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Marokkanische Minze
Cem Udur hätte den Tee Laden niemals freiwillig betreten.
Er trank schon seit Jahren keinen Tee mehr.
Ein heftiges Gewitter zwang ihn jetzt dazu, Schutz in dem kleinen Laden zu suchen. Die Besitzerin, eine zierliche, ältere Dame, die ihre langen grauen Haare, mit einem bunten Tuch, zu einem losen Zopf zusammengebunden hatte, schaute ihn interessiert an.
Sie kannte den auffallend großen, breitschultrigen Südländer. Er ging fast täglich an ihrem Geschäft vorbei, kam aber nie herein.
Cem blieb an der Tür stehen und starrte in den Regen.
Er wollte so schnell wie möglich wieder gehen. Die Düfte die ihm hier entgegen wehten, riefen böse Geister aus seiner Vergangenheit wach.
Er hatte seit damals keine einzige Tasse Tee mehr getrunken. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich auf seinem Rücken aus. Cem wollte weg, aber Blitz und Donner zwangen
ihn zu bleiben.
Nach einigen Minuten neben der Tür, in denen das Gewitter eher noch zunahm, sah er sich in dem kleinen Laden um.
Es gab eine Verkaufstheke, vor einer Wand voll großer, bunter Dosen und bedruckter hölzerner Teekisten, Regale mit Kannen, Tassen, kleinen Metalldosen und allerlei Dekorationen.
In einem angeschlossenen Wintergarten, den man von der Straße aus nicht sehen konnte, standen vier kleine Tische mit Stühlen. Fast alle Plätzte waren besetzt. Die Atmosphäre war entspannt und gemütlich. Ruhige, Instrumentalmusik drang aus unsichtbaren Lautsprechern. Der Regen plätscherte über die Glasscheiben.
Cem ließ seine Blicke schweifen. Er war ein aufmerksamer Beobachter, dem nur selten ein Detail entging. Das musste er bei seiner Arbeit am Flughafen auch sein. Er erkannte das Muster des Kleides, der alten Dame. Es war aus Indien aber schon ein wenig abgetragen. Das Geschirr auf den Tischen, war bunt gemischt, wie das Publikum. Teures und billiges Porzellan, Metallkannen aus Blech und Silber, große und kleine Tassen, Tässchen und Gläser. Es gab braunen und weißen Zucker, Sahne, Zitrone, Kandis oder Honig. Offensichtlich
wurde hier viel Wert darauf gelegt, dass jeder Tee originalgetreu getrunken werden konnte.
Cem war mit Tee jeder Art und Sorte aufgewachsen. Es war der Geruch seiner Kindheit und Jugend, der ihn hier umwehte und hätte sein Vater, die Schachtel damals nicht aufgemacht, hätte dieser Teeladen in der Altstadt von Freising ein wunderschöner, heimeliger Ort sein können. So aber war es ein Stachel in der tiefen Wunde in seinem Herzen, die nicht heilen wollte.
Cem wollte keinen Tee kaufen.
Er fing den Blick des Mannes auf, der allein am hintersten Tischchen saß. Blonde kurze Haare, blaue Augen, gebräunte Haut, möglicherweise ein wenig jünger als er selbst. Der Mann ließ seine Zeitung sinken und deutete ein Nicken und ein Lächeln an. Cem nahm sich zusammen. Darin war er meisterhaft.
„Ist hier noch frei?“
„Sicher, bitte.“
„Vielen Dank.“
Der Blonde schob seine Zeitung und seine Tasse ein wenig zur Seite, um Cem Platz zu machen. Der setzte sich und warf einen kurzen Blick auf
sein Gegenüber. Ein sympathisches, männliches Gesicht, scharf geschnittenes Kinn, schöne Nase, schneeweiße Zähne. Der Blonde bemühte sich freundlich um ein Gespräch:
„Ich komme oft hierher. Ist gemütlich um nach der Arbeit eine Pause zu machen. Früher habe ich nur Ostfriesentee getrunken, aber jetzt probiere ich immer mal was Neues. Frau Huber hat alles was man sich vorstellen kann.“ „Mhm.“
Cem wollte sich nicht unterhalten. Er wollte auch keinen Tee trinken. Er starrte angespannt auf die Speisekarte in seiner Hand, ohne sie zu lesen. Frau Huber kam mit einem kleinen Tablett und räumte das leere Geschirr seines Tischnachbarn ab. Dann kam sie zurück und fragte mit einer sympathischen, warmen Stimme:
„Was darf ich ihnen bringen?“
Nichts!!!!
hätte Cem am liebsten geschrien aber er war sehr höflich und sehr kontrolliert und fragte:
„Haben sie marokkanische Minze?“
„Selbstverständlich.“
„Dann nehme ich ein Glas, bitte.“
„Gern.“
Sie verschwand und Cem schaute aus dem großen Fenster des Wintergartens, ohne den geschmackvoll bepflanzten Innenhof und die
blühenden Oleander in den weißen Holzkübeln wirklich wahrzunehmen, obwohl die Szene selbst jetzt, bei strömendem Regen, Schönheit und Stil ausstrahlte. Er spürte auch nicht, wie intensiv sein Gegenüber ihn beobachtete. Sah nicht die Blicke, die ihn von oben bis unten taxierten.
Seine Gedanken gingen auf eine unangenehme Reise in die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, von der er gehofft hatte, sie hinter sich gelassen zu haben. Was eine Illusion war.
Was er wirklich getan hatte, war flüchten, sich selbst belügen und alle seelischen Qualen in eine mentale Kiste stopfen und den Deckel zuzunageln um irgendwie weiter leben zu können. Es funktionierte, manchmal monatelang ganz gut. Aber dann kamen die Träume zurück oder die Schuldgefühle. Immer unerwünscht und unerwartet. So wie heute.
Cem war Deutscher, auch wenn seine Eltern türkischer Herkunft waren. Sie besaßen eine Teehandlung in Essen. Cem war der Älteste von drei Geschwistern, einer Schwester und zwei Brüdern. Seine Familie war muslimischen Glaubens, ohne ihn jedoch explizit zu praktizieren. Die Mutter war die Einzige, die
manchmal die Moschee besuchte. Der Vater war sehr stolz auf Cem gewesen, als er das Abiturzeugnis überreicht bekam und auch als seine Ausbildung beim Zoll erfolgreich abgeschlossen war. Sicherlich wünschten sich die Eltern eine Nachfolge für den Laden, aber sie freuten sich trotzdem mit Cem und zeigten offen Ihren Stolz auf den ältesten Sohn.
Dann kam der unselige Tag, an dem er nach Düsseldorf in ein kleines Appartement umziehen wollte, um in der Nähe seiner Arbeit am Flughafen sein zu können.
Aber auch um sich der Kontrolle des Familienverbandes ein wenig zu entziehen. Er war der Erste, der die Familie verließ und seine Mutter sah es nicht gern.
Sie hatte die ganze Großfamilie mit Tanten, Onkeln, Nichten und Neffen zu einem großen Abschiedsessen eingeladen. Cem hatte sie ausgelacht und gesagt, dass er doch nur nach Düsseldorf umziehen würde, nicht nach Australien!
Am Abend desselben Tages hat er sich nichts sehnlicher gewünscht als
das!
Er erwachte im Krankenhaus. Ein Beatmungsschlauch steckte in seiner Luftröhre und sein Körper war ein einziger Schmerz. Er erinnerte sich nicht genau daran, wie er in das Krankenbett gekommen war, aber er erinnerte sich an das Gesicht seines Vaters, als er ihm beim Umzug, mit der Pappschachtel entgegen kam, in der Cem einige Filme mit eindeutigem Inhalt verpackt hatte. Warum nur, hatte der Vater hinein gesehen? Warum nur hatte er selbst sie nicht zugeklebt?! Schlimm genug, wenn es Pornos mit Mädchen gewesen wären, aber da waren keine Mädchen!
Cem hatte sich nie für Frauen interessiert und den Eltern war es recht gewesen, dass er sich auf Schule und Ausbildung konzentriert hatte.
Jahrelang war er in seinen Klassenkameraden Florian verliebt gewesen, aber niemand aus seiner Familie oder von seinen Freunden wusste dass er Männer mochte.
Männer wie Florian. Schlank, blond, mit heller, weicher Haut…
Er hätte viel dafür gegeben, diese Haut nur einmal, überall, zärtlich berühren zu dürfen, aber er wusste genau dass er mit
dieser Neigung in seiner Familie keinen Platz hatte. Nicht in seiner Familie und auch sonst nirgendwo!
Dass ihn der Vater allerdings krankenhausreif prügeln würde, damit hatte er nicht gerechnet. Obwohl Cem viel größer und kräftiger war, ließ er den geballten Vaterzorn über sich hinweg rollen wie eine Lawine und war unfähig sich zur Wehr zu setzen. Die Narben, die die volle Kanne heißen Tees auf seinem Rücken hinterlassen hatte, spürte er immer noch manchmal. Sein Vater schlug, wie ein rasender Derwisch, mit allem was ihm in die Hände kam, auf Cem ein. Die Mutter schrie erschreckt und voller Angst und begriff zunächst überhaupt nicht was geschah. Der Vater schimpfte und tobte, völlig außer sich! In seinem ganzen, bisherigen Leben hatte Cem seinen Vater niemals, derartig schreckliche Flüche und Verwünschungen ausstoßen hören, wie in diesen Momenten der Raserei, gegen den eigenen, so offensichtlich, schwulen Sohn!
Die Nachbarn, hatten schließlich die Polizei und auch den Krankenwagen gerufen.
Trotz allem, war es schwer für Cem gewesen,
wegzuziehen.
Die Familie und sein Freundeskreis waren immer sein wichtigster Dreh und Angelpunkt, aber der Arbeitsplatz im Münchener Flughafen war attraktiv und Cem gehörte zu einem großen, bunt gemischten Team aus Männern und Frauen unterschiedlichster Herkunft. Es war seine Chance, neu anzufangen und er nutzte sie.
Cem sprach außer Deutsch und Türkisch auch fließend Englisch und Französisch. Weil Florian in der Zehnten auch Französisch gewählt hatte und Cem ihm so nah wie möglich sein wollte. Florian war inzwischen verheiratet und Vater einer kleinen Tochter und Cem war in seinem Team angesehen und beliebt und hatte sich in den letzten Jahren das Image aufgebaut, das ihm selbst am attraktivsten erschien: Der gebildete, gutaussehende, sportliche Junggeselle, mit exklusiv ausgestattetem fünfer BMW und dem Luxus einer Zugehfrau.
Er kleidete sich sorgfältig und hatte sein Appartement geschmackvoll eingerichtet. Was hieß, das Sofa war breit und gemütlich und die elektrischen Geräte auf dem neuesten Stand der Technik. Sein Gehalt beim Zoll ermöglichte ihm ein sorgenfreies Leben. Freising hat eine gute Atmosphäre und Cem mochte
es, dass die Großstadt München in der Nähe war, er aber nicht dort wohnen musste.
Es waren inzwischen fast fünf Jahre. Er war neunundzwanzig und noch immer nicht in der Lage, offen zu sich zu stehen. In der Theorie, wusste er alles was es über schwule Liebe zu wissen gibt, aber von einigen Darkroom Erlebnissen in Köln, vor seinem unfreiwilligen Coming-Out, einmal abgesehen, hatte er wenig Erfahrung. Ein einziges Mal war er in einen Club nach München gefahren, aber die extrovertierten, exotisch aufgerüschten Tucken die dort tanzten, hatten ihm regelrecht Angst eingejagt.
SO wollte ER auf keinen Fall sein!
Cem Udur war ein Mann von Kopf bis Fuß. Aber er hatte keinen Sex. Jedenfalls nicht mit einem anderen Menschen.
Es gab Frauen, die Interesse zeigten, aber das reizte ihn nicht. Ihn erregten schlanke Männer…
Er unterdrückte diese Bedürfnisse so gut es ging.
Arbeitete hart, schwitzte und quälte sich im Fitness Studio um seinen Körper in Form zu halten und wenigstens manchmal, beim Duschen einen Seitenblick auf einen schönen, nackten, männlichen Körper werfen zu können. Wenn er die Sehnsucht nach körperlicher
Zuwendung gar nicht mehr unterdrücken konnte, fuhr er in ein Hammam in München. Dort musste er für das ‘Happy-End‘ nach der Massage zwar auch selbst sorgen, bekam aber wenigstens eine Stunde lang intensive Streicheleinheiten von gut gebauten, nahezu nackten Männern.
Der Wermutstropfen bei diesen Besuchen, war die Erinnerung an wunderbare Nachmittage im Bad, zusammen mit seinem Vater und seinen Brüdern.
Die Frauen, mit denen er arbeitete, wollten ihn zwar ganz gern ab und zu verkuppeln aber er ließ niemanden von der Arbeit wirklich in sein Privatleben schauen.
Die männlichen Kollegen hielten ihn für einen Macho und Cem gefiel das schon irgendwie. Es passte gut in sein selbstgewähltes Image.
Er hatte ein paar intime Online-Kontakte, aber die Männer lebten in den USA und in Kanada. Im Netz und anonym konnte er der sein, der er war.
Hier in seiner realen Welt kannte niemand seine Vergangenheit, oder wusste etwas von seiner Familie. Von den Vorfällen, die ihn nach Bayern verschlagen hatten, schon gar nicht.
Die physischen Verletzungen waren damals, nach ein paar Wochen verheilt und die seelischen waren nicht beachtet worden. Seine Familie hatte jeden Kontakt abgebrochen und Cem war viel zu stolz, um sich woanders Hilfe zu suchen. Er hatte schon immer einen starken Willen und den Drang es allein zu schaffen. Die Träume von einer Zukunft mit einem Partner waren schön, aber er hatte die Hoffnung darauf schon fast aufgegeben.
Nicht, dass es nicht auch mal interessierte Blicke von Männern gegeben hätte. Die gab es, insbesondere bei seiner Arbeit am Flughafen schon gelegentlich. Cem war groß und sah gut aus. Schwarze, kurze Haare, dunkelbraune Augen, durchtrainierter eher kräftiger Körper.
Er wurde gesehen. Nur war Cem sich nie ganz sicher, ob wirklich er gemeint war und noch weniger hatte er den Mut sich auch nur auf einen kleinen Flirt einzulassen.
Der Türke in ihm konnte die eigene Sexualität nur schwer akzeptieren. Das Bild, das andere von ihm hatten, war ihm zu wichtig. Die Angst in die ‘schwule‘ Ecke gestellt zu werden, zu groß.
Aber manchmal überfiel ihn die Sehnsucht
so grausam, dass er große Mühe hatte die Fassade aufrecht zu halten.
Frau Huber stellte ein kleines, rundes, silbernes Tablett auf den Tisch und goss mit der typischen Handbewegung, die ein wenig Schaum auf den Tee zaubert, das bunte Glas voll. Das Aroma der marokkanischen Minze entfaltete sich schnell, wie ein Geist, der aus einer Flasche entweicht. Ein mächtiger Geist, der fünf Jahre lang eingesperrt war und der sich nun nicht mehr zurück schicken ließ!
Dieser intensive, vertraute Duft war von Geburt an in seinem Gehirn gespeichert und untrennbar mit starken Gefühlen verbunden.
Cem starrte mit schmerzerfülltem Blick in den Tee und atmete tief ein. Ein winziger, kleiner Laut entkam ihm und seine Hand zitterte leicht, als er sich den Zucker nehmen wollte.
Da griff eine feste warme Hand nach seiner, ein rauer Männerdaumen strich kurz über seine Innenhand und schickte einen heftigen, elektrischen Impuls durch Cems Körper. Sein Kopf ruckte erschreckt hoch. Er hatte den Mann der ihm gegenübersaß total vergessen!
Er wollte seine Hand wegziehen, konnte
es aber nicht. Der Blick aus den tiefen, blauen Augen hielt ihn fest. Der Blonde ließ seine Hand los. Seine Stimme war tief und er fragte leise:
„Willst du mir nicht erzählen, was dir solche Schmerzen bereitet?“
„Wie kommst du darauf, dass ich Schmerzen habe?“
Die blauen Augen tauchten noch tiefer in seine:
„Ich fühle es.“ Er flüsterte fast.
Cem wollte empört aufspringen und weglaufen, so wie er immer weggelaufen war. Dieses Mal nicht. Sie schwiegen beide. Keiner wich dem Blick des anderen aus.
„Wie heißt du?“
Cems Stimme war rau und klang aggressiver als eigentlich beabsichtigt. Normalerweise duzte er Fremde auch nicht unaufgefordert. Die Antwort kam erstaunlich ruhig und selbstbewusst.
„Matthias, Matthias Hartmann und du?“
„Cem Udur.“
„Ich bin Gärtner, im Staudengarten der Uni.“
„Ich arbeite am Flughafen.“
Cem bemühte sich ein wenig freundlicher zu klingen. Er war verwirrt über die Gefühle, die Matthias in ihm auslöste und starrte in die grüne, aromatische Flüssigkeit, in dem hübsch verzierten Teeglas
vor ihm.
Der Tee schmeckte so unerwartet gut, so süß, so sehr nach Ferien bei den Großeltern, nach allem was einmal schön gewesen war in seinem Leben, nach Geborgenheit, Liebe und Zärtlichkeit, nach all dem, was ihm jetzt so sehr fehlte, dass er hart daran schlucken musste. Er schaute nach unten. Matthias sah ihn an, sagte aber nichts.
Dieser Fremde hatte ein Geheimnis, das keines war, wenn man das gleiche hatte, wenn man den Ausdruck in den Augen, jeden Morgen selbst im Spiegel sah. Auch Matthias hatte seine Gründe, als er von der Nordsee weggezogen war. Der entscheidende war, eine verlassene Ehefrau, die ihm bis heute nicht verzeihen konnte, dass er sie geheiratet hatte, obwohl er wusste, dass er sie nicht so begehrte, wie jede Frau es von einem Ehemann erwartet.
Der Regen hatte aufgehört. Matthias legte das Geld für seinen Tee auf den Tisch. Er stand auf und schenkte Cem ein offenes, wunderschönes Lächeln:
„Schön, dich kennengelernt zu haben, Cem.“
Dann ging er und Cem starrte dem schlanken, blonden Mann mit den tiefen blauen Augen hinterher.
Der Tee aus marokkanischer Minze entfaltete seine magische, entspannende Wirkung, so wie er es immer getan hatte.
Cem hatte es nur verdrängt. Er hatte das Glas noch nicht ganz leer getrunken als sich der Knoten in seinem Bauch löste und er wieder tief und ruhig atmen konnte. Als er den kleinen Teeladen verließ, kam die Sonne zwischen den schwarzen Wolken hervor und ein breiter Regenbogen spannte sich im Osten über den Himmel. Der Geschmack in seinem Mund, die Sonnenstrahlen, der Regenbogen, ein tiefer Blick aus blauen Augen, die seltsam intensive, kurze Berührung von Matthias, das alles zusammen erzeugte ein angenehmes Kribbeln in Cems Bauch und schickte seine Gedanken auf eine abenteuerliche Reise.
Der Staudensichtungsgarten, der Universität Weihenstephan in Freising, ist kein Ort an dem Menschen joggen.
Dort wird geschlendert und notiert, studiert, betrachtet und fotografiert.
Der große Mann in grauen Jogginghosen und schwarzem Pulli, erregte deshalb nicht wenig Aufsehen. Einige Tage, nach seinem unfreiwilligen Besuch im Tee- laden, ertappte
Cem sich zum ersten Mal dabei, die Joggingrunde durch den Staudengarten erweitert zu haben. Er traf nicht auf Matthias. Auch dann nicht, als er seine Adresse im Telefonbuch suchte und zwei, dreimal an seinem Haus vorbei fuhr.
Cem hatte nicht genug Mut ihn einfach anzurufen. Vielleicht war es gar nicht so? Vielleicht hatte er sich nur eingebildet, dass Matthias auch Männer mochte? Aber dieser tiefe Blick hatte so viel versprochen. Und warum hatte er sonst gesagt wie er heißt und wo er arbeitet, wenn nicht um gefunden zu werden?!
Zwei Wochen, etliche Joggingrunden und Umwege an einem bestimmten Haus vorbei, später, war es schließlich Matthias, der bei Cem anrief. Es war Samstagvormittag. Das Wochenende würde warm und sonnig werden und Cem hatte bis zum Montagabend frei. Das Telefon störte ihn beim Frühstück. „Udur.“
„Hallo Cem. Hier ist Matthias.“
„Oh! Hallo.“
Cems Herz rutschte ihm in die Hose. Matthias schien es zu spüren und fragte vorsichtig:
„Hast du heute schon was vor?“
„Nichts Besonderes. Warum?“
„Schwimmst du gern in der Isar?“
„Ja, sicher.“
„Gut. Ich hol dich in einer Stunde ab. Ist das Ok?“
Cem konnte nur verdattert zustimmen.
Während er den Frühstückstisch abräumte, schwirrten Fragen durch seinen Kopf. Warum hatte Matthias ihn nicht gefragt, wohin er kommen sollte?
Weil er vermutlich auch ins Telefonbuch gesehen hatte. Da gab es seinen Namen nur ein Mal. Nicht schwer ihn zu finden. Die Frage war also nicht, ob sich Matthias für Cem interessierte, sondern wie?
Wie einer, der einen Freund sucht, oder wie einer der einen Freund sucht? Er wusste ja selber nicht, warum er sich für Matthias interessierte. Die blauen Augen hatten ihn vom ersten Blick an fasziniert und sein interessantes Gesicht auch, aber ansonsten entsprach Matthias nicht ganz dem Typ Mann, der seinen Puls hoch jagte und seinen Körper zum vibrieren brachte. Matthias war schlank aber nicht jungenhaft. Seine Haut war sonnengebräunt und seine Hände stark und rau. Ein erwachsener Mann, der offensichtlich
nicht so feige war wie er selbst und der wusste was er wollte.
Cem packte seinen Rucksack für den Ausflug an die Isar. Das Ufer in Freising ist fast überall kiesig. Deshalb nahm er auch die Isomatte mit, ebenfalls Wasser, Obst, Sonnenschutz. Es klingelte. Cem drückte auf den Türöffner und viel schneller als erwartet, stand Matthias vor seiner Wohnung im dritten Stock. Der Sprint durch das Treppenhaus hatte seinen Atem kaum beschleunigt.
„Hey, du bist schnell! Läufst du?“
Cem öffnete die Tür weit und lies Matthias eintreten.
„Hallo, Cem. Nein ich laufe nicht. Ich bin Bergsteiger.“
Matthias ließ seinen Blick durch Cems Wohnzimmer schweifen. Typischer konnte “Mann“ sich nicht einrichten. Fehlten eigentlich nur die Hanteln neben der Couch. Er grinste breit als er sagte:
„Aber was man so hört, bist du ein Läufer?“
„Wo hört man das?“
„Och, meine Kollegin meint seit Wochen, dass sie einen Verehrer hat, der durch den Staudengarten joggt und nach
ihr Ausschau hält. Allerdings ist er wohl ziemlich schüchtern, denn wenn sie ihm zuwinkt, sieht er immer schnell weg.“
Cems Wangen brannten.
„Jetzt denkst du, ich bin so ein perverser Stalker, oder?“
Matthias genoss die Show.
„Na, ja es gibt in meiner Straße ja jetzt sogar ein Mafia Problem.“
„Wie bitte?“
„Frau Obermüller von gegenüber hat viel Zeit um aus dem Fenster zu sehen und erzählt, dass seit neuestem, regelmäßig ein finsterer Typ, in einem schwarzen Auto, langsam durch unsere Straße fährt. Kannst du mir das erklären?“
Cem fühlte sich ertappt.
„Ich kann dir das erklären.“
Matthias war noch nicht ganz fertig. Der Spaß war für einen Moment vorbei: „Cem, ich möchte dir was sagen.“
Sie setzten sich. Auge in Auge. Cem rang um Haltung:
„Na los, dann sprich!“
„Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt und ich bin schwul. Ich bin out aber ich brauche kein Werbeplakat auf meiner Brust deswegen. Die es
was angeht wissen es. Die anderen geht es nichts an. Ich habe keine Lust auf irgendwelche blöden Spielchen. Warum rufst du nicht einfach an? Was soll dieser kindische Zirkus?“
Er hatte ruhig und ernst gesprochen. Schweigen. Cem suchte in seinem Kopf nach dem richtigen Weg. Er stand an einer Kreuzung. Es gab immer noch die Möglichkeit, einfach so zu tun, als sei das alles ein Irrtum und fertig. Ab zurück hinter die Fassade.
Oder aber, er war einmal mutig und griff nach der Chance die sich ihm hier bot. Matthias war zweifelsohne, nett und offen, so beneidenswert offen, aber war er auch vertrauenswürdig? Er könnte der Freund werden, mit dem er wirklich reden könnte oder vielleicht noch mehr als nur reden!?
„Jetzt fragst du dich, ob du mir vertrauen und deine Geschichte erzählen kannst. Ich vertrau dir schließlich auch, soweit man einem Stalker und Mafia Mitglied eben vertrauen kann.“
Ein kleines Lächeln spielte um Matthias Lippen.
„Manchmal ist etwas nicht so, wie es aussieht! Ich bin kein Stalker und Mafia schon gar nicht! Ich bin Zollbeamter!“
Und nach einer kleinen Pause, einem tiefen Atemzug und mit gesenktem Blick: „Und neunundzwanzig und im Schrank, ganz tief unter der Winterunterwäsche. Alles andere ist Image.“
„Oh!“
Matthias klang ehrlich erstaunt. Cem entschuldigte sich:
„Tut mir leid, wenn deine Kollegin sich angemacht gefühlt hat. Und der Nachbarin kannst du sagen, dass du persönlich das Mafia Problem gelöst hast. Im Übrigen, warst du gemeint.“
„Wann hättest du angerufen?“
„Gar nicht, denke ich.“
„Ok. Dann geh ich wohl besser.“
„Nein! Es hat nichts mit dir zu tun!“
Sie schwiegen sich minutenlang an. Matthias schob seine Hand über den Tisch und berührte Cems geballte Faust ganz vorsichtig, als hätte er Angst vor der Reaktion.
„Willst du zuerst reden oder zuerst schwimmen?“
Cem entspannte sich bewusst und öffnete seine Faust. Matthias verstand es als Einladung. Sein Zeigefinger malte Kreise auf Cems Handfläche und allein diese kleine Berührung fühlte sich sensationell
an.
Aber so schnell konnte Cem seine Deckung nicht verlassen. Die Verhaltensmuster waren tief eingebrannt.
„Zuerst schwimmen, dann essen, dann sehen wir weiter.“
In seinem Kopf führte Matthias den Satz zu Ende: Und dann wird es sich schon herausstellen, in welchem Bett wir morgen aufwachen.
Er hatte sich beim ersten Blick in Cem verliebt und sehr gehofft, dass der schöne Mann mit den schwarzen Augen, sich bei ihm melden würde. Heute hatte er seinen Mut zusammen genommen und selbst angerufen. Dass so ein Typ keinen Partner hatte, dass er sich hinter dem typischen Macho Image versteckte, erstaunte Matthias, aber er war auch sehr neugierig, was da hinter der arrangierten Dekoration alles zum Vorschein kommen würde.
„Das ist nicht dein Ernst?!“
„Was?“
„Du bist doch ein cooler Typ und dann fährst du so einen Kübel?“
Cem hatte seine gute Laune zurück. Der uralte, verdreckte, moosgrüne Subaru schrie förmlich nach einem Kommentar.
„Mit deiner Mafia Schleuder können wir nicht fahren. Da wo ich hin will, ist dein Angeber Frontspoiler in akuter Gefahr, allerdings brauchen wir da keine Badehosen.“
Matthias grinste Cem frech an und machte in seinem Kofferraum Platz. „Boaah! Wie viel Gerümpel fährst du denn durch die Gegend?“
In dem Kofferraum stapelten sich Bergschuhe und Gummistiefel, ein großer und ein kleiner Rucksack und allerlei Gartengeräte.
Sie fuhren los und Cem fühlte sich unwohl auf dem Beifahrersitz. Er fuhr gerne und gut und am liebsten selbst. Matthias belehrte ihn eines Besseren. Auf der Straße wäre Cems BMW sicher schicker gewesen aber in dem Gelände am Isar-ufer, war der Allrad schon haushoch überlegen.
„Du traust dich! Das ist ein Privatweg hier!“
„Ich weiß. Kenne den Besitzer. Hohes Tier aus München. Ich mache seinen Garten und deshalb hab ich hier Zutritt.“
Der Spot an der Isar war wunderschön, einsam und perfekt um zu schwimmen und um ungestört, textilfrei in der Sonne zu liegen.
Matthias schwamm nackt. Cem war froh über seine Boxershorts. Natürlich
schaute er hin. Bemüht, nicht zu offensichtlich zu vergleichen. Matthias hatte einen wirklich schönen Körper. Schlank und nahtlos braun, ohne Haare, außer an seiner Peniswurzel und auch die waren getrimmt.
Cem selbst hatte noch nie auch nur den Versuch gemacht, seine Körperhaare zu entfernen. Im Gegenteil. Er war stolz auf das Fell auf seiner Brust! Aber bei Matthias gefiel ihm die glatte Haut sehr und reizte ihn, seine Hände darüber gleiten zu lassen.
Sie schwammen und neckten sich, lachten und prusteten im eiskalten Wasser. Ließen die Jungs raus, die nie erwachsen werden. Und wirklich zufällig waren die gegenseitigen, spielerischen Berührungen nicht.
Später lagen sie in der Sonne, eingehüllt in ein angenehmes, entspanntes, faules, Sommerschweigen, jeder in seinen eigenen Gedanken, die sich bei Beiden, um den jeweils anderen drehten. Sie waren völlig allein und ungestört.
Cem wollte seine Hände über Matthias Körper gleiten lassen, sehnte sich danach, die Muskeln, die Haut und ihre Hitze zu spüren. Er rang eine halbe Stunde mit sich. Dann fragte er
vorsichtig:
„Soll ich deinen Rücken einreiben?“
„Gerne.“
Matthias hob den Kopf und lächelte Cem an.
„Zieh doch die blöde Hose aus. Ist doch eh keiner hier.“
Er hatte ja recht, außerdem war der Stoff kalt aber das war Cem gerade angenehm. Er war so dermaßen scharf, dass er Angst hatte, beim kleinsten Windhauch zu kommen.
Die Sonnenmilch war warm und roch gut. Matthias schloss die Augen und lag tief entspannt auf dem Bauch. Cem tat was er angekündigt hatte, er rieb Matthias den Rücken ein, auch wenn ihn die runden Backen unglaublich reizten. Nachdem es wirklich keinen Grund mehr gab, noch mehr Lotion auf den Rücken zu reiben und Cem die Flasche zudrehte, knurrte Matthias wohlig:
„Beine auch, bitte, ja? Ist so schön, wie du das machst.“
Er rückte sich auf der Matte zu recht, spreizte die Beine ein wenig und Cems Hände zitterten, bei dem appetitlichen Anblick, der sich ihm bot. Er begann an den Füßen und arbeitete sich nach oben. Matthias schnurrte beinahe, bei der liebevollen Massage und Cem konnte den Blick nicht vom Ort seiner
Sehnsucht lösen und war knallhart. Er traute sich aber nicht, Matthias intime Stellen anzufassen obwohl er deutlich spürte, wie sehr der sich danach sehnte, dort berührt zu werden als seine Hände über die muskulösen Oberschenkel strichen.
Cem spürte die Lust überdeutlich, die er bei Matthias erzeugte. Diese Erfahrung war neu für ihn und sensationell aufregend. Seine Stimme war rau als er vorsichtig fragte:
„Den Rest auch?“
„Jaa.“
Das war mehr ein Stöhnen als eine Antwort. Cem war fasziniert. Er ließ ein wenig Sonnenmilch auf die Pobacken laufen und Matthias stöhnte leise, als Cems Finger einen Tropfen in seiner Spalte auffing. Die Reaktionen von Matthias Körper und das Erschauern unter seinen Händen verlockten Cem zu einem begehrenden Kuss auf Matthias Kehrseite. Er liebkoste die Stelle an der die Backen sich vereinen und hätte am liebsten seine Zähne in die weiche, nach Sommer duftende Haut geschlagen.
Bei Matthias war von Entspannung überhaupt keine Rede mehr. Das hier war auch kein freundschaftliches Einreiben, sondern eher ein besonders lustvolles Vorspiel. Er konnte kaum
noch auf seiner Erektion liegen aber wie würde Cem reagieren, wenn er sich einfach umdrehte? Der Mann war leicht zu verschrecken und das wollte Matthias auf keinen Fall. Er wollte mehr. Mehr Zeit mit Cem und mehr von ihm wissen und gerade jetzt, wollte er ganz dringend ein wenig Sex mit diesem bulligen Bären, der ihn so unglaublich zärtlich, scharf machte.
„Läufst du weg, wenn ich mich umdrehe? Oder reibst du mich von vorn auch ein?“
Cem schluckte.
„Dreh dich um, aber mach die Augen zu.“
„Warum?“
Cem genierte sich und wollte nicht angeschaut werden, aber zugeben wollte er das auch nicht.
„Dann fühlst du intensiver.“
Das stimmte. Matthias spürte alles, ungefiltert, ohne die optische Ablenkung. Die runden, Kieselsteine unter der Isomatte, die Nachmittagssonne, die auf seine geschlossenen Lider brannte, Cems warme, große Hände auf seiner Brust und die Luft die sachte über die weiche Haut an seinem Bauch strich. Die Boxershorts raschelten als Cem sie auszog und Matthias blinzelte, um das sehen zu können was ihn wirklich brennend interessierte
.
Was sein kurzer Blick erhaschte, ließ ihn tief einatmen.
Cem war so kontrolliert und so vorsichtig. Matthias fragte sich, was passieren musste, dass er diese Kontrolle aufgab.
Zunächst gab er sich aber selber den erregenden, warmen, glitschigen Gefühlen dieser Massage hin. Cems Hände waren überall!
Nur nicht dort, wo es am heißesten war! Er kniete neben Matthias Brust und irgendwann konnte der nicht mehr stillhalten, drehte sich ein wenig zur Seite, machte Augen und Mund auf und nahm sich ungefragt, was er haben wollte. Ein kurzer erschreckter Laut und ein tiefes Stöhnen, dann trafen sich ihre Augen.
Da waren so viel Lust und so viel Verlangen in Matthias‘ blauen Augen! Noch nie war Cem so angesehen worden! Er vergaß die Angst und die Hemmungen. Er wollte es ja! Er wollte es so sehr! Und er wollte Matthias das geben wonach der bebend und tropfend offensichtlich so sehr verlangte. Die eine Hand an Matthias‘ Kopf und die andere, geschickt und zärtlich, endlich, an seinem Schwanz.
Schnell und glühend heiß, bahnte sich bei beiden die
Lust ihren Weg.
Cem zitterte und rang um Fassung. Das war so gut, so schön, so sehr ersehnt gewesen, dass er kaum glauben konnte, dass es wirklich passiert war. Er zog seine eigene Isomatte näher heran und legte sich nah zu Matthias, der immer noch schwer atmete. Er fühlte sich so gut, so befriedigt und so wohl, wie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr. Die Hand die in den Haaren auf seiner Brust spielte, der Atem den er spürte, die Nähe, das alles war schön und die Zeit hätte stehen bleiben können.
„Danke.“
„Wofür?“
„So schön hat mich noch niemand eingerieben.“
„Immer wieder gern.“
„Im Ernst?“
„Wie meinst du das, im Ernst?“
„Na ja, würdest du eine Wiederholung wollen…?“
Cem richtete sich ein wenig auf und sah Matthias ins Gesicht. Sicher, er war offen und selbstbewusst aber trotzdem war in seinem Gesicht eine unbefriedigte Sehnsucht zu sehen.
Oder eine Angst, Cem spürte es.
„Matthias, denkst du, dass es das gibt, dass man spürt was ein anderer fühlt?“ „Denke schon. Ich hab deinen Schmerz deutlich gespürt, in dem Teeladen.“
„Du hast jetzt gerade Angst. Vor was?“
„Ist kompliziert.“
„Ich hab Zeit.“
„Na gut, ich erzähle, aber du auch!“
Cem schluckte. Er hatte noch mit keinem Menschen über den Rauswurf aus seinem Elternhaus gesprochen. Nur per Mail und auf Englisch. Das war nicht das gleiche.
„Gut, aber du zuerst.“
Matthias setzte sich neben Cem und sie starrten beide auf den Fluss.
„Ich sehe gern Wasser fließen.“
„Und ich Feuer brennen.“
„Mhm, das auch.“
Ihr Schweigen fühlte sich gut an und Cem gab Matthias gern die Zeit um genug Mut zu finden, über das sprechen zu können, was ihn beschäftigte. Er selber wusste auch nicht so genau wie er seine eigene, eigentlich unglaubliche Geschichte erzählen sollte, ohne zu schreien oder zu schluchzen. Er hatte immer
vermieden auch nur darüber nachzudenken, so unerträglich waren die Erinnerungen.
Matthias sprach leise:
„Es begann in der neunten Klasse. Ich war im Judo Verein und Jungs und Mädchen haben zusammen trainiert. Tanja war lange meine Partnerin. Wir hatten die gleiche Größe und fast das gleiche Gewicht. Dauerte nicht lange und sie war meine beste Freundin. Wir haben über alles geredet und viel zusammen gemacht, nicht nur Sport und weil ich noch nie auf lange Haare und Busen abgefahren bin und Tanja total flach und kurzhaarig war, wurde sie schließlich auch meine Freundin. Die Jungs, die sie gut fand, interessierten sich nicht für sie und ich musste mir das Dilemma wegen der zu kleinen Brüste und so, jahrelang anhören. Ende vom Lied war, dass wir beide alles zusammen ausprobiert haben. Und ehrlich zu sagen, sie konnte echt gut blasen und hat ziemlich viel mitgemacht. Im Bett, aber so auch. Wir haben uns wirklich gut verstanden. Dann gab es irgendwann keinen Grund mehr sie nicht zu heiraten. Obwohl ich immer das Gefühl hatte, das etwas Wichtiges fehlt. Manchmal entscheidet man sich für das kleine Glück. Sie kann
nichts dafür.
Ich hab weiter Judo trainiert. Sie hat damit aufgehört, wegen der Arbeit. Irgendwann kam Sven in unseren Verein. So ein großer Wikinger mit blondem Pferdeschwanz und rotem kurzem Bart. Wir haben uns angesehen und ich glaube, er hat es sofort gemerkt.
Bei unserem ersten Trainingskampf hat er mich am Boden festgehalten. Wir waren uns ganz nah. Ich konnte ihn riechen und hab ihn, durch die Klamotten, ganz heiß und hart an meinem Hintern gespürt. Das hat mich so unglaublich scharf gemacht. Solche Gefühle hatte ich noch nie. Er hat mir zugeflüstert, dass ich nach dem Training auf ihn warten soll.
Lange Rede, wir haben bis zum Morgen gevögelt und ich hab mich gefühlt, als hätte endlich jemand das Licht angemacht.“
Cem unterbrach Matthias vorsichtig:
„Und deine Frau?“
„Die hat sofort gemerkt, dass ich anders war, aber ich konnte es ihr nicht sagen. Ich konnte es ja noch nicht mal meinem Spiegelbild sagen! Ich habe sie belogen und betrogen. Sven und ich haben Wege gefunden um Zeit miteinander zu
verbringen. War ziemlich einfach und hat nicht lange gedauert, bis er bei uns ein und aus ging.
Dann kam der Abend an dem Tanja mit ihrer Freundin ins Kino wollte, weil Fußball im Fernsehen war. Sven kam mit Bier. Wir lagen auf dem Sofa, sein Kopf in meinem Schoß und meine Hand in seiner offenen Hose, als sie schon in der Halbzeitpause zurück kam, weil die Freundin nicht gekommen war. Wir hatten die Haustür nicht gehört und sie stand plötzlich im Wohnzimmer. Die Situation war so dermaßen eindeutig, dass jedes Wort der Erklärung zu viel gewesen wäre.“
Cem stöhnte:
„Oh Gott, wie peinlich! Für euch alle drei!“
„Ja, das war es! Aber das Schlimmste waren ihre Vorwürfe. Sie hatte ja Recht aber ich konnte doch auch nicht aus meiner Haut. Alles, aber auch wirklich alles, ist in den Wochen danach, in Scherben gegangen. Wir haben uns getrennt. Meine und ihre Familie haben mir die übelsten Sachen an den Kopf geworfen, unsere Freunde gingen nicht mehr ans Telefon wenn ich angerufen habe und so weiter.“
„Was war mit Sven?“
„Ach der! Als es ungemütlich wurde
hat er mich fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Der wollte Spaß haben und zwar nur Spaß. Keine Lust mich zu unterstützen oder auch nur mal zu trösten.“
Cem schnaubte:
„Ist das Scheiße!“
„Ja und deshalb hab ich mich hierher beworben, um neu anzufangen.“
„Du hast gesagt du bist out?“
Matthias lehnte sich an Cem.
„Ich wollte nicht wieder mit einer Lüge anfangen und deshalb hab ich direkt gesagt, dass ich Männer lieber habe, als ich nach einer Frau oder Freundin gefragt worden bin. Wir machen in der Arbeit immer zusammen Pause und da wird auch mal über private Dinge geredet.“
„Wie war die Reaktion?“
„Nicht der Rede wert. Mehr so: Ach ja, das ist ja interessant.
„Jedenfalls nicht negativ.“
Cem hielt Matthias eine Weile und dachte nach.
„Und jetzt hast du Angst, dass ich so sein könnte wie Sven?“
Matthias fühlte sich ertappt und betrachtete intensiv die Uferkiesel zu seinen Füssen. Er wollte nicht darüber reden, wie sehr
er sich nach einem Partner sehnte, nach jemandem für mehr als nur Sex. Jedenfalls jetzt noch nicht.
Der Kuss überraschte ihn. Warme Lippen, Bartstoppeln, eine zärtliche, lockende Zunge. Eine starke Hand in seinem Nacken. Matthias schmolz zum zweiten Mal wie Butter in der Sonne weil ihn Cems Zärtlichkeit schier überwältigte. Irgendwann flüsterte Cem:
„Ich muss das vor dem Spiegel üben.“
„Was?“
„Das zu sagen. Ist ja schon schwer, das zu denken…schwul…“
„Aber anfühlen tut es sich gut, oder?“
Matthias zog Cem ganz nah zu sich.
„Na ja, ziemlich gut.“
Ein freches Machogrinsen breitete sich in Cems Gesicht aus aber Matthias kannte dieses Spiel auch:
„Nur ziemlich gut? Was machen wir da?“
„Keine Ahnung! Lass dir was einfallen.“
„Das mach ich, versprochen! Aber zuerst erzählst du mir, warum du mit schmerzerfülltem Gesicht in deinen Tee gestarrt hast, als würdest du einen Geist sehen? Was war es noch? Ach ja, Marokkanische Minze.“
„Ja, Marokkanische Minze.“
Cem entschied sich für die kurze Version der Geschichte.
„Weißt du, Türken sind Machos, nicht schwul.
Du darfst deine Freunde innig lieben und alles, aber du darfst auf keinen Fall schwul sein.“
„Wann hast du es gemerkt?“
„Siebte Klasse. Ich hab nie irgendwo richtig dazu gehört. Im Gymnasium war ich der blöde Türke, auf der Straße war ich der blöde Streber vom Gymnasium. Also hab ich gebüffelt und mich auf der Straße aus allem rausgehalten.
Er hieß Florian. Ich war jahrelang verliebt in ihn. Hat er mir auch nur ein winziges Lächeln geschenkt, war eine ganze Woche rosarot. Eigentlich war mir damals, in der Siebten schon klar, dass ich nicht auf Mädchen abfahre.“
Matthias unterbrach Cem nicht, aber er kuschelte sich näher an ihn.
„Dann Abitur, Ausbildung beim Zoll. Ich wollte nicht Teehändler werden, wie mein Vater und dann ewig unter seiner Fuchtel arbeiten.“
„Dein Vater ist Teehändler?“
„Ja, Groß und Einzelhandel. Tee war meine ganze Jugend.“
„Was ist passiert?“
„Er hat eine Schachtel aufgemacht.“
„Pornos?“
„Ja, klar.“
„Scheiße!“
„Nee, Krankenhaus.“
„Er hat dich ins Krankenhaus geprügelt?!“
Matthias war erschüttert und Cem wollte nicht weiter reden. Nach einigen Minuten, sagte er leise:
„Marokkanische Minze war immer mein Lieblingstee. Das was am meisten mit Familie, Zuhause, Liebe und Zuwendung verbunden war. Meine schönsten Erinnerungen schmecken nach Marokkanischer Minze.
In dem Teeladen, als dieser Duft in meine Nase kam, wurde mir wieder ganz bewusst was ich alles verloren habe. Ich fühle mich oft so mies und so falsch, so schuldig und gleichzeitig so ungerecht behandelt und entwurzelt, verstehst du?“
„Jedes Wort.“
Und das war nicht gelogen. Matthias kannte die Gemütslage nur zu gut.
„Du bist wer du bist. Das kann dir gefallen oder nicht, es ist wie es ist und es ist nicht schlimm.
Dein Vater ist ein Schwein, dass er dich so behandelt hat.“
Cem antwortete darauf nicht. Es tat so gut, für einen kleinen Moment keine Rolle spielen zu müssen.
„Komm noch mal ins Wasser!“
Matthias ließ sich nicht lange bitten. Diesmal schwamm Cem auch nackt und fühlte sich unglaublich frei.
Die Entscheidung zwischen Biergarten und Burger ließ sich schnell fällen und Cem grinste, als er Matthias seine Pommes mit Ketchup und Mayo essen sah. Er selbst machte es genauso und sie ließen den seltsamen Blick der Frau am Nachbartisch von sich abprallen.
„Bayern essen keine Mayo.“
Matthias schob sich das letzte Stück von seinem Burger in den Mund.
„Selber schuld, kann ihnen keiner helfen.“
„Isst du Schweinefleisch?“
„Ja schon, aber Rind oder Huhn sind mir lieber. Lamm geht so, Hammel geht gar nicht.“
„Alkohol?“
„Selten. Ich fahre meistens und dann trinke ich nicht. Du?“
„Ich esse gerne Fisch und Lamm aber alles andere auch. Alkohol manchmal, aber ich muss gestehen, dass ich schon mal ganz gerne was rauche.“
Cem zog eine Augenbraue hoch.
„Schau nicht so böse, du Zöllner. Ich bin Gärtner. Ich schmuggle nicht und ich handel nicht damit. Nur so ein wenig Anbau für den Eigenbedarf.
Cem grinste.
„Ah, du kennst dich also aus!“
Matthias lächelte wissend und flüsterte verführerisch:
„Kannst dir aussuchen, ob wir auf meinem Balkon Rotwein trinken oder rauchen, bevor wir uns den Rest der Nacht lieben. Nach Hause fahre ich dich jedenfalls nicht.“
Das Blut schoss in Cem‘s Wangen. Natürlich wollte er die Nacht mit Matthias verbringen aber so eine direkte Ansage schockierte ihn. Er suchte nach einer Antwort, während er den Rest Cola austrank.
„Lieber Rotwein. Das andere ist mir zu heiß. Schon lange her, dass ich sowas gemacht habe.“
„Was? Liebesnacht?“
„Spinner! Komm, lass uns diese Konversation
mal besser an einen privateren Ort verlegen. Die Tante da drüben schaut schon ganz komisch.“
Die Samstagnacht mündete in einen wunderschönen Sonntagmorgen und auch dieser Tag gehörte Cem und Matthias. Er überredete Cem zu einer kleinen Bergtour. Knappe zwei Stunden Autofahrt, bestens geeignet, um sich zu unterhalten, ohne sich ansehen zu müssen.
Beide loteten den anderen aus. Fragten nach Vorlieben, Abneigungen und Meinungen. Beide waren sich bewusst, dass sie nicht mehr jung genug waren um noch unendlich viel Zeit mit jemandem zu verplempern, der möglicherweise komplett andere Ansichten hatte.
Beide wollten mehr als nur dieses Wochenende, ohne es jedoch explizit auszusprechen.
Eigentlich war es klar. Sie verstanden sich zu gut und konnten den anderen lesen wie Matthias es noch nie erlebt hatte. Es war so schön und passte so gut, dass er geradezu nach dem Haken suchte, ohne jedoch einen zu finden. Cem fragte sich immer drängender wie er es anstellen sollte, aus seiner selbstgebauten, coolen, verlogenen Fassade heraus zu kommen. Und ob es das war, was er wollte.
Einmal gesagt: Ich bin schwul, würde es kein Zurück mehr geben. Das war ihm klar und das machte ihm Angst. Aber wenn er mit Matthias zusammen sein wollte, würde er sich entschließen müssen, offener zu sein. Matthias würde keine Versteckspielchen mitspielen wollen. Soweit hatte Cem ihn schon verstanden.
Der Weg auf den Berg war nicht das Ziel. Die grandiose Aussicht vom Gipfel und das kalte Bier in der Hütte, auf dem halben Weg wieder nach unten, waren das Ziel.
„Uhh, ist das gut! Warum schmeckt es nur immer am besten, wenn man sich dafür gequält hat?!“
„Ist doch mit alle Dingen so. Am schönsten ist immer das, wofür man kämpfen muss. Du hast dich sowieso gut geschlagen. Ich wäre alleine nicht schneller gegangen und ich habe mehr Übung als du.“
Matthias lächelte Cem an. Der hatte sich mit eisernem Willen den Berg hoch gekämpft. Denn obwohl er sportlich war, ist bergauf gehen immer noch etwas anderes als joggen. Er hätte sich niemals vor diesem drahtigen Gärtner eine Blöße gegeben. Jedenfalls nicht sportlich.
Andererseits hatte er sich gestern Nacht wirklich
genug entblößt. Nach zwei Flaschen Chianti, wildem und zärtlichem Sex ohne viele Worte und bei ihren intimen Bettgesprächen dazwischen.
Cem hatte alles bekommen wonach er sich jahrelang gesehnt hatte, nur um danach festzustellen, dass er viel, viel mehr davon haben wollte. Matthias war in seinem Arm eingeschlafen. Cem hatte kaum geschlafen aber es war schön für ihn gewesen, Matthias anzusehen und seine Haut zu spüren. Auch wenn es ihn beunruhigte, darüber nach zu denken, wie das weitergehen sollte.
Sollte es weitergehen?
Die Rückfahrt nach Freising verlief größtenteils schweigend und beim Abschied kam der Satz, den Matthias gefürchtet hatte.
„Ich ruf dich an, ja? Weiß noch nicht wann. Ich hab die ganze Woche Nachtschicht.“
Es waren nicht die Worte, die Matthias störten. Es war der: ich weiß noch nicht was ich will, Tonfall.
„Ist gut.“
Cem spürte die tiefe Enttäuschung, konnte aber im Moment nicht aus seiner Haut. Es ging so schnell. Zu schnell
für ihn.
„Cem Udur! Was ist los? Schläfst du? So spät ist es doch noch gar nicht!“
Die energische Stimme seiner Kollegin Monika, riss Cem aus seinen Träumen. Er hatte, wie so oft in den letzten Nächten, in seine Kaffeetasse gestarrt, ohne den Kaffee zu trinken. In seinen Gedanken war Matthias und nur Matthias. Seine Augen, seine Stimme, sein Körper, ihr Sex, ihre Gespräche. Das vergangene Wochenende ließ Cem nicht mehr los. Es war schon die vierte Nachtschicht und es war relativ ruhig. Cem wäre ein wenig mehr Stress, deutlich lieber gewesen. So war er seiner Sehnsucht hilflos ausgeliefert und seinen Selbstzweifeln. Monika hatte ihn schon am Montagabend gefragt, was mit ihm los wäre. Verdammte Mutter von zwei Teenagern, wusste immer wenn der Schuh drückte. Eigentlich eine gute Eigenschaft, außer man will nicht darüber reden, wo der Schuh drückt.
Zwei Stunden weiter, nagelte sie ihn endgültig fest.
„Wie heißt sie?“
„Was meinst du?“
„Cem, ich bin nicht blind. Du träumst vor
dich hin, bist unkonzentriert, hast keinen Appetit, trinkst noch nicht mal den geliebten Kaffee! Du bist verliebt, das sieht ein Blinder! Also wie heißt sie?“
„Matthias.“
Monika starrte ihn an. Cem wurde in dem Moment bewusst, was er gesagt hatte, aber seltsamerweise war ihm völlig egal was sie dachte. Monika war so geschockt, dass sie sich noch einen Kaffee einschenken musste.
„Ich wusste gar nicht, dass du…. Ist er nett?“
„Ja sehr und ich hab es ihm diese Woche nicht leicht gemacht.“
„ Wieso?“
„Ist nicht so einfach, offen damit zu sein, verstehst du?“
Monika sah ihm in die Augen.
„Du hast ja auch hart genug daran gearbeitet, dass es niemand merkt, aber es ist dein Leben.“
Da hast du verdammt Recht! Dachte Cem.
Natürlich war es ein ätzender Spießrutenlauf, als Cem am nächsten Abend zur Arbeit erschien. Er spürte die Blicke und sah die Abscheu in manchen Gesichtern, aber niemand wagte eine miese Bemerkung in seiner Anwesenheit, obwohl Cem genau sah, dass es mittlerweile alle
wussten. Was nicht anders zu erwarten war. Hätte er von einen Freundin berichtet, wäre die Neugier der Kollegen vermutlich deutlich weniger ausgeprägt gewesen.
Matthias hatte die ganze Woche auf einen Anruf von Cem gewartet. Als der sich auch am Samstag noch nicht gemeldet hatte, fuhr Matthias zum Frust abbauen nach München. Die Nacht war lang. Er trank zuviel und er kam erst im Morgengrauen zurück. Cem hatte in dieser Nacht zehnmal angerufen und war dreimal vorbei gefahren. Jedes Mal noch ein wenig tiefer enttäuscht. Beim elften Anruf, um drei in der Früh, sprach er auf den Anrufbeantworter:
„Verzeih mir bitte, dass du so lange warten musstest, aber ich musste nachdenken.“
Das Gerät rauschte etwas, als Matthias es spät am Sonntagvormittag abhörte. Er glaubte zuerst sich verhört zu haben. Undeutlich hörte er Cems tiefe Stimme:
„Ich kann es nicht ändern. Ich hab mich in dich verliebt.“
Mehr Fassade einreißen ging nicht! Matthias hätte heulen können und jubeln, oder tausend rote Rosen an Cem verschicken
oder…oder…einen wunderschönen, orientalischen Keramiktopf, bepflanzt mit Marokkanischer Minze, persönlich hinbringen, damit Cem den Geruch und Geschmack von Liebe und Geborgenheit zurück hätte.
Es war ja schließlich auch, der Duft ihrer ersten Begegnung………
Ende