Unterbrochene Andacht

Wolfgang Kopplin, Jahrgang 1935, Plettenberg

Meine unvergessene Anekdote spielt in den ersten Jahren der Nachkriegszeit. Als Flüchtlingskind und nun auf dem Dorf lebender Unterstufenschüler des Städtischen Gymnasiums galt ich als Außenseiter der Klasse. Deshalb war ich besonders dankbar für das Freundschaftsangebot von Johannes, einem Pfarrerssohn. Er lud mich manchmal, wenn es Nachmittagsveranstaltungen in der Schule gab, zum Mittagessen ins Pfarrhaus ein. Und dort, am Mittagstisch des gestrengen Pfarrerehepaars, habe ich erstmals den Brauch des Andachtlesens nach der Mahlzeit aus dem Neukirchener Abreißkalender erlebt. Ich fand dieses Ritual weihevoll und wunderbar, glaubte aber, so etwas sei den Pfarrern und ihren Angehörigen vorbehalten. Zur Pfarrfamilie gehörte außer dem auf mich etwas düster wirkenden Ehepaar und meinem Freund Johannes noch eine stille, etwas ältere Schwester und ein junger, schwarz-grau gefleckter Hund, der sich für mich weniger interessierte als ich mich für ihn, weil er lieber mit den Pfarrerskindern spielte.

Die Pfarrfamilie zog dann aus unserer Stadt am Rande des Ruhrpotts nach Siegen. Ich war sehr traurig und wir schrieben uns oft. Handy und PC gab es ja noch nicht und ein teures Telefon hatten wir nicht. Bald beschloss ich, mit dem alten Fahrrad, das unsere Familie angeschafft hatte, quer durchs Land nach Siegen zu radeln und meinen Freund zu besuchen. Meine Eltern erlaubten mir die abenteuerlich weite Fahrt ohne Geleit trotz meiner Jugend, und ab ging die Post.

Die einsame und lange Reise verlief ohne Zwischenfälle. Bei meiner Ankunft begrüßte mich Johannes sehr herzlich, seine Eltern ernst, aber freundlich. Der Hund klopfte mit dem Schwanz an den Türrahmen, bellte aber nicht einmal zu meiner Begrüßung.

Am nächsten Tag gab es beim Mittagstisch nach der Mahlzeit wieder die Andacht mit der Lesung aus dem Neukirchener Kalender, auf die ich mich insgeheim schon gefreut hatte. Der gestrenge Herr Pfarrer holte das Kalenderblatt aus der Brusttasche seiner schwarzen Jacke, schob den Teller ein wenig beiseite, setzte die Brille auf und begann zu lesen. Plötzlich ertönte aus der Wohnzimmerecke, in der der Hund eben noch zusammengerollt gelegen hatte, zuerst das kratzende Geräusch eines aufspringenden Hundes und dann sein lautes Bellen.

Der Herr Pfarrer unterbrach seine Lesung, schaute finster in die Wohnzimmerecke, worauf das Tier sofort still war, und setzte dann mit unbewegter Miene seine Lesung fort. Nach wenigen Sätzen erscholl das Bellen aufs Neue und ging in ein lautes Heulen über. Der Pfarrer wandte langsam den Kopf zur Seite und sagte ruhig, kühl und laut: „Schweig, Stimme Satans!“ Worauf der Hund augenblicklich bis zum Ende der Andacht schwieg.

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Wolfgang Kopplin

Dieses eigentlich winzige Erlebnis habe ich nie vergessen. Für den Rest des Tages war ich damals teils erschrocken, teils belustigt, auch ein wenig verärgert. Der arme Hund – die Stimme Satans? Und so laut, sinnlos und klagend soll sich der Teufel äußern? Der Name Gottes und der Name Satans in gleichem Atem aus pfarrherrlichem Mund?

Zugegeben, worum es damals in der Tagesandacht des Neukirchener Kalenders ging, weiß ich nicht mehr. Aber immer, wenn später bei den Andachten meiner Familie die Haustürglocke, das Telefonklingeln oder irgendein anderes, störendes Geräusch dazwischentönte, musste ich an das strenge Wort des Herrn Pfarrer damals denken. Und so geht es mir bis heute.

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