Einige der Leserinnen und Leser haben noch Erinnerungen an das erste Viertel des 20. Jahrhunderts. Diese Zeitzeugen staunen, was sich alles verändert hat – nicht nur der Preis eines Kalenders von einer Reichsmark auf knapp zehn Euro. Auch sonst hat sich seit dem ersten Jahrgang 1890 und dem 125., der 2013 für das Jahr 2014 erscheint, einiges weiterentwickelt. Dennoch ist der Neukirchener Kalender sich in vielem treu geblieben und achtet stets auf eine beständige Linie, was ihm viele langjährige Leser danken, die jede Einzelheit aufmerksam verfolgen. Veränderungen müssen behutsam durchgeführt werden, sagt Hans-Wilhelm Fricke-Hein, „denn wir haben gemerkt, dass so ein Kalender ein bisschen wie ein Möbelstück ist: Der gehört für viele zur Einrichtung einer Küche oder eines Wohnzimmers. Wenn wir zu viel verändern, bringen wir manche Leser durcheinander.“ Andreas Böckler, der lange im Versand der Buchhandlung arbeitete, erinnert sich an eine zusätzliche Ausgabe 1995, die eine kleinere, kompaktere Rückwand hatte, mit der die Kalender einfacher verschickt werden konnten. Dieses Format sparte vor allem bei Auslandssendungen viel Porto ein. Eine Falzung ermöglichte das Herumdrehen der Rückwand, sodass diese beim Aufhängen sichtbar wurde. Auch viele deutsche Kunden fanden das neue Format interessant und bestellten es. Doch im Januar habe es eine „riesige Reklamationswelle“ gegeben: In vielen Küchen oder Schlafzimmern hing nun der Kalender an der gewohnten Stelle, doch da die Rückwand schmaler war, sah man den Abdruck früherer Kalender auf der Tapete. Daraufhin druckte der Kalenderverlag viele zusätzliche Rückwände der geläufigen Größe nach.
Die Veränderungen im Layout sind gemessen am „Alter“ des Kalenders minimal, doch 2006 wurden mehrere auf einmal durchgeführt, was zu einigen Irritationen führte. Eine Frau habe gar geschrieben: „Mein lieber Neukirchener Kalender, wie hast du dich verändert? Ich erkenn dich überhaupt nicht mehr!“ Zudem wurde im selben Jahrgang der Abreißkalender „auf den Kopf gestellt“, erzählt Ralf Marschner. Die Überlegung war, es den Lesern zu ermöglichen, die Rückseite zu lesen, ohne das Blatt abreißen zu müssen, damit den Rest des Tages noch das richtige Datum zu sehen war. Dafür musste die Rückseite um 180 Grad gedreht gedruckt werden. Doch da viele Leserinnen und Leser einzelne Blätter lange aufheben, teilweise sogar Jahrzehnte lang, und sie dann wie ein Buch blättern können möchten, war das „eine zu große Zumutung“, die für das Jahr 2007 wieder rückgängig gemacht wurde; Hans-Wilhelm Fricke-Hein erinnert sich an eine „Flut von Leserbriefen“. Es sei also schon ein Spagat, eine Balance zwischen Tradition und Fortschritt, schließlich wolle der Kalender bei aller Verlässlichkeit auch mit den Lesern durch die Zeit gehen. Seine Beständigkeit trotz kleinerer Änderungen lobt ein Leser in einem Dankesbrief wie folgt: „Es ist schön, dass an Form und Inhalt nie zu Lasten einer Einzelheit experimentiert wurde, obwohl man nie Nostalgie befürchten muss.“
„Als ich kam, war der Neukirchener von der Autorenschaft her eigentlich ein Männerkalender“, erzählt Rudolf Weth. Als seine Frau Irmgard Anfang der 70er Jahre anfing, für den Kalender zu schreiben, habe es „erbitterte Antworten“ gegeben, erinnert sie sich: „Wie kann es sich der Kalender erlauben, eine Frau schreiben zu lassen!“ Nach und nach seien immer mehr Frauen dazugekommen, doch dies sei nicht im „Hauruck-Verfahren“ geschehen, schließlich mussten zuerst entsprechende Autorinnen gefunden werden. Hierbei habe das Anfang der 80er Jahre aufkommende „Frühstückstreffen für Frauen“ geholfen, bei dem in Deutschland, Österreich und der Schweiz viele Frauen zu verschiedensten Themen referieren.
Es kamen auch immer mehr Laien dazu, was bewusst gefördert wurde. Inzwischen besteht rund ein Drittel der Autorenschaft aus Nicht-Theologen, was Ralf Marschner begrüßt. Zudem freut er sich immer über junge Menschen, die mitschreiben möchten, die sich in der Bibel gut auskennen, gut schreiben und lebendig erzählen können.
Was sich freilich von Jahr zu Jahr äußerlich verändert, ist die Rückwand respektive das Cover. Dabei bleiben manche Bilder einzelnen Leserinnen und Lesern noch lange im Gedächtnis. 2011 schreibt ein Leser: „Ich bin 1940 geboren und kann mich erinnern, dass über unserer Schlafzimmertüre die Rückwand eines Kalenders hing mit dem Bild des guten Hirten, später eines mit den Emmaus-Jüngern. Vielleicht war das der erste Kalender, den unsere verwitwete Mutter nach dem Krieg kaufen konnte.“
Christa Gimmler aus Coswig hat bis heute zwei Rückwände lebhaft vor Augen, obwohl diese vor so langer Zeit, 1932 und 1934, abgedruckt waren. Aufheben konnte sie sie nicht, „wir hatten so eine kleine Wohnung, Stube, Küche, Bad“, erzählt sie. Doch die Bilder haben sich eingeprägt. Das erste zeigt Abraham mit seinem Sohn Isaak. „Die Augen! In den Himmel gerichtet: Herr, du wirst uns das Opferlamm schenken. Isaak hat auf seinem Rücken Hölzer und guckt so fragend zu seinem Vater: ‚Wo ist das Opferlamm?‘ und der sagt: ‚Gott wird uns ein Lamm schenken.‘“ Diese Rückwand sei so ergreifend gewesen, dass sie ihr bis heute noch gut in Erinnerung ist: „Ich war ja erst fünf Jahre alt, aber sie ist mir unvergesslich geblieben.“ Es sei wohl vor allem die Geschichte gewesen, die sie schon als Kind kannte und bewegend fand, „es war ja der erste Sohn, den er von der Sarah hatte, sein eigener Sohn! Und dann soll er ihn opfern. Und dieser Blick! Das sind Dinge, die wirklich wunderbar sind, die einen wirklich begleiten.“
Das zweite Bild, 1934 auf der Kalenderrückwand, zeigt eine aufgeschlagene Bibel und eine Kerze. „Da war ich in der Schule, und der Lehrer sagte, wir sollten eine Kalenderwand abmalen.“ Dies hätten ebensogut Kalender mit Naturzeichnungen oder anderem sein können. Zuhause in der Küche hing der Neukirchener Kalender, und Christa Gimmlers Mutter schlug vor, dass sie dieses Bild wählte. „Ich weiß noch, wie sie sagte: ‚Das malste, das ist doch fein!‘“, erinnert sie sich, und klingt dabei ganz jung.
Die größte Umstellung für treue Leser ist es, wenn der Stil der Bilder sich sehr verändert oder nach mehreren Jahren der Künstler wechselt. Einige schreiben, dass sie viele Jahre bei ihrer „Lieblings-Rückwand“ bleiben und nur den Abreißblock austauschen, einzelne Leser gestalten sich gar selbst eine eigene. Von 1986 bis 2008 kamen die Bilder von Andreas Felger. Nicht nur der Wechsel nach der Felger-Zeit provozierte Reaktionen, sondern auch damals die Entscheidung für ihn, da sich viele an gegenständliche Bilder gewöhnt hatten. „Die Leser wünschten sich verständliche Bilder, etwas, was sie erkennen können, zum Beispiel eine Szene wie ‚Jesus segnet die Kinder‘“, sagt Heinz-Walter Siering, der damals als Redakteur die Rückwandbilder auswählte. Nachdem er auf seiner Suche nach biblischen Motiven auf Künstler wie Vincent van Gogh oder Duccio di Buoninsegna gestoßen war und verschiedene Bilder klassischer Malerei für den Kalender ausgewählt hatte, „gefiel mir das irgendwann alles nicht mehr. Ich wollte nicht mehr mit alten Bildern kommen, um die Botschaft ins Heute hinein zu sagen. Ich wollte eine Kongruenz: Bilder aus unserer Jetzt-Zeit und Auslegungen aus unserer Jetzt-Zeit.“ Er suchte einen Künstler, der das Erscheinungsbild des Kalenders für mehrere Jahre prägen würde, damit es nicht mit jedem Jahrgang eine zu starke Veränderung im Erscheinungsbild gebe. Siering hatte von Felger gehört und besuchte ihn daraufhin in der Jesus-Bruderschaft Gnadenthal, wo er damals lebte, „und seine Art der Kunst, des Malens und des theologischen Denkens gefiel mir, wir beide verstanden uns gut.“ Sechs Holzschnitte in Folge, im Jahr darauf ein Ausschnitt aus einem Bildteppich und danach Aquarell-Bilder von Andreas Felger prägten fortan die Gestaltung des Neukirchener Kalenders. Für beide Seiten war das eine gute Partnerschaft, hatte der Künstler doch dadurch eine Verbreitung in hunderttausendfacher Auflage und der Kalender einen immer bekannter werdenden Künstler. „Doch wir waren darin immer unterschiedlicher Meinung,“ sagt Heinz-Walter Siering schmunzelnd, „ich meinte, das täte ihm doch ganz gut, bei unserer großen Auflage, und er meinte, er sei doch ein so großer Künstler, dass er dem Kalender gut täte!“
Nach über 20 Jahren war es wieder einmal Zeit für einen Wechsel, und der heutige Redakteur Ralf Marschner fand durch einen Wettbewerb in Uschi Theiß aus Uslar eine passende Künstlerin. Rund zwanzig Personen stimmten ab, welches Bild sie für geeignet hielten. An dem Entwurf von Theiß überzeugten die Aussagekraft und die Klarheit der Farben, außerdem die Verbindung des Bildes mit der Jahreslosung. Seit 2009 gibt sie dem Kalender mit ihren eigens dafür gestalteten farbenfrohen Gemälden ein ansprechendes Gesicht. Für jeden Jahrgang gestaltet sie mehrere Entwürfe, aus denen die Herausgeber Ralf Marschner und Hans-Wilhelm Fricke-Hein mit Hilfe eines Beirats das Rückwandbild auswählen. Auch bei den Leserinnen und Lesern findet der neue Stil Anklang: Bei der Befragung im Kalender 2011 gaben über 3000 und somit die große Mehrheit der Leser an, dass ihnen das Rückwandbild gefällt, einer hielt als Bemerkung fest, die Rückwandbilder mögen bitte weiterhin farbenfroh gestaltet werden. Für den Jahrgang 2014 hat die Künstlerin Christel Holl aus Rastatt die Rückwand gestaltet.
Eine weitere, weniger augenscheinliche äußerliche Entwicklung des Neukirchener Kalenders ist, dass es immer mehr verschiedene Ausführungen gibt. Immer wieder wurden neue Ausgaben getestet, die manchmal auch wieder eingestellt wurden. Seit der ersten Ausgabe, die 1889 für das folgende Jahr auf den Markt kam, gibt es sowohl eine Abreiß- als auch eine Buchausgabe. Seit jeher am beliebtesten ist der Abreißkalender, der vielen Lesenden immer noch als die „klassische“ Ausgabe gilt, die schon bei den Eltern in der Küche oder der guten Stube hing. Hinzugekommen sind Buchausgaben mit flexiblem Einband, eine kleine Pocket-Ausgabe auf Dünndruckpapier und der Kalender in großer Schrift, sowohl zum Abreißen als auch mit festem Einband. Im Andachtsbuch des Neukirchener Kalenders „Gottes Wort für jeden Tag“ finden die Leser zusätzlich zu den Texten des Kalenders Einführungen in die biblischen Bücher der Bibellese sowie Farbfotos und Meditationen zu den Monatssprüchen. Drei Jahrgänge hintereinander gab es eine Ausgabe mit Schreibrand, die sich jedoch nicht durchsetzte und wieder eingestellt wurde. Seit einigen Jahren erscheint der Kalender auch als CD-Rom, und das jüngste „Baby“ der Familie ist seit 2012 eine Neukirchener-Kalender-App für den mobilen Leser. Hans-Wilhelm Fricke-Hein hofft, dass gerade technikaffine Männer so einen Zugang zum Kalender bekommen, schließlich sei nicht für jeden die Version des Abreißkalenders die passende. Natürlich müsse auch der Inhalt mitwachsen und zeitgemäß bleiben, sagt Mathias Türpitz, um weiterhin auch neue Interessenten zu gewinnen. Fricke-Hein wünscht sich, dass der Kalender weiterhin viele Menschen mit dem einen wesentlichen Gedanken für den Tag erreicht, wofür der Kalender immer auch Menschen braucht, die ihn verbreiten, zum Beispiel über mobile Büchertische, und Menschen, die von ihm erzählen und ihn verschenken. „Und ich wünsche mir, dass junge Leute nicht nur sagen: Den Neukirchener kenne ich, der hing immer bei meiner Oma an der Wand!“, sondern sich auch selbst von seinem Inhalt ansprechen lassen. Ganz egal, ob er an der Wand hängt, in Buchform auf dem Nachttisch liegt oder als App auf Smartphone oder Tablet immer mobil dabei ist.