Genau einen Monat nach unserem Telefonat erwartete D. mich am Bahnsteig.
Statt uns zu umarmen, klopften wir uns gegenseitig auf den Rücken wie alte Schulkameraden.
Derselbe Anzug.
Dasselbe Köfferchen.
Den R4 gab es allerdings nicht mehr.
Weshalb wir mit dem Bus zu D.s neuem Zuhause fuhren, einer winzigen, sehr aufgeräumten Dachwohnung. Alles war so ordentlich, dass ich das Gefühl hatte, mich im Inneren einer Uhr zu befinden. Einer Uhr, die sich jedoch nicht im Uhrzeigersinn drehte. Während D. hier den Begrüßungskaffee zubereitete, kam er mir vor wie jemand, der von der Zeit gewissermaßen ausgeklammert worden war.
In dieser Zeitblase fühlte ich mich so wohl, dass ich schon bald anfing, meine Sachen auf seinem Schreibtisch auszubreiten und das Sofa auszumessen, um herauszufinden, ob es groß genug für meinen Körper einer Vierzehnjährigen war.
»Nur eine Woche«, sagte D.
»Ich habe Geld für einen ganzen Monat, und wenn ich hier auf dem Sofa schlafe, kann ich die Hotelkosten sparen.«
»Zwei Wochen, und keinen Tag mehr.«
»Dann schlafe ich im Bett und du auf dem Sofa.«
Während der nächsten Tage versuchten wir, unsere frühere Lebensweise wiederaufzunehmen.
Da uns kein R4 mehr zur Verfügung stand, nahmen wir den Bus oder den Zug. Als wir einmal, umgeben von anderen Reisenden, an einem Bahnhof standen und warteten, fiel mir plötzlich auf, dass etwas an uns seltsam war.
Die übertrieben blank geputzten Schuhe, die früher eine Art Glaubensbekenntnis dargestellt hatten – sie kündeten von der Möglichkeit, dass auch wir eines Tages auf dem Mond umherspazieren würden –, schienen mir plötzlich nur noch dem Zweck zu dienen, von unserer abgetragenen Kleidung abzulenken. Was auch für das neue T-Shirt und das Halstuch galt, die ich eigens zu diesem Anlass angezogen hatte.
Es gab zwei Möglichkeiten:
1. Die Armut war uns schon immer anzusehen gewesen, ich hatte es bloß nicht bemerkt.
2. Etwas hatte sich verändert.
Wie auch immer, auf einmal ging ein Riss durch meine Kindheitserinnerungen. Krack. Und ich fing an, den Großen Zimmermann zu hassen, aber nicht wegen der Wirklichkeit, sondern wegen dieser Offenbarung, die mich auf unangenehme und mir bis dahin unbekannte Weise mit Scham erfüllte. Die Blicke der anderen – wussten sie Bescheid? Ahnten sie, wie knapp wir bei Kasse waren?
Zum ersten Mal nahm ich die Menschen um mich herum genau wahr, und sie kamen mir riesengroß vor.
Beziehungsweise, wie sich mir beim Nachdenken über diesen so unvorteilhaften Größenunterschied in einer weiteren Offenbarung enthüllte, waren D. und ich dabei, zu verschwinden.
Die Reisenden um uns herum warteten, verabschiedeten sich voneinander oder machten sich auf den Weg zu ihren parkenden Autos.
D. und ich dagegen standen reglos da und verloren zunächst alle Farben, dann zerflossen unsere Umrisse. Zuletzt verwandelten wir uns in Rauchringe, die in den Himmel über der Stadt aufstiegen und sich auflösten.
Zurück auf dem Bahnsteig blieben D.s Köfferchen und mein Rucksack.
Jahre vergingen, Jahrhunderte. Der Ort blieb derselbe, aber ringsherum veränderte sich alles – wo früher der Bahnhof und die Stadt gewesen waren, gab es jetzt bloß noch eine öde Ansammlung von Containern.
Nur das Köfferchen und der Rucksack standen immer noch da, von den anderen mit Papiergirlanden bekränzt.
Uns beide gab es schon lange nicht mehr, doch anders als ich gedacht hatte, tat das Verschwinden kein bisschen weh.
Man löst sich in Rauch auf. Und was die Künftigen mit dem Rest anstellen, bleibt ganz ihnen überlassen.
Ich hatte einen der Mechanismen unseres Daseins begriffen. Und wäre noch weiter gelangt, hätte D. mich in diesem Augenblick nicht darauf hingewiesen, dass unser Zug eingetroffen war.
Zwei Stunden später hatten wir unser Ziel erreicht.
Zuerst steuerten wir das örtliche Café an. Irgendwelche anderen Vertreter waren dort nicht zu sehen, niemand kam auf uns zu und begrüßte uns, weshalb wir uns umgehend auf den Weg zur nächstgelegenen Eisenwarenhandlung machten.
Diese neue Einsamkeit begleitete uns auch an den folgenden Tagen und sorgte dafür, dass das Bild von der Containerwüste zurückkehrte und mich aus dem Inneren der vor mir stehenden Kaffeetassen anstarrte. Ich rührte mit dem Löffel um und ließ es verschwinden.