In S.s Gesellschaft lernte ich, dass sich mit der Eitelkeit gute Geschäfte machen lassen, wie ich durch ihn auch mit den Grundbegriffen der Mehrweltentheorie in Berührung kam. Es gab nämlich ein Paralleluniversum, in dem S. eine andere Frau und einen anderen Sohn besaß, der so alt war wie der Sohn, den S. mit seiner mir bekannten Ehefrau hatte.
Einmal saßen wir gerade in einem Café, als man S. plötzlich ein Telegramm von jemandem an den Tisch brachte, der ihn gut genug kannte, um zu wissen, dass er sich unter dieser Adresse an ihn zu wenden hatte.
»Diese verfluchte Hure«, sagte S. und erklärte mir dann, dass wir an diesem Nachmittag auf dem Weg zu dem Dorf, wo wir eigentlich hinwollten, zwei Zwischenhalte würden einlegen müssen.
Beim ersten handelte es sich um eine Parfümerie, in der wir schon einmal gewesen waren. S. bestand darauf, dass man zunächst eine Rechnung beglich. Erst danach gelangten die Lidschatten, Lippenstifte und die Pomade in ihre jeweiligen Fächer. Bevor wir das Geschäft betraten, hatte S. mich gebeten, meinem Auftritt noch mehr Dramatik als sonst zu verleihen, weshalb ich sogar eine Ohnmacht vortäuschte, als S. seine Schwester, meine angeblich kranke Mutter, erwähnte.
»Wir wissen vor Kummer nicht ein noch aus …«, sagte er, als er mich vom Boden aufhob, um gleich darauf die Geldscheine nachzuzählen.
Den zweiten Zwischenhalt machten wir vor einem Haus. S. steckte sich den Umschlag mit dem Geld, den er in der Parfümerie erhalten hatte, in die Jackentasche.
»Warte hier«, sagte er.
Eine Frau öffnete die Tür, S. ging hinein, und bald darauf erschien an einem der Fenster ein kleiner S.
Wir sahen uns an und winkten uns zu.
Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder hatte S. durch die Tür einen Gang betreten, der in die Vergangenheit führte – in diesem Fall war der Junge, der mich durch das Fenster ansah, S. vor vierzig Jahren –, oder S. hatte außer den Kindern, die ich kannte, weil sie auf meine Schule gingen, noch einen Sohn.
Kurz darauf klopfte eine kleine Hand an die Tür von S.’ Ente, woraufhin die andere kleine Hand mir ein Glas Saft entgegenhielt.
Nachdem ich das leere Glas wieder zurückgegeben hatte, beugte sich der Junge durchs Fenster und umarmte mich.
Während der Umarmung tat ich, als wäre ich die Schwester, die der Kleine nie kennengelernt hatte. Ich tat so, der Kleine tat so, und S. tat auch so – die Welt war ein lächerliches Theater.
Ich sah ihm hinterher, wie er ins Haus zurückkehrte, und mir wurde klar, dass es manchmal besser ist, wenn man die Dinge einfach auf sich beruhen lässt. Deshalb sagte ich auch kein Wort, als S. wenig später türenknallend das Haus verließ und ins Auto stieg, während die Tür noch einmal aufging und ihm aus dem Inneren eine Blumenvase hinterherflog.
Mein Schweigen war so vielsagend, dass S. an der nächsten Tankstelle nicht bloß den Tank der Ente füllen ließ, sondern auch ausstieg und ein Eis für mich kaufte.
Ich beschloss, das, was ich gerade miterlebt hatte, auf das Gebiet der »Dinge, die ich mir vielleicht bloß eingebildet habe« zu verbannen. Da ich jedoch nicht unendlich lange weiterschweigen konnte, fing ich an, von einem Rätselspiel zu erzählen, das ich im Mathematikunterricht gelernt hatte und das mir jetzt die perfekte Möglichkeit bot, zu reden, ohne etwas zu sagen.
»Nimm irgendeine Zahl zwischen eins und neun und multipliziere sie mit neun.«
»Gut.«
»Bilde jetzt die Quersumme, zieh fünf davon ab und überlege dann, welcher Buchstabe im ABC dieser Zahl entspricht.«
»Wie?« S. war ungeduldig, aber aus Angst, ich könnte wieder verstummen, riss er sich zusammen und machte weiter mit.
»Eins entspricht A, zwei B, drei C und so weiter.«
»Verstehe.«
»Hast du den Buchstaben?«
»Ja.«
»Jetzt such ein Land, das mit diesem Buchstaben anfängt.«
»O. K.«
»Und jetzt ein Tier, das mit dem zweiten Buchstaben dieses Landes anfängt.«
»Geht das noch lange so?«
»Fertig. Hast du das Tier?«
»Ja.«
»Aber in Deutschland gibt es keine Elefanten.«
»Wie bist du denn darauf gekommen, verdammt?«
Egal welche Zahl zwischen eins und neun man mit neun multipliziert, die Quersumme ist immer neun. Neun minus fünf ist unweigerlich vier, und der vierte Buchstabe des Alphabets ist das D. Neunundneunzig Prozent aller Menschen, die dieses Rätselspiel gemacht haben, haben sich bei D für Deutschland entschieden, und siebenundneunzig Prozent haben bei E einen Elefanten gewählt. Die mögliche Fehlerquote war also denkbar niedrig.
Was ich S. aber nicht sagte. Stattdessen sagte ich: »Das habe ich erraten.«
»Wenn du so gut raten kannst, dann sag doch mal, ob wir in der Parfümerie, die wir gerade ansteuern, ordentlich was an den Mann bringen werden.«
»Werden wir nicht.«
»Wenn das so ist, sind wir für heute fertig«, sagte S. und wendete mitten auf der Straße.
»Und jetzt schlagen wir uns die Bäuche voll«, rief er und gab Gas.
Beim nächsten Café hielten wir an, stiegen aus und bestellten zwei Tassen Kaffee, eine normale (für mich) und eine halbe (für S.).
Den Rest füllte S. mit Whisky aus einer kleinen Flasche auf, die er stets in der Jackentasche bei sich trug. Die Kellner kannten diese Angewohnheit – S. suchte schon seit zwanzig Jahren dieselben Cafés auf – und hatten es aufgegeben, ihm deshalb Vorhaltungen zu machen. Wie ich im Lauf der Zeit beobachten konnte, überlegten es sich nicht nur die alten Vertreter, sondern die Kellner gleichermaßen, welche Kämpfe sie ausfochten und welchen sie lieber auswichen.
»Kleiner Ausgleich für die Ungerechtigkeit der Welt, verstehst du, M.?«
»Verstehe.«
Um diese nicht gerade alltägliche Seelenverwandtschaft zu feiern, bestellten wir zu unserem Kaffee vier Karamell-Buttercreme-Törtchen. Als wir gerade aufgegessen hatten, erschien D., um mich abzuholen.