6. Das „Sister-Anna-Prinzip“: Von der Schwierigkeit, eine Kalenderandacht zu schreiben

Eine Andacht „schnell herunterschreiben“ kann wohl kaum jemand der rund 180 Autorinnen und Autoren. „Es ist sehr mühsam!“, sagt auch Manfred Jülicher, der bereits seit 1966 mitschreibt, „Ich lasse die Andacht immer liegen und warte, ob mir noch etwas Besseres einfällt.“ Herausfordernd sei es, den vorgegebenen Vers auszulegen und dabei den ganzen Abschnitt im Auge zu behalten. „Machen Sie das mal! Das ist nicht einfach.“ Man müsse sich auf einen Punkt konzentrieren, der aber nicht bloß ein Aufhänger sein dürfe. „Zunächst versuche ich, ohne Rücksicht auf die Länge zu schreiben. In einem zweiten Schritt sehe ich dann, wie ich es konzentrieren kann. Meistens bleibt der Text noch etwas zu lang, jemand von außen kann ihn besser zurechttrimmen.“ Jülichers Anliegen ist es, den Leser im Glauben zu stärken und zu trösten. Wichtig ist ihm, dass der Leser wieder auf den Text „zurückgeworfen wird“, denn es werde so viel geredet, ohne zu wissen, was in der Bibel wirklich steht. Streitthemen zwischen den Konfessionen und Denominationen müssen vermieden werden, da der Kalender zwischen Landes- und Freikirche, landeskirchlicher und pietistischer Frömmigkeit balanciere, außerdem seit einigen Jahren auch viele katholische Leser anspreche und einige katholische Autoren habe. „Die Andachten sollen ja immer zum Text hinführen“, sagt Jülicher.

Für Hans-Wilhelm Fricke-Hein ist das Schwierigste „das Sich-Hinsetzen“. Manchmal schiebe er die Andachten lange vor sich her und schreibe dann gleich mehrere an einem Wochenende. „Reizvoll finde ich daran, einen Gedanken auf eine bestimmte Zeichenzahl zu bringen und mich dabei kurz und deutlich zu fassen.“ Den Feinschliff an den Zeilen vergleicht er mit der Arbeit eines Bildhauers, der mit einem Meißel alles Überflüssige weghaut. Im Idealfall ist das Ergebnis etwas Schönes, das zum Lesen anreizt. „Wenn ich einmal dran sitze, dann schreibe ich für mein Leben gern Kalenderblätter.“

„Mit dem Kalender habe ich gelernt, auch schwierige Sachen in einer schlichten, einfachen Sprache darzustellen“ resümiert der Basler Pfarrer Roger Rohner, Autor für den Kalender und ehemals Schweizer Herausgeber. Theologen stünden in der Gefahr, „aufgeblasen“ zu schreiben, zu kompliziert oder zu lange Sätze – „und da hat der Kalenderredakteur sich jedes Satzes angenommen und geschaut, ob man ihn in einer größeren Schlichtheit formulieren kann.“ Das Ergebnis habe ihn oft positiv erstaunt. Viele Autoren fänden die zweite Seite herausfordernder als die erste, die eigentliche Bibelauslegung, so Rohner. Hier solle es darum gehen zu zeigen, dass die Geschichtsschreibung Gottes weitergehe. Als besonders glaubwürdig empfinde er die Geschichten, die davon erzählen, wo Glaube erlebt und auch erlitten wurde. „Gerade in der Postmoderne sind solche Geschichten entscheidend, denn das Leben wird mehr von seiner Erfahrung her gedeutet“, meint er. Im Regal seines Pfarrbüros finden sich Bücher zu neuen Gemeindebewegungen, zur sogenannten „Emerging Church“, Kirche in der Postmoderne. Er ist davon überzeugt, dass die Frage, ob etwas wahr ist oder nicht, weniger im Vordergrund stehe als die Frage, ob der Leser eine beschriebene Erfahrung für sich fruchtbar machen könne: Sie werde in der heutigen Zeit ein wichtiger Zugangsweg und entscheide über die Glaubwürdigkeit.

Für Rudolf Weth ist jede Kalenderandacht so etwas wie „ein kleines Kunstwerk, das wohl für jeden Autor die Herausforderung zu größtmöglicher Konzentration darstellt.“ In der Auslegung den springenden theologischen Punkt der Tageslese – aus einem einzelnen, vorgegebenen Vers – zu treffen und ihn anschaulich, zupackend und auf knappstem Raum darzulegen, das sei eine hohe Kunst. „Aber erst, wenn es gelingt, dazu auch die passende Rückseite zu finden und zu formulieren, wird daraus eine stimmige Sache“, so Weth. Er bewundere bei seiner Frau, wie sehr ihr das gelinge (s.u.). „Doch ich weiß aus fast 40-jähriger gemeinsamer Kalendererfahrung, dass auch sie dazu einen langen Anlauf braucht.“

Kalenderschreiben bereite ihm große innere Freude. Aber er schiebe seine Andachten meist einige Zeit vor sich her, bis ihm ein überzeugender Einfall für die Rückseite komme. „Und dann hab ich in der Regel noch ein Problem: Ich muss kürzen, kürzen, kürzen, aber oft sind es doch noch zwei oder drei Zeilen zu viel. Dann gebe ich auf und überlasse den Rest dem Kalenderredakteur, der mein größtes Vertrauen hat und hervorragend die Kunst des letzten Schliffs beherrscht.“

Als Beispiel für ein solch gelungenes Kunstwerk seien hier die Andacht und die Rückseiten-Geschichte vom 5. September 1999 wiedergegeben, die Irmgard Weth verfasst und mit dem Titel „Erzählt es euren Kindern!“ überschrieben hat: