Andrea Margraf, Jahrgang 1969, Neukirchen-Vluyn
Ich habe das große Glück, eine wirklich glückliche Kindheit gehabt zu haben. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich ein inniges Verhältnis zu meinen Großeltern hatte. Meine vier Großeltern habe ich sehr geliebt. Doch zu Oma und Opa mütterlicherseits bestand seit jeher eine besondere Beziehung. Ich war ihr erstes Enkelkind, und schon als kleines Mädchen war ich sehr oft bei ihnen. Im Nachhinein betrachtet muss es an ihrem ganz eigenen Zauber gelegen haben, dass ich so viele Erinnerungen an sie habe. Ihr Zauber war nicht materiell. Er war besonders. Und daher schwer erklärbar.
Sie lasen mir vor, als ich selbst noch nicht lesen konnte. Durch sie entdeckte ich die Liebe zum Lesen. Mein Großvater machte Spaziergänge mit mir zum Rhein. Er lehrte mich, essbare Pilze von ihren giftigen Artgenossen zu unterscheiden. Großmutter packte immer Proviant für uns ein. Äpfel, Birnen, Kohlrabi, Radieschen, Pflaumen oder Möhren. Köstlichkeiten, die der Garten jahreszeitlich hergab.
Ein Geschehnis aus der vergangenen Zeit ist mir auch heute noch sehr bewusst. „Der Deutsche Herbst 1977“. Es ist gleichzeitig untrennbar mit einem Bibelspruch verbunden, den mein Großvater damals äußerte. Es war die Woche vom 15. bis zum 22. Oktober 1977, meine Herbstferien verbrachte ich bei den Großeltern. Es war ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, doch so wie alles andere trat auch das durch die sich überschlagenden Ereignisse jäh in den Hintergrund. Jeden Abend saßen alle gebannt vor dem Fernseher, wenn Karlheinz Köpcke sagte: „Guten Abend, meine Damen und Herren, hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.” Mit meinen acht Jahren wusste ich, dass Hanns Martin Schleyer bereits im September entführt worden war. Mit dem Wort „Arbeitgeberpräsident” konnte ich nichts anfangen. Doch die schlimmen Bilder und die Flugzeugentführung der „Landshut“ machten anscheinend nicht nur mir große Angst.
„Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!”, sagte mein Großvater in diesem Zusammenhang. Das klang beruhigend. Wie tröstlich, dass Gott für uns da ist, wenn wir schwach und hilflos sind! Nach diesen Herbstferien ist mir der Vers aus dem 2. Brief an die Korinther in Erinnerung geblieben.
Meine Großeltern besaßen den Neukirchener Kalender. Er hing in der kleinen Küche über dem winzigen Esstisch. Jeden Morgen holte mein Großvater die von ihm so geliebte Zeitung aus dem Briefkasten, doch bevor er sie in Augenschein nahm, noch bevor wir frühstückten, riss er das Kalenderblatt ab und las es laut vor, den Vers für den Tag und die Geschichte dazu. Es wurde dann sehr still in dieser kleinen Küche und ich lauschte. Er las so andächtig. Ich genoss dieses Ritual sehr. Es hat sich mir sehr eingeprägt. Als mein Großvater 1980 starb, führte meine Großmutter diese Tradition weiter. Mir war jedes Mal, als säße er mit am Tisch.
Nach dem Abitur machte ich meine Ausbildung in der Nähe von Aachen. Für die Wegstrecke benutzte ich überwiegend die A 57. Dort gibt es eine Ausfahrt: „Moers-Hüsdonk/Neukirchen-Vluyn”. An einem Morgen fiel mir diese Ortschaft ein, als meine Großmutter wieder ein Kalenderblatt abriss. „Von dort kommt der Neukirchener Kalender!“, sagte sie. Hiernach kam ich nicht umhin zu lächeln, jedes Mal, wenn ich an eben dieser Ausfahrt vorbeifuhr.
1992 lernte ich meinen Mann kennen und 1993 zogen wir nach Neukirchen-Vluyn. Dieser Ort ließ sich damals wunderbar mit unser beider Arbeitsstellen vereinbaren.
Meine Großmutter lebte noch bis 1997. Sie hat ihre Urenkelin und auch Neukirchen-Vluyn noch kennengelernt, bevor sie geistig rege ganz plötzlich in ihrem Sessel an einem Sonntagnachmittag mit 92 Jahren verstarb.
Ich lebe immer noch in Neukirchen-Vluyn. Pilze kaufe ich heute auf dem Wochenmarkt. Genau so wie Äpfel, Birnen, Kohlrabi, Radieschen, Pflaumen oder Möhren. All das Obst und Gemüse, was gerade jahreszeitlich aktuell ist. Vieles ist inzwischen längst Geschichte, vieles hat sich verändert. Umso schöner ist es dann, wenn man weiß, dass etwas Bestand hat. Und seien es nur Erinnerungen, auf die man glücklich zurückblickt. Manchmal brauchen Erinnerungen nur einen Anstoß und Vergessenes erwacht zum Leben. Im Nachhinein betrachtet finde ich es schon besonders, dass das Leben mich an den Ursprungsort des Kalenders, der mich ein halbes Leben lang begleitet hat, führte und mich hier hat glücklich werden lassen.
Die Jahreslosung des Neukirchener Kalenders für 2012 lautet: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!” In Anbetracht der heutigen Entwicklung ebenfalls passend. Ich bin mir sicher, mein Großvater würde mir jetzt zustimmen.