Damals im Hause Giesen

Hans Wilhelm Cremmer, Jahrgang 1936, Neukirchen-Vluyn

Die Familien Giesen und Jochums gehörten zu den alten Kaufmanns-Familien in Neukirchen-Vluyn, die sowohl in der Kirche als auch im Erziehungsverein engagiert waren. Der Neukirchener Kalender gehörte zur täglichen Lektüre und wurde meist mittags nach dem Essen gelesen. Sophie Giesen, eine geborene Jochums, hatte früh ihren Mann, den Bäckermeister Johann Giesen, verloren. Eine Rente bekam sie nicht, und ihr Erbe fiel der Inflation 1923 zum Opfer. Ihre älteste Tochter Gertrud, die gerne Lehrerin geworden wäre, konnte das Gymnasium nicht bis zum Abitur absolvieren, um dann ein Studium aufzunehmen, sondern musste die Schule mit der Mittleren Reife verlassen. Damals kostete der Besuch der Höheren Schule noch Schulgeld, und das fehlte im Hause Giesen. Um ihre Familie über Wasser zu halten, haben Sophie und Gertrud Giesen vor und während des Krieges sogenannte „Kostgänger“ in Vollpension aufgenommen. Nach dem Krieg ab 1946 beherbergte das Haus Giesen bis zu sechs Schüler aus dem Umfeld, zum Beispiel aus Essen, Düsseldorf, Heiligenhaus, Rheydt, Krefeld und anderen Städten. Die Schüler wohnten im Haus auf der Lindenstraße, gingen in Neukirchen-Vluyn zur Schule und machten ihre Schulaufgaben unter der strengen Aufsicht von meiner Tante Gertrud Giesen. Sie erhielten Vollpension, vieles konnte dafür aus dem großen Garten geerntet werden. In den Ferien oder auch mal am Wochenende fuhren sie nach Hause. Dass man bei Giesens seine Schulaufgaben machen konnte und auch Rechenaufgaben und Diktate trainiert wurden, hatte sich schnell herumgesprochen. Nachmittags kamen noch weitere Schüler, meist aus Neukirchen-Vluyn und der näheren Umgebung, dazu, um bei Giesens zu Mittag zu essen und Schularbeiten zu machen, und auch ich kam gerne nach der Schule zu Oma und Tante, manches Mal zum Essen, vor allem aber zur Erledigung der Hausaufgaben. Sowohl bei uns zu Hause als auch bei Giesens wurde vor dem Essen ein Tischgebet gesprochen, nach dem Essen der Neukirchener Kalender gelesen und wieder ein Dankgebet gesprochen. Wir waren mittags bei Giesens oft bis zu 20 Kinder. Diese zu bändigen, ging nur unter Einhaltung äußerster Disziplin. Beim gemeinsamen Essen hieß es zum Beispiel: Wenn Erwachsene sich unterhalten, haben Kinder zu schweigen. Wenn diese trotzdem lustig drauflos plauderten, gab es zunächst eine mündliche Verwarnung von Gertrud Giesen. Wenn sie die Verwarnung ignorierten und sich weiter unterhielten, dann sagte meine Tante nur: „Seite eins“. Seite eins bedeutete, dass sie die erste Seite des Neukirchener Kalenders nach dem Essen abzuschreiben hatten, während die anderen Jungen zum Fußballspielen nach draußen gehen konnten. Wurde nach der Ermahnung und der Aufgabenstellung weiter geredet, hieß es: „Seite eins und zwei“, also einmal komplett abschreiben, die Vorder- und Rückseite des Neukirchener Kalenders.

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Hans W. Cremmer

Das Abschreiben von Texten war zur damaligen Zeit zwar eine Strafe – die anderen Schüler konnten ihre Freizeit genießen –, aber man lernte auch daraus. Zu meiner Schulzeit wurde wesentlich mehr auswendig gelernt. Nicht nur Gedichte in der Schule, sondern Kirchenlieder, die Fragen und Antworten des Heidelberger Katechismus und Bibelverse, vor allem ganze Psalmen. Damals hat es manche von uns geärgert. Doch heute können viele von den ehemaligen Giesen-Schülern beim Kirchgang auf das Gesangbuch verzichten. Sie erinnern sich an das Auswendiglernen bei Giesens. Viele, die abschreiben mussten, waren zwar nicht davon begeistert, doch das Lesen des Neukirchener Kalenders wurde ihnen nicht verleidet.

Das Alumnat hat meine Tante noch bis Anfang der 70er Jahre geführt, und es gibt eine große Zahl von Neukirchen-Vluyner Bürgern, die sich auch heute noch an die Schularbeiten bei Gertrud Giesen erinnern.

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