Trost nach einer schweren Zeit

Hiltrud Bröder, Jahrgang 1935, Koblenz

Als junge Frau bin ich 1958 zu meinem Mann ins Rheinland gezogen, 400 Kilometer von meiner Heimat entfernt. Auch die Eltern meines Mannes wohnten in diesem Ort. Da seine Mutter sich gern um uns kümmerte, schenkte sie mir zum ersten Weihnachtsfest einen Neukirchener Kalender. Ich fühlte mich bevormundet und wollte mir nicht vorschreiben lassen, was ich lese, und wollte nicht das tun, was von mir erwartet wurde. Also legte ich den Kalender zur Seite und las ihn nicht. Ich hatte aber auch keine Ahnung, was es mit dem Kalender eigentlich auf sich hatte.

1959 wurde unser erster Sohn geboren, ein Jahr später kam der zweite.

Als meine Söhne sechs und sieben Jahre alt waren, hatten sie ein Rädchen zu Weihnachten geschenkt bekommen, mit dem sie immer abwechselnd fahren durften. Ich sagte ihnen, dass sie nur an der Oberstraße fahren und kein Gässchen nehmen durften, da diese alle auf die Bundesstraße führten. Als der jüngere Sohn dran war, machte er es aber trotzdem und fuhr mit seinem Rad in einen Lastwagen rein.

Als ich an diesem Tag vom Einkaufen zurückkomme, sehe ich viele Leute dort stehen und gucken und frage sie: „Was ist denn da passiert?“ Da sagt eine Frau zu mir: „Ein kleiner Junge ist überfahren worden. Ich glaube, die Leute wohnen hier“, und zeigt auf unser Haus. Bald rief mich ein Polizist an und sagte, dass mein Junge im Krankenhaus sei. „Ja lebt er denn noch?“ fragte ich. Er hat nicht darauf geantwortet. Da war der Kleine schon tot.

Daraufhin wurde ich sehr nervenkrank. Mindestens ein Jahr lang war ich mit Gott böse. „Was du mir angetan hast!“ habe ich zu ihm gesagt. Inzwischen weiß ich längst, dass man auch mit ihm schimpfen darf, er hat uns ja trotzdem lieb und nimmt uns das nicht übel. Ich war so was von traurig.

Mein Arzt riet mir nach einer Weile, für ein Vierteljahr in eine Klinik zu gehen. Das war ein evangelisches, christliches Haus, in dem ich gut aufgehoben war. Ich erfuhr durch viele Begegnungen und durch die Schwestern, die Diakonissen waren, und die Ärzte, die morgens nach dem Frühstück Andachten hielten, von Gott und seinem Sohn Jesus Christus. Das war eine wunderbare Erfahrung. Schon am Tag meiner Ankunft ging eine junge Schwester mit mir im Park spazieren. Sie machte mir den Glauben und auch den Neukirchener Kalender schmackhaft. Glaube war bei mir schon immer da gewesen, ich habe auch mit den Kindern abends gebetet. Aber ich hatte mich noch nicht näher damit befasst, er war noch nicht so tiefgründig. Für mich war das in der Klinik alles ein neues Erlebnis, ich besuchte jeden Morgen die Andacht und jeden Abend den Gottesdienst in der kleinen Kirche. Auch das Gespräch mit einem Seelsorger half mir sehr, mit dem ich über meine Schuldgefühle wegen des Todes meines Jungen sprechen konnte.

Als ich die Klinik verließ, fühlte ich mich so frei und froh und habe gedacht: „Da musst du dranbleiben“.

Leserfoto_Hiltrud_Broeder.tif

Hiltrud Bröder

Als ich nach Hause kam, besuchten mich mir bekannte Frauen und luden mich zu Frauenbibelabenden ein. Später gründete ich einen Hauskreis. Inzwischen lese ich seit über 30 Jahren den Neukirchener Kalender. Schon öfters habe ich Bücher gekauft, die auf den Blättern angegeben sind. Bei uns um die Ecke ist ein kleiner Buchladen, bei dem kann ich alles bestellen. Ich bin nun auch schon lange Mitglied im Freundeskreis des Neukirchener Erziehungsvereins.

Ich bin so froh, dass ich Gott und Jesus gefunden habe und dass sie auf mich aufpassen. Und dass ich so schöne Dinge lesen kann, die im Kalender stehen – das macht mich richtig froh und frei!

division.jpg

1971 schreibt Helene Richter, geboren im September 1886 in Berlin, einen Brief, mit dem sie am Ende ihres Lebens Danke sagen will für alles, was sie durch den Kalender bekommen hat. Der Brief ist in Sütterlin geschrieben, bereits in einer wackeligen Handschrift verfasst.

Gestatten Sie mir bitte, dass ich mich mit ein paar Worten an Sie wende und Ihre Zeit ein wenig in Anspruch nehme. Es ist ein Segensbrief, der Ausklang eines langen Lebens auf dem schmalen Wege; und ich bitte Sie, hochverehrter Herr Leiter des Neukirchener Abreißkalenders, den von mir mit größter Hochachtung geschätzten Mitarbeitern diesen meinen letzten Segensgruß zu übermitteln!

Es wäre der größte Undank meines Lebens, aus der Welt zu scheiden, ohne mich für die seelsorgerlichen Dienste zu bedanken, die mir diese treuen Brüder in Christo erwiesen haben in beinahe 70 Jahren. Nun möchte ich mich aber erstmal vorstellen. Helene Richter, geb. 20.9.1886 in Berlin, ich stamme aus einer uralten Berliner Familie, bin ledig geblieben und habe mir meine Rente als Pelz-Näherin selbst verdient.

Mein seliger Vater war im Männerverein der Stadtmission. Wir waren fünf Geschwister, zwei Brüder, drei Schwestern. Nach dem Tode meines tiefgläubigen Vaters traten alle vier Geschwister aus der Kirche aus. Aber jedes Jahr zum Weihnachtsfest erhielt jeder einen Neukirchener Abreißkalender von mir, und wie ein Wunder: Den haben sie alle gelesen und zuletzt sogar gefordert und sie sind alle im Frieden mit Gott heimgegangen! Eine Sonntagsschullehrerin der Stadtmission brachte meinen Eltern den Kalender ins Haus. Ich war damals neun Jahre, das weiß ich heut noch! Das ist nun über 70 Jahre her! Welch eine Kraft hat mir dieser Kalender gegeben – und gibt sie mir noch bis zu dieser Stunde! Der Herr redet täglich dadurch zu mir!!“

Eine große Verbundenheit schildern viele Leser nicht nur mit dem Kalender, sondern durch ihn auch mit dem Neukirchener Erziehungsverein, auf dessen diakonische Arbeit sie aufmerksam gemacht werden. Dieser leistet vor allem und von Anfang an Kinder- und Jugendhilfe und wurde inzwischen um den Behinderten- und Altenpflegeverbund erweitert. Das tägliche Lesen des Kalenders führt in einigen Fällen zu einer solch großen Verbundenheit mit dem Erziehungsverein, dass Kalenderleser ihren Nachlass dem Verein vererben. Mathias Türpitz, seit 2006 Verwaltungsdirektor und kaufmännischer Leiter des Neukirchener Erziehungsvereins, sagt: „Wenn sich jemand dazu entschließt, nehmen wir das nicht selbstverständlich in Empfang, sondern stehen mit großer Ehrfurcht davor.“ Fast immer kommen diese Spenden von Menschen, zu denen es zu deren Lebzeiten keine Verbindung gab; schließlich seien die meisten der Leserinnen und Leser unbekannt, ergänzt Fricke-Hein. Er erinnert sich an eine Zustiftung zur Neukirchener Jugendhilfestiftung von zwei Schwestern von über 600 000 Euro.

„Der Kalender war wie eine Brücke zu vielen Menschen“, berichtet Inge Keidel, die zu ihrer Zeit immer wieder mitbekam, dass Leser ihre Nachlässe dem Erziehungsverein vererbten. Besonders eindrücklich wurde dies, wenn sie mit dem damaligen Geschäftsführer in Wohnungen ging, um sie aufzulösen, was manchmal vorkam, wenn die Verstorbenen keine direkten Verwandten mehr hatten. „Immer wieder haben wir dann Kalender gefunden, oder Kalenderblätter, und haben gesehen, dass Menschen da vieles angestrichen hatten. Da haben wir gemerkt: die lebten wirklich mit dem Kalender.“ Bei Jochen Böckler, Wirtschafts- und Verwaltungsleiter des Erziehungsvereins von 1976 bis 2006, erweckten so manche Hausbesuche anlässlich eines Erbfalls den Eindruck „als hätten die Leute das regelrecht aufgesogen, was sie da gelesen haben! Das hat mich berührt“, erzählt er. Anhand der Aufschriebe und Notizen auf unzähligen Kalenderblättern hätten sie festgestellt, wie intensiv die Menschen sich mit dem Inhalt auseinandersetzten. „Manchmal sah man regelrecht: da hatte die Person einen richtig schweren Tag.“ Einige Male hätten sich Menschen das Werk zeigen lassen. Danach fassten sie Vertrauen und entschlossen sich, ihren Nachlass vom Erziehungsverein regeln zu lassen.

Häufig kommt es nicht vor, dass ein Leser oder eine Leserin den Erziehungsverein zum Erben einsetzt. In manchen Fällen sei auch nicht bekannt, ob die Verbindung über den Kalender entsteht, sagt Mathias Türpitz. „Plötzlich beschäftigt man sich mit einer bisher völlig unbekannten Person, und so hat es jedes Mal das Wissen um einen Menschen mit sich gebracht.“ Inge Keidel ergänzt: „Es hat uns beeindruckt, in solchen Fällen zu sehen, wie die Leute mit dem Kalender lebten. Es war ja so, dass wir die Menschen erst kennen lernten, nachdem sie gestorben waren.“

Manche Schicksale von Kalenderlesern seien ihr noch lange nachgegangen.

Der heutige Redakteur, Theologe Ralf Marschner, ist immer wieder erstaunt über den persönlichen Bezug, den viele Leser zum Kalender haben, der sich vor allem in den Zuschriften zeigt. „Jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens eine Form, seinen Glauben zu leben, und ich denke, dass für viele Leser das Lesen des Neukirchener Kalenders einfach dazu gehört.“

Auch heute melden sich Leser noch mit seelsorgerlichen Anliegen, erzählt Ralf Marschner. Doch die Wirkung des Kalenders auf seine Leser, die müsse er beim Arbeiten ausblenden, sagt er: „Das wäre sonst ein Riesendruck für mich. Ich gebe das an Gott ab und denke: Das Eigentliche, was mit dem Kalender passieren soll, das habe ich nicht in der Hand. Ich mache meine Arbeit so gut und gewissenhaft, wie es möglich ist. Aber dass Leser von Gott angesprochen werden, gestärkt oder getröstet werden, das kann man nicht machen. Das ist einzig und allein Gottes Sache.“