Das Evangelium nach Lukas

Dies ist die Geschichte von Lukas, einem kleinen Jungen unserer Stadt. Von dem Evangelisten Lukas, seinem großen Namensvorbild, hat er noch nie gehört. Was ein Evangelium ist, weiß er nicht. Seine Eltern haben ihm nie davon erzählt. Aber eines Tages entdeckt der Junge auf einem Kirchturm ein Kreuz. Er fragt seine Erzieherin: Was ist das? Staunend lauscht er, als sie erzählt: von Jesus, der in die Welt kam, um den Menschen Gottes Liebe zu bringen, und von seinem Tod am Kreuz. Diese Geschichte lässt Lukas keine Ruhe. Eines Tages setzt er sich, gerade erst acht Jahre alt, an den Computer und schreibt sein eigenes Evangelium. Ganze drei Sätze umfasst die „Frohe Botschaft“, die da auf dem Bildschirm erscheint. Aber in ihr ist das ganze Evangelium erfasst: „Eines Tages sagte Gott: Ich fahr nach Bethlehem. Da geh ich die armen Leute beschützen. Wegen die Römer. Da geh ich dazwischen. Und dann sagte Gott: Nagelt mich ans Kreuz und lasst die Leute leben!“ Was für eine Botschaft: Wenn wir schweigen, dann redet Gott durch unsere Kinder zu uns: Hört, ihr Leute! Leben sollt ihr – und erzählen, was Gott an euch getan hat.

Heinz-Walter Siering, der von 1980 bis 2004 Redakteur des Kalenders war, hat sich damals in die bis dahin entstandenen Rückseiten aus fast 100 Jahren eingelesen und sich ein gründliches Urteil über Sinn und Zweck derselben gebildet. „Diese typischen Kalendergeschichten: Ein Mann ist dem Alkohol verfallen, stürzt die Familie ins Unglück, bekehrt sich und nun ist alles wunderbar, diese knalligen Geschichten, in denen immer große Sachen passieren, die wollte ich nicht“, sagt er. Vielmehr haben ihn „Gottes Spuren im Alltag“ interessiert. Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Christsein, „die aber ganz normal sind und einem täglich widerfahren können!“ Er ist überzeugt, dass es genügend solcher Geschichten gibt, schließlich bestehe das Leben doch aus Geschichten, antwortete er Autoren, die ihm schrieben, ihnen falle keine passende ein.

Das bestätigt auch der heutige Kalenderredakteur Ralf Marschner. Einen Text zu formulieren, der die aktuelle Bibellese erschließt, und zwar so, dass klar wird: Gott spricht – zum Leser, zur Leserin, das schon ist eine hohe Kunst. Konzentration auf das Wesentliche ist erforderlich für so einen kurzen Text, wie es die Bibelauslegung auf der Vorderseite ist. Es gehe um die Entdeckung des Mutmachenden, das Gott jeden Tag zuspricht, ohne dabei die Ecken und Kanten biblischer Texte zu verschweigen. Aber die „Rückseite“, der zweite Text, sei, so Marschner, noch einmal eine ganz besondere Herausforderung. Die Vielfalt ist denkbar groß: Einprägsame persönliche Erlebnisse natürlich, aber auch Beobachtungen von scheinbar Alltäglichem, Erfahrungen aus der Missionsgeschichte, Begegnungen mit dem Denkhorizont anderer Religionen oder die Verkündigung bekannter Persönlichkeiten wie Martin Luther, Johannes Calvin, Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther King können zum Schlüssel für einen Bibeltext werden. Die lebendige Aktualität des biblischen Wortes werde so noch einmal ganz anders bewusst. Bei wiederholten oder unzutreffenden Beispielen muss der Redakteur tätig werden und seine ganze Kreativität einsetzen. „Das ist eine herrliche Aufgabe. Ich mache das sehr gern! Es ist manchmal ganz unglaublich, auf was man dabei stößt“, meint Ralf Marschner. „Ich hätte nur gern etwas mehr Zeit“, sagt er und verweist auf seine beiden anderen Kalenderbaustellen (den Konstanzer Kalender „momento“ und den Neukirchener Bibelspruchkalender). Die Wände der Kalenderredaktion sind gefüllt mit einer Bibliothek hilfreicher Bücher. Seine Sammlung markanter Begebenheiten und natürlich das Internet stehen ihm dafür aber auch zur Verfügung.

Es ist heimelig im Hause Jülicher, viele Pflanzen schmücken die Räume. Sympathisch wirkt er, der Pfarrer im Ruhestand, der 1963 nach Neukirchen-Vluyn kam und in einem seiner Gottesdienste von dem damaligen Redakteur Karmel Kohler als Autor „entdeckt“ wurde. Er habe sich schon geehrt gefühlt, da er den Kalender bereits seit seiner Kindheit kannte. „Inzwischen schreibe ich schon seit über 40 Jahren mit, bin deshalb aber nicht der Apostel Paulus“, schmunzelt er. 1968 wurde er dann eingeladen, an den heute legendär gewordenen Redaktionsrunden teilzunehmen: Ab Ende Oktober trafen sich der Redakteur, seine Sekretärin, der Herausgeber sowie drei, vier weitere Beisitzer, um jede einzelne Andacht für den übernächsten Kalender laut vorzulesen, darüber zu diskutieren und in den meisten Fällen Veränderungen vorzunehmen. „Welch ein umfangreicher Prozess!“, staunt Jülicher heute im Rückblick, denn viele Sitzungen waren nötig, um den ganzen Kalender gründlich gemeinsam durchzuarbeiten. Die Andachten wurden tatsächlich zunächst allesamt abgetippt, und zwar mit fünf Durchschlägen! Dann wurde gemeinsam gelesen und gegebenenfalls Korrekturen angebracht, und schließlich mussten die so redigierten Texte erneut und endgültig getippt werden für die Druckerei. Computer gab es damals noch keine. „Vertippen war eine Katastrophe!“

Rudolf Weth erinnert sich bei den Sitzungen an das „Sister-Anna-Prinzip“, das Pastor Hans Kirchhoff eingeführt hatte: Was würde die Diakonisse und treue Kalenderleserin Schwester Anna dazu sagen? Würde sie die Andacht verstehen? Traf die Rückseite ihren Erfahrungshorizont? Würde die Botschaft der Kalenderandacht sie trösten und ermutigen können? Am Adressaten und seiner Wertschätzung mussten sich konkret Verständlichkeit, Anschaulichkeit und Einfühlungsvermögen einer Andacht messen lassen. So gab es oft spannende Diskussionen, ob eine Andacht diese Kriterien erfüllte oder noch einmal zu überarbeiten war. Aber meist zeigte sich, dass Karmel Kohler, ein begnadeter und hoch sensibler Redakteur, dem längst Rechnung getragen hatte und mit seiner Einschätzung und Empfehlung richtig lag. Persönlich habe Weth die Runden als bereichernd erlebt, erzählt er: „Das war so eine Art Heiligtum, in das man ging und wo man auf einer ganz anderen Wellenlänge miteinander redete – das war sehr erfreulich!“ Und auch Manfred Jülicher schätzte es, über theologische Fragen ins Gespräch zu kommen, was ihm für seine Predigttätigkeit viel gebracht habe. Es wurden Fragen des christlich-jüdischen Dialogs diskutiert, Fragen des Zeitgeists, der konfessionellen Ausrichtung, oder die Frage, wie viel Platz politische Zusammenhänge haben sollten. „Karl Barth sagte, man müsse die Bibel in der einen und die Zeitung in der anderen Hand haben und beide zusammen bringen“, sagt Rudolf Weth. „Doch aktuelle Tageszeitungsmeldungen konnten wir ja nicht bringen, da der Kalender erst zwei Jahre nach den Redaktionsrunden erschien.“ Dennoch sei immer der Anspruch gewesen, aktuell diskutierte Themen im Kalender aufzugreifen.

Als Heinz-Walter Siering 1980 Kalenderredakteur wurde, hat er die Redaktionsrunden bald darauf wegen des sehr hohen zeitlichen Aufwandes aufgelöst.