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D. hatte in einer Zeitschrift gelesen, dass zufriedene Arbeiter angeblich produktiver sind und sich ihrem Unternehmen stärker verbunden fühlen. Deshalb ließen wir die Eisenwarenhandlungen ab und zu Eisenwarenhandlungen sein und steuerten stattdessen

E.s Kino an, das Universitätskino. Allerdings immer nur vormittags, nicht zu den eigentlichen Vorführzeiten (von Montag bis Donnerstag Dauervorstellung ab 16.00 Uhr, mittwochs ermäßigter Eintritt), weshalb das Kino jedes Mal leer war.

Ich glaube, verabredet hatten D. und E. sich dafür nie. Bei unserer Ankunft war E. einfach da. Wir nahmen in der Mitte des Vorführsaals Platz, das Licht ging aus, dann war zunächst das Surren des Projektors zu hören, wenige Sekunden später begann der Film.

Solange ich auf diese Weise für meinen frühzeitigen Einsatz fürs Unternehmen belohnt wurde, bekam ich, soweit ich mich erinnere, die folgenden Filme zu sehen:

The Kid von Charlie Chaplin (zweimal).

Paper Moon (zweimal).

Der rote Ballon (dreimal).

Und einen seltsamen Kurzfilm, einen Trickfilm mit dem Titel Die Sandburg (einmal), von dem ich nie wieder etwas zu sehen oder zu hören bekam. Vielleicht habe ich ihn mir auch nur ausgedacht.

Wie dem auch sei, bei all diesen Filmen weinten wir, wischten uns die Tränen aus dem Gesicht und schnäuzten uns lautstark in die perfekt gebügelten weißen Taschentücher, die D. stets dabei hatte, eins für ihn und eins für mich.

Und ebenso leidenschaftlich, wie wir uns auf die Filme (und das Leben) einließen, forderten wir am Ende Wiederholung, indem wir – ich hatte mir das so einfallen lassen – pfiffen und riefen: »Vorhang zurück!«

Der Satz ergab weder logisch noch grammatikalisch irgendeinen Sinn, doch E. begriff trotzdem, was gemeint war, und ließ den Film noch einmal laufen.

»Aber gerne doch, heutzutage weiß man es zu schätzen, wenn das Publikum so begeistert mitgeht«, sagte er dazu.

Als wir eines Tages aus dem Vorführsaal kamen – gerade hatten wir zum zweiten Mal The Kid gesehen –, entdeckten wir in der Ferne meine Mutter.

Sie stand im Hof der Universität und unterhielt sich ernst und unaufgeregt mit einer Gruppe von Menschen. Ich erkannte sie an ihrer Lederjacke und dem Rucksack mit dem roten Stern.

Was machte meine Mutter dort, meine Mutter, die schon seit Jahren nicht mehr auf die Universität ging?

Worüber sprach sie mit diesen Leuten?

Wer waren diese Leute?

Es war durchaus vorstellbar, dass meine Mutter beziehungsweise die Gestalt dort drüben, die von weitem wie eine meiner Puppen aussah, ihrerseits uns gesehen hatte und der Liste von Fragen noch eine hinzufügte:

Was machten wir hier an einem Tag, an dem D. hätte arbeiten und ich in der Schule sein müssen?

An diesem Punkt konnten wir zwischen drei Möglichkeiten wählen:

1. Der Liste weitere Fragen hinzufügen: Was macht der Mensch auf der Erde? Was ist der Sinn des Lebens?

2. Mit meiner Mutter sprechen und versuchen, mit ihr zusammen eine Antwort zu finden. Durch diese Antwort hätten wir uns jedoch gezwungen gesehen, Einzelheiten über meine Parallelerziehung wie auch über die unbekannten Freunde meiner Mutter auf den Tisch zu legen.

3. Die dritte Möglichkeit bestand darin, einfach alles zu vergessen. Vielleicht war die Frau dort drüben gar nicht meine Mutter, sondern ihr nur sehr, sehr ähnlich, so ähnlich, dass ihr sogar haargenau die gleiche Kleidung gefiel.

Ich bin für die dritte Möglichkeit. Sagte ich, nicht laut, sondern zu mir selbst.

Ich bin für die dritte Möglichkeit. Sagte D., nicht laut, sondern zu sich selbst.

So machen wir’s, verabredeten wir in dem Raum ohne Worte, von dem jede wahre Freundschaft lebt. Schließlich war D. damals nicht nur mein Arbeitgeber, sondern auch ein Freund, der weiß, dass ein gutes Schweigen meistens mehr bringt als ein guter Rat.

Weshalb wir nun mit raschen Schritten den Hof der Universität überquerten, D. mit seinem Vertreterköfferchen und ich mit meinem Arztköfferchen in der Hand.

Als wir wieder in unserem R4 saßen, zündeten wir uns zuerst beide eine Zigarette an. Und zum, wie mir heute scheint, Zeichen der Anerkennung für mein frühzeitiges Verständnis der Eigenarten des menschlichen Wesens brachte D. mir bei, wie man Ringe bläst.

Kleine Ringe, die über der Stadt aufstiegen, sich ausdehnten und irgendwo in der Ferne auflösten.