. Und jetzt überleg mal – wie lange hätten die Leute sich die Geschichte erzählt, wenn sie in einer Stadt passiert wäre?«
»Mehrere Wochen.«
»Und wenn sie in einem Dorf passiert wäre?«
»Mehrere Monate.«
»Und wenn sie in einem kleinen Dorf passiert wäre?«
»Jahrelang.«
»Genau.«
Schweigend fuhren wir weiter, bis ich nach ungefähr einem Kilometer sagte, es gebe noch eine vierte Möglichkeit:
»Wenn sie in einem ganz, ganz, ganz kleinen Dorf passiert wäre, würden sich die Leute R.s Geschichte für immer und ewig erzählen.«
»Wahrscheinlich«, sagte D. und fügte nach einem weiteren halben Kilometer hinzu, für dieses Phänomen habe die Physik noch keine Erklärung gefunden, genauso wenig wie für das Vorhandensein derart kleiner Dörfer.
Außer dem Verhältnis von Raum und Zeit veranschaulichte D. mir die Evolutionstheorie, die Theorie der Ausdehnung des Universums sowie eine Reihe grundlegender Begriffe der Physik und Theologie.
Mein Weltverständnis saugte dies sowie all die Dinge, die ich an den Verkaufstheken der Eisenwarenhandlungen und in den Cafés und Hotels zu hören bekam, auf wie ein Schwamm.
Als ich Jahre später meinen Freunden hiervon erzählte, bemühte ich mich, klarzustellen, dass D. keineswegs »gewissenlos« gehandelt habe – wie meine Großmutter mütterlicherseits es ausdrückte –, im Gegenteil, er war ein Pionier der systemischen Pädagogik.