Gertrud Prietz, Jahrgang 1917, Halle (Saale)
Ich bin in Hohenleuben im Kreis Greiz in Thüringen in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen. Dort ging ich in die Sonntagsschule der Methodisten. Zu Hause hatten wir den Neukirchener Kalender, meine Mutter hat immer daraus vorgelesen. Und ich erinnere mich, dass ein Prediger regelmäßig in das Haus einer Frau in unserem Ort kam, um Bibelstunden zu halten. Auch dort waren wir dabei.
Meine Eltern hatten damals eine Bekannte, die immer Neukirchener Kalender bestellt hat, die ich dann an interessierte Familien für eine Reichsmark verkauft habe. Das war Ende der 20er Jahre, ich war so zehn, zwölf Jahre alt. Außerdem habe ich die christliche Zeitschrift „Nimm und Lies“ verteilt. Wenn ich dafür einen oder zwei Groschen mehr bekam, habe ich mich königlich gefreut! Denn es war ja die arbeitslose Zeit. An den Kalendern habe ich nichts verdient, aber ich habe es gerne gemacht.
Gertrud Prietz
mit zwölf Jahren
Später, als wir finsterste DDR waren, gab es den Kalender nicht und wir haben auf allen Touren versucht, ihn zu kriegen. Die, die nach'm Westen fuhren, brachten welche mit, ich selber auch ein paar Jahre. In Lauffen am Neckar wohnte eine Bekannte. Beim Amt habe ich sie immer zur Kusine meiner Mutter gemacht. Da musste ich bloß aufpassen, dass ich nicht rot wurde, wenn sie fragten, ob das auch stimmt mit der Verwandtschaft. Wenn ich dann mit Kalendern von Lauffen zurück fuhr, musste ich aufpassen, dass sie mir nicht an der Grenze weggenommen wurden.
Gertrud Prietz
Ja, das habe ich schon als finstere Zeit erlebt. Denn wir mussten uns ja in Acht nehmen, was wir sagen! Ich suchte zum Beispiel mal einen Scheuerlappen. Da bin ich zur Drogerie gefahren – aber sie hatten keine mehr. Da hab ich gesagt: „Dabei dachte ich, es gibt hier genug Lumpen!“ Verstehen Sie die Pointe? Das war politisch gemeint! Da sagt der Besitzer, der Ärmste: „Darauf steig ich nicht ein.“ Ein andermal war ich auf der Post, das war die Zeit, zu der wir keine Post bekommen haben, es gab aber besondere Pakete, die doch in den Westen verschickt wurden. Da fuhr mir raus: „Ach, in der Form darf man nach’m Westen?“ Da hab ich großes Glück gehabt – denn da hätte ich dran sein können. Nur so hintenrum haben wir uns verstanden. Das muss man erlebt haben, das kann man gar nicht so schildern. Was haben wir uns innerlich gefreut, als dann der 17. Juni da war und die Genossen alle bedrückt waren. Wir haben innerlich frohlockt!
Der Kalender hat mich mein ganzes Leben lang, bis jetzt ins hohe Alter, begleitet. Dafür bin ich heute noch dankbar. Wenn ich länger verreist bin oder ins Krankenhaus musste, habe ich ihn immer mitgenommen. Ich brauche ihn für das tägliche Leben wie das tägliche Brot. Ich halte damit meine Andacht. Bis heute kaufe und verschenke ich ihn. Damals, als ich ihn als Kind in den 20er Jahren verkauft habe, hat er eine Reichsmark gekostet. Heute kostet er fast zehn Euro! Ja, die Zeiten haben sich geändert.