»Pünktlich auf die Minute, Mr Hendrick.« Es war immer von Vorteil, den Kunden gegenüber seine eigenen Vorzüge herauszustreichen.
»Ach ja, vielen Dank, Mr Duffy.« Hendrick stand vor seiner Haustür und streckte die Hand nach dem Schlüssel aus. Er schien nicht sonderlich erfreut, Duffy zu sehen.
»Ich wollte fragen, ob ich Sie gleich noch mal kurz sprechen könnte.«
»Hmmm? Na schön, dann eben.« Er führte Duffy durch den Flur in die Küche und scheuchte die Kinder einmal mehr verdrossen in den Garten. Diesmal schienen sie widerwilliger als das letzte Mal. Vielleicht wurden sie öfter in den Garten gescheucht, als ihnen lieb war. Und gab es da überhaupt eine Mrs Hendrick?
»Ich hätte wahrscheinlich schon eher fragen sollen, Mr Hendrick, aber hätten Sie was dagegen, Ihre Angestellten mit mir durchzugehen? Mir ein paar Hintergrundinformationen zu geben?«
»Nein, fragen Sie.«
»Mr Gleeson.«
»Sie haben doch nicht etwa Mr Gleeson im Verdacht?« Hendrick sah Duffy an, als hätte er Gleeson bereits in Handschellen an sich gekettet, seine Taschen von Goldbarren ausgebeult und mit Aufschlägen, aus denen Diamanten hervorquollen.
»Ich habe noch gar niemanden im Verdacht, Mr Hendrick, jedenfalls niemanden im Besonderen. Aber wenn man nicht erst mal jeden für verdächtig hält, dann verdächtigt man niemanden, und dann wird man auch nie etwas erkennen.« Das stimmte alles natürlich nicht, aber es war die Formel, die den Kunden zu behagen schien; sie gab ihnen das Gefühl, dass es in Ordnung war zu erzählen, was ihre Lieblingsangestellten für Dreck am Stecken hatten. Und Duffy hatte absichtlich mit jemandem angefangen, dem Hendrick vermutlich vertraute, damit diese Diskussion nicht noch mal von vorn losging, wenn er zu Mrs Boseley kam. »Es gibt bestimmte bewährte Ermittlungsmethoden, die Ihnen vielleicht lästig vorkommen werden, aber ich fürchte, wenn Sie professionelle Arbeit haben wollen, kommen wir nicht drum herum.« Auch dieser Spruch gefiel ihnen: Er appellierte an eine gemeinsame professionelle Einstellung wie auch an den kleinen Jungen in ihnen.
»Selbstverständlich, selbstverständlich. Nun, Gleeson ist ein Prachtkerl. Arbeitet seit vier Jahren bei mir. Fleißig, hat noch keinen Tag gefehlt, kommt gut mit den andern aus.«
»Tan – ein Chinese, wie?«
»Nein, Malaysier, glaube ich. Nun, er ist sehr orientalisch, nicht wahr? Gelb und sagt nicht viel.«
»Vielleicht kommt das, weil er unsere Sprache nicht gut beherrscht.«
»O doch. Hier geboren und aufgewachsen. Netter Kerl, fleißig. Sehr kräftig. Macht diese Sache mit den Händen, was die alle dort machen …«
»Origami?« Vorsicht, Duffy, dachte er bei sich, werd nicht zu klugscheißerisch; aber Hendrick verzog keine Miene.
»Nein, diese Handkantenschläge, mit denen sie Ziegel und so zerschmettern.«
»Ah ja, ich weiß, was Sie meinen.« Schönen Dank auch für die Warnung.
»Casey?«
»Netter Kerl –«, jetzt reicht’s aber, Mr Hendrick – »fleißig. Manchmal ein bisschen schwer von Begriff. Guter Fahrer.«
Duffy fragte nach den anderen beiden – Botsford und McAndrew – und dann, etwas mulmig:
»Und, Sie wissen schon, reine Routinesache – Mrs Boseley?«
Hendrick warf ihm einen scharfen Blick zu, und Duffy machte seine Haben-wir-doch-besprochen-Geste.
»Ach so, na schön. Prachtfrau, sehr tüchtig, hat noch keinen Tag gefehlt, kommt sehr gut mit den Angestellten aus.«
Und führt abends zweifellos ein Rudel Wölflinge an, unter dem Namen Akela oder so. Hendrick war nutzlos. Offenbar hatte er lauter Musterangestellte – sauber, fleißig, ehrlich, gesund und so weiter. Nur dass einer von ihnen eben seine Ware klaute, das war alles. Duffy wechselte den Tonfall, als wäre die professionelle Seite des Gesprächs abgeschlossen und nun säßen sie bei einem Bier und redeten von Mann zu Mann.
»Ganz meine Meinung, Mr Hendrick, sie ist eine tolle Frau. Bei ihr wusste ich von Anfang an, woran ich war. Sie ist schon bei Ihnen, seit Sie die Firma aufgemacht haben?«
»O ja, Mrs Boseley ist schon seit fünf Jahren bei uns.«
»Was hat sie vorher gemacht? Reine Neugier. Ich hab mich bloß gefragt, was eine solche Frau früher gemacht haben könnte.«
»Ich glaube, sie war Chefstewardess bei einer der großen Fluglinien.« Hendrick sprach mit dem Tonfall eines Mannes, der mehr wusste, als er sagte.
»Und warum ist sie nicht dortgeblieben? Inzwischen könnte sie doch bestimmt British Airways leiten, meinen Sie nicht?«
»Nun, ich würde ihr das schon zutrauen, aber sie war wohl der Ansicht, dass sie dort nicht tun könnte, was sie gerne wollte, und dass sie deshalb besser aussteigen sollte. Sie wissen ja, man lässt sie dort nicht über ein gewisses Alter hinaus Stewardessen sein. Eine alberne Einrichtung.«
»Ganz meine Meinung. Ich nehme an …«, Duffys Stimme nahm noch mehr Kneipenvertraulichkeit an. »… es gibt einen Mr Boseley?«
Hendrick lachte, ein seltenes Ereignis, und sein Leichenanzug schlackerte ob dieses unerwarteten Tumults in seinem Innern hilflos herum. Eine schmierig blonde Strähne fiel ihm ins Gesicht.
»Jetzt verstehe ich, worauf Sie hinauswollen, Mr Duffy. Ich fürchte, da kann ich nur sagen, Ihre Chancen stehen schlecht.«
Duffy überredete seine Stimme dazu, in das Lachen einzustimmen. »Oh, ich hab das nicht wegen mir gefragt. Ich dachte nur, nicht wahr, ist doch schade, dass eine solche Prachtfrau ihren eigenen Unterhalt verdienen muss.«
Hendrick blickte immer noch spitzbübisch drein, glaubte ihm offensichtlich immer noch nicht. »Nun, soweit ich weiß, gibt es einen, aber ich glaube, er ist Invalide. Man soll ja seine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken, aber es heißt, er liege in einer eisernen Lunge. Arme Mrs Boseley.«
Armer Mr Boseley, fand Duffy; liegt der nicht nur in einer eisernen Lunge, sondern hat dazu noch Mrs B. als einzigen Sonnenschein. Er ließ seinen Tonfall wieder ins Professionelle gleiten.
»Was ist mit McKay? Wie war er?«
»Oh, ein sehr fleißiger Mann, guter Fahrer, seit Jahren bei uns.« Half Mrs Boseley zweifellos, ihr Rudel Wölflinge zu bändigen. Kennt sich aus mit Zeltpflöcken. Fuhr in seinem Tigerwagen alte Damen über die Straße. Arbeitete bei der Wohlfahrt mit.
»Mit anderen Worten, Mr Hendrick, Ihre Angestellten sind alle schon seit einiger Zeit bei Ihnen – wenigstens ein paar Jahre?«
»Ja.«
»Und die Diebstähle haben erst vor sechs Monaten angefangen?«
»Ja.«
»Hmmm. Ach, noch etwas. Vorbestraft ist ja wohl keiner Ihrer Angestellten?«
Hendrick strich die schmierig blonde Strähne wieder an ihren angestammten Platz.
»Oh, mittlerweile sind die doch bestimmt vollständig resozialisiert.« M-hm.
»Reden Sie schon, Mr Hendrick.« Duffy wurde allmählich stinksauer, versuchte aber, bloß vorwurfsvoll zu klingen.
»Na ja, Tan hat tatsächlich einmal jemanden niedergestochen; aber da war er noch sehr jung, er wusste nicht, was er tat. Ich bin sicher, dass er bis aufs Blut provoziert worden ist. Darum hat er sich das mit den Händen beigebracht.« (Damit er ihnen die Knochen brechen kann und sie nicht mehr abzustechen braucht.) »Und Casey hat schon ein paar Leute verprügelt.«
»Wie viele Verurteilungen?«
»Vier eigentlich. Es war aber immer so eine Situation, wo er gar keine Wahl hatte, so wie er’s erzählt. Ich meine, ich glaube nicht, dass er jemanden verprügeln würde, bloß weil es ihm Spaß macht.«
»Finden Sie nicht, dass ich das vorher schon hätte erfahren sollen?« Diese Scheißkunden.
»Ach, wissen Sie, ich hab das nicht für wichtig gehalten. Ich meine, keiner meiner Angestellten ist wegen Diebstahls vorbestraft. Und keiner von ihnen hat je eine Schlägerei angefangen – jedenfalls nicht in meiner Firma. Ich hatte befürchtet, Sie wären voreingenommen, wenn ich Ihnen das vorher schon gesagt hätte.«
»Ich kann nur sagen, Mr Hendrick, Sie sind ein äußerst fairer Mensch.« Und ein verdammter Idiot.
Er dachte, dass er Hendrick glauben konnte. Er hielt ihn für einen ziemlichen Schlappschwanz und ziemlich naiv; aber er dachte, dass er ihm glauben konnte. Komischerweise war Duffy ja auch fast seiner Meinung. Die Öffentlichkeit meinte immer, einmal ein Verbrecher, immer ein Verbrecher; sie meinte auch, dass jemand, der ein bestimmtes Verbrechen begangen hatte, damit sozusagen in einem riesigen Supermarkt war, wo er jedes Verbrechen, auf das er Lust hatte, aus dem Regal holen konnte. Duffy wusste, dass es nicht so lief. Manche Verbrechen passten zu anderen Verbrechen, andere nicht. Wirtschaftskriminelle etwa hielten sich gewöhnlich an Wirtschaftsverbrechen (war auch nur natürlich, die waren ja so lukrativ). Und Brandstifter, das waren ganz komische Vögel. Die standen nur auf Brandstiftung, jahraus, jahrein; nichts als Brandstiftung. Wenn ein Haus ausbrennt, hilft es nicht, die Totschläger und Bankräuber zusammenzutreiben; da muss man einen Spinner mit einer Streichholzschachtel suchen, einen, der als Kind gern der vorbeifahrenden Feuerwehr zugeschaut hat, einen, der vermutlich ganz schüchtern ist und mustergültig gesetzestreu – außer, dass er gerne Leute in ihren Häusern verbrennen lässt.
Und Diebstahl und Körperverletzung? Na ja, da bestand ein viel engerer Zusammenhang. Aber kein zwangsläufiger Zusammenhang. Manchmal schlug man Leute zusammen, um ihr Geld zu stehlen; manchmal stahl man etwas und musste Leute zusammenschlagen, um davonzukommen. Aber verdammt viele Leute hatten ganz einfach Spaß daran, andere Leute zusammenzuschlagen, einfach so. Sie hatten Spaß daran. Es befriedigte sie. Und es hielt die Person, die sie zusammenschlugen, davon ab, sie weiter zu ärgern. Das konnte Duffy verstehen. Wenn einer ein hier aufgewachsener Malaysier war, sich gar nicht mal als Malaysier fühlte, sondern immer nur verdammt danach aussah, dann hatte der nach ein paar Jahren Schulzeit die Nase voll von all den Kindern, die Schlitzaugen zogen, wenn sie ihn sahen, und im Singsang sprachen und im Kung-Fu-Stil nach ihm traten und dabei ganz zufällig auch einmal trafen, und ihm vor allem stets unter die Nase rieben, dass es mehr von ihrer Sorte gab als von seiner, und so würde es auch bleiben, und das ist aber ein hübscher Kugelschreiber, Schlitzäuglein, den steck ich doch glatt ein. Wer hätte nach einer Weile davon nicht auch Lust, solche Typen ein bisschen mit dem Messer zu kitzeln? Und wenn dem so war und wenn man das tat, dann führte das doch nicht zwangsläufig dazu, dass man zehn Jahre später Lust bekam, italienische Sonnenbrillen zu klauen, oder?
Hmmm. Duffy konnte Hendricks Standpunkt nachempfinden, aber gleichzeitig hielt er ihn für etwas sentimental und schlappschwänzig. Man konnte ebenso gut argumentieren, dass die Kinder, nachdem Tan in der Schule jemanden niedergestochen hatte, ihn vermutlich anders behandelt hatten. Lass die Finger von diesem verrückten Schlitzer mit den Schlitzaugen: Das Augen-Verziehen und die Kung-Fu-Tritte hatten wohl nachgelassen. Kinder haben Respekt vor Gewalt und Wahnsinn – nicht vor schlappschwänzigem, introvertiertem Wahnsinn natürlich, sondern vor verrücktem, aggressivem Mörderwahnsinn. Zweifellos hatte es Tan nach der Messerstecherei in der Schule leichter gehabt. Und zweifellos hätte er daraus schließen können, dass Verbrechen sich komischerweise eben doch lohnt. Das wäre doch ebenso logisch, nicht wahr? Und die logische Folge davon wäre die Ansicht: Es lohnt sich noch viel mehr, wenn du dabei nicht erwischt wirst. Duffy wusste aus Erfahrung, wie man ein Vorstrafenregister zu lesen hatte. Er machte es wie alle Polizisten: Er las jeden Freispruch als Verurteilung, verdoppelte die Zahl der Verurteilungen, betrachtete die Schuldbekenntnisse als das, was sie vermutlich waren – bloße Tricks, um einer schwereren Anklage zu entgehen –, und füllte die Abstände zwischen den registrierten Verurteilungen mit allerlei anderen, unentdeckten Straftaten aus.
Duffy ließ seiner Phantasie freien Lauf, weil es akut an Fakten mangelte. Er konnte nur mit den wenigen, die er hatte, herumspielen. Eine kleine Unterhaltung an McKays Krankenbett wäre ihm nicht unlieb gewesen, aber das war viel zu riskant; zu viele mögliche Verbindungen. Stattdessen rief er Carol an und bat sie, ein halbes Dutzend Namen durch den Computer zu jagen. Er wollte die Vorstrafenregister mit dem vergleichen, was ihm Hendrick gegeben hatte. Dann fiel ihm noch ein zusätzlicher Name ein – Hendrick. Man konnte nie wissen.
Carol wollte es nicht tun. Dass Duffy sie einfach so als Teil der Dienstleistungen benutzte, die er seinen Kunden anbot, missfiel ihr. Es war auch strikt gegen die Polizeivorschrift. Sie konnte auf der Stelle gefeuert werden. Duffy spielte die Wichtigkeit dieser Kontrolle hoch, bis Carol schließlich einwilligte. So riskant war es im Grunde ja auch nicht; und er brauchte es doch für seine Arbeit; und eigentlich war er ja in der gleichen Branche wie sie.
Er bat sie außerdem, ihm für diesen Abend ihren Wagen zu leihen, aber das lehnte sie ab. Morgen konnte er ihn haben, aber nicht heute Abend. Duffy war einverstanden, legte auf und stellte sich vor, wie sie mit John Travolta in der Roller-Disco tanzte und ihm mittendrin von Robert Redford ausgespannt wurde, der sie zu einem opernwürdigen Diner bei Kerzenlicht entführte (warum trug sie in seiner Phantasie immer noch ihre Uniform?) und sie dann später in seinem Apartment vor Freude und Verzückung weinen und jauchzen ließ. Währenddessen dachte Carol: Na ja, dies eine Mal hätte ich Tantchen ja vertrösten können, aber bei Männern muss man gewisse Prinzipien wahren; besonders bei Duffy.
Montags im Betrieb erwartete ihn eine kitzlige Aufgabe. Gleeson. Duffy hoffte, er würde es nicht verbocken. Es ging in erster Linie darum, den richtigen Ton zu treffen. Wichtig war aber auch, nicht zu früh darauf zu sprechen zu kommen, damit sie ein bisschen schwitzten und sich fragten, was wohl passiert war; aber er durfte es auch nicht so lange aufschieben, dass sie dachten, dass überhaupt nichts passiert sei. Duffy verbrachte einen Teil des Tages mit der Überlegung, ob Malaysier im englischen Klima Sonnenbrillen brauchten; und dann, um die Mitte des Nachmittags herum, fand er, dass er es jetzt tun sollte, bevor er sich zu viele Gedanken darüber machte. Er ortete Gleeson, der mit einem Klemmbrett in der Hand einige Kisten überprüfte, und schlenderte zu ihm hinüber.
»Kannst du mir kurz mit meinem Wagen helfen?«
Gleeson blickte nicht auf und kontrollierte weiter seine Liste.
»Er steht falsch.«
Gleeson ignorierte ihn.
»Er steht falsch.«
Gleeson ignorierte ihn immer noch. Er schürzte seine Lippen über dem Klemmbrett, und seine langen Koteletten schoben sich nach vorne.
»Er steht falsch.«
»Verpiss dich, Duffy«, sagte Gleeson in ruhigem, scheinbar freundlichem Ton.
Wenn man ihn nicht dazu bringen konnte, nach draußen zu kommen, musste man es ihm eben hier sagen. Oder aber man versuchte etwas anderes, damit er einem nicht mehr sagte, man solle sich verpissen. Mit schon fast gedämpfter Stimme sagte Duffy:
»Ich nehme an, du hast Handschuhe getragen, Gleeson; ich jedenfalls hatte welche an.«
Dann schlenderte er gemächlich davon, hinaus durch das Doppeltor und zum Parkplatz. Eine Minute später standen sie Seite an Seite über den Motor von Duffys Lieferwagen gebeugt. Gleesons bloße Anwesenheit sagte für Duffy etwas Zusätzliches aus: dass er keine Handschuhe getragen hatte.
»Also, was war mit Freitag?«
»Was war mit Freitag?«
»Das Zeug in meinem Wagen.«
»Was für Zeug?«
»Die Taschenrechner.«
»Was für Taschenrechner?« Herrgott, das war ja wie eine Englischstunde für Ausländer: Wiederholt alles, was ich sage, aber macht eine Frage daraus.
»Am Freitag haben in meinem Wagen Taschenrechner gelegen.«
»Hast du Taschenrechner geklaut, Kumpel? Pass nur auf, dass ich das nicht melde.«
»Du hast mir am Freitag sechs Taschenrechner in den Wagen gelegt.«
»Ach, wie käme ich denn dazu? Hast du etwa Geburtstag oder so ’n Scheiß?«
»Und ganz zufällig bin ausgerechnet ich am Tor von der Kontrolle angehalten worden.«
»Immer auf Draht, die Sicherheitsleute hier. Da sind die eisern.«
»Du hast dir am Freitag meine Wagenschlüssel ausgeborgt.«
»Hab ich das, Kumpel? Dann wollt ich wohl deinen Wagen ein Stück wegfahren oder so was.«
»Du hast meinen Wagen nicht weggefahren.«
»Warum sollte ich mir dann deine Schlüssel ausborgen? Denk doch mal logisch, Kumpel.«
Duffy wurde von dem Gefühl beschlichen, die Diskussion nicht ganz im Griff zu haben. »Und warum bist du nach draußen gekommen, sobald ich was von Handschuhen gesagt hab?«
»Ach, das hast du gesagt? Ich hörte dich irgendwas murmeln. Dachte, du brauchst Hilfe mit deinem Wagen. Darum bin ich rausgekommen. Jetzt erzählst du mir, dass du Taschenrechner geklaut hast. Ich glaube, irgendwie bist du von diesem Job vielleicht ein bisschen überfordert, Duffy.« Gleeson lächelte ihm freundlich zu; er verstand es, freundlich zu wirken, solange er es nicht ehrlich meinte. Jetzt half nur noch ein radikaler Kurswechsel.
»Okay, fangen wir nochmals von vorn an. Sagen wir, das Auto sei repariert. Sagen wir, du hast es am Freitag weggefahren. Sagen wir, ich habe nicht irgendwo ein Päckchen, auf dem jemand seine Fingerabdrücke hinterlassen hat oder auch nicht.« (Nicht dass das irgendetwas bewiesen hätte, so viel war Duffy klar.) »Sagen wir, ich bin am Freitag nicht von der Torwache gefilzt worden, oder wenn, so war es rein zufällig. Okay?«
»Irgendwie bist du von diesem Job ein bisschen überfordert.«
Verbissen machte Duffy weiter. »Fangen wir also hier noch mal von vorn an. Ich brauche diesen Job, Gleeson. Er gefällt mir zwar nicht mehr als andere Jobs, aber ich brauche ihn. Es ist keine gute Zeit, um keinen Job zu haben. Also: Es macht mir nichts aus, dass du mir Scheißarbeiten gibst, mich Kisten rumschieben lässt, obwohl du so verdammt gut wie ich weißt, dass man sie nicht rumzuschieben braucht. Es macht mir nichts aus, dass du mich im Schuppen in eine Scheißecke stellst, in der ich mir die Beine in den Bauch stehe. Bei euren Kartenspielen will ich nicht mitmachen, weil ich nämlich gar nicht Karten spiele. Es ist mir sogar egal, warum du nicht willst, dass ich hier arbeite; das ist deine Sache. Ich sag dir nur eins: Ich arbeite hier, und ich werde verdammt noch mal weiter hier arbeiten, da kannst du dich auf den Kopf stellen und mit dem Arsch Mücken fangen. Und wenn du mich zu ficken versuchst, dann fick ich dich, verfickt noch mal, darauf kannst du Gift nehmen!«
Duffy hoffte, dass die Art und Weise, wie er von Pathos auf Aggression und schließlich auf manische Starrköpfigkeit geschaltet hatte, Wirkung zeitigen würde. Das Dumme war nur, dass er gar nichts auf Lager hatte, womit er wirklich drohen konnte. »Sonst lass ich dir die Luft aus den Reifen …« »Sonst trete ich dir auf die Schnürsenkel …« – so hörte sich das für ihn an. Er hoffte nur, dass es sich für Gleeson etwas überzeugender anhörte; er hoffte, dass das Vorhandensein und der gegenwärtige Aufbewahrungsort der Taschenrechner ihm wenigstens ein kleines Druckmittel in die Hand gaben. Sonst konnte er nur die Zähne zusammenbeißen, den Kopf einziehen und nach Leuten Ausschau halten, die es ihm besorgen wollten.
Wenigstens machte Gleeson eine ernste Miene, als sie zum Schuppen zurückgingen. Seine buschigen Augenbrauen drängten sich nachdenklich zusammen. Als sie durch das Doppeltor traten, wandte er sich vertraulich Duffy zu und sagte:
»Ach, übrigens, Duffy, an deiner Stelle würde ich keine von diesen Taschenrechnern mehr klauen. Ich meine, du kannst ja nicht mehr als einen aufs Mal benutzen, stimmt’s?«
Während Duffy sich wieder seiner Arbeit widmete, überlegte er, dass diese Unterhaltung, so notwendig sie gewesen war, auch die unerwünschte Nebenwirkung haben würde, die Dinge erst mal einzufrieren. Für Gleeson (vorausgesetzt, es war nur Gleeson, oder »sie«, sofern es »sie« gab) war es nun klar, dass Duffy aufpasste, ob ihn jemand verscheißern wollte, ob ihm jemand eine tote Katze in den Auspuff stopfte oder was auch immer. Er würde sie beobachten (vorausgesetzt, es gab »sie«), und sie würden ihn beobachten. Vielleicht würden sie versuchen, ihn zu verscheißern; vermutlich würden sie ihn nur in seiner Dummenecke versauern lassen; was sie bestimmt nicht tun würden, war, bei den fünfzig Pfund in seinem Spind anzuknüpfen (immer vorausgesetzt, dass das Geld überhaupt damit zu tun gehabt hatte; andererseits war es vielleicht nur eine Art vorbereitender Köder gewesen, damit er die Taschenrechner annehmen würde). Wie dem auch sein mochte, Duffy war klar, dass er alle Mühe haben würde, von dieser Position aus noch irgendetwas zu erreichen. Er konnte nur hoffen, dass sein Herumgerenne nach Feierabend etwas bringen würde.
So brachen für Duffy zwei äußerst langweilige Wochen an. Jeden zweiten Tag rief er den dritten Schrotthändler an, aber da meldete sich nie jemand. Er borgte sich Carols rostenden Mini aus, so oft es ihm erlaubt war, und beschattete jeden Abend eine von vier Personen: Gleeson, Tan, Casey oder Mrs Boseley. Das heißt, er fuhr mit seinem Lieferwagen zu Carol, holte den Mini ab, fuhr zu einer der Adressen, die er in sein Notizbuch geschrieben hatte; und saß dann da und wartete, dass etwas geschah. Es war keine besonders gute Methode, um ihre Gewohnheiten kennenzulernen; es war sogar kaum nützlicher, als wenn er zu Hause geblieben wäre und sich einen runtergeholt hätte; aber wenn sein Hintern stündlich tauber wurde, hatte er wenigstens das Gefühl, etwas für sein Geld zu tun.
Der Haken bei seinem Zeitplan war natürlich, dass die Leute, bis er seinen Wachposten vor ihrem Haus bezogen hatte, oft schon für den Abend weggegangen waren. Casey zum Beispiel schien nach Feierabend nur ein paar Minuten zu Hause haltzumachen – ein kurzes Gurgeln mit Mundwasser entsprach für ihn wahrscheinlich einem Ausgehanzug. Zwei Abende verbrachte Duffy ergebnislos vor Caseys Penne in Heston, bis er begriff, dass Casey bereits ausgegangen war und vermutlich auf irgendeinem Kinoparkplatz seinen speziell tätowierten Frauenfinger trainierte. Am dritten Abend ging Duffy ein Risiko ein und folgte ihm mit dem Lieferwagen direkt von der Arbeit nach Hause. Natürlich beschloss Casey genau an diesem Abend, zu Hause zu bleiben. Am nächsten Tag fragte er Duffy über seine Doppelportion Fleischpastete und Bohnen hinweg:
»Haste gestern Nacht den Fight gesehn?«
Duffy bedauerte; Casey versicherte ihm, dass es ’n einmalig toller Fight gewesen sei.
Bei Gleeson musste er vor einem großen Zweifamilienhaus in Uxbridge sitzen; es gab eine Mrs Gleeson und, dem Lärm nach, ein Baby Gleeson. Das war vielleicht der Grund, weshalb sie nicht oft ausgingen. Zumindest nicht an den Abenden, die Duffy gewählt hatte. Das Einzige, was ihn etwas stutzig machte, waren die zwei Autos, die sich auf der kleinen Betonparkfläche drängten: der Viva, in dem Gleeson zur Arbeit fuhr, und ein großer Granada mit brandneuer Zulassung. Vielleicht verfügte Mrs Gleeson über ein eigenes Einkommen.
Tan war ein bisschen interessanter. Er wohnte bei seiner Familie am Rande von Southall. An den meisten Abenden ging er mit seiner Freundin aus – zu Duffys Glück allerdings nicht, ohne zuvor mit seinen Eltern ein gutes malaysisches Mahl eingenommen zu haben. Duffy stellte sich dieses Mahl vor, während er sich eine Schweinefleischpastete reindrückte und so schnell wie möglich von Carols Wohnung zurück nach Southall fuhr. Wenn er sich beeilte, kam er gerade rechtzeitig, um Tan folgen zu können, wenn er seine Freundin ins Kino ausführte oder ins Pub oder, einmal, zu einem Spaziergang im Park.
Mrs Boseley wohnte in der Rayners Lane, was für Duffy ein bisschen bequemer war – die Western Avenue hinunter und dann querbeet. Abends schien sie gerne ihren Vorgarten zu gießen, was für Duffy hieß, dass er ein Stück weiter weg parken musste. Was ihr auch Spaß zu machen schien, war ein freundlicher Plausch mit ihren Nachbarn. Nicht sehr ergiebig für seinen Bericht an Hendrick.
Diese Ermittlungsmethode kostete eine Menge Sprit. Sie kostete Duffy auch eine Menge Geduld. Nach neun Nächten hintereinander hielt er es nicht mehr aus. Er nahm sich den Abend frei und ging in den Gemini Club. Dort ging er auf Fischfang, wenn ihm der Alligator etwas abgestanden vorkam, wenn er die immer gleichen Gesichter, die am Wermut nippten, über hatte, wenn er Lust hatte auf etwas weniger Erwartbares, auf ein bisschen mehr Jagdgeplänkel. Es ging zwar nicht grob zu im Gemini, aber der Konkurrenzkampf war schärfer. Man musste sich ranhalten dort, ein bisschen mehr springen lassen; aber das Angebot war auch viel abwechslungsreicher. Duffy wurde ein sehr netter Schwede unter der Nase weggegabelt (es war zwar ein Klub, bei dem man Mitglied sein musste, aber Ausländer wurden gegen Vorlage ihres Passes ebenfalls zugelassen); schließlich kam er nach Hause mit einem schüchternen Verlagsvolontär, der recht heftig flirtete, sich von Duffy zu viele Drinks spendieren ließ, ihm im Lieferwagen eröffnete, dass er so was noch nie gemacht habe (Duffy glaubte ihm kein Wort, versicherte ihm aber, dass es nicht wehtun würde), und dann bockig wurde, als er seine Uhr in der Tupperware-Box deponieren sollte. Er ging in der Wohnung herum, nackt und betrunken, die Uhr immer noch am Handgelenk, und rief: »Ich will doch unsere Zeit stoppen, ich will unsere Zeit stoppen.« Als Duffy schließlich Anzeichen von Ungeduld erkennen ließ, zog der Typ ein langes Gesicht, latschte folgsam ins Badezimmer, legte seine Uhr in die Box und kotzte prompt hinterher. Während Duffy die Kotze von der Uhr spülte und dem Schnarchen vom Sofa zuhörte, schwor er sich einmal mehr, dem Alligator treu zu bleiben.
Am übernächsten Abend tat sich etwas. Mrs Boseley ging aus. Um 20.30 Uhr trat sie aus der Haustür und versetzte Duffy einen Schock. Sie hatte keine Gießkanne in der Hand; sie sah sich nicht nach einem schwatzfreudigen Nachbarn um; sie ging stracks zu ihrem Wagen und fuhr los. Und obendrein trug sie ihr Haar offen.
Sie war eine forsche Fahrerin, doch er vermochte ihr ohne große Schwierigkeiten ins Westend zu folgen. Sie kannte sich hier offensichtlich aus; Duffy kannte sich aber noch besser aus. Nach drei Jahren als Detective-Sergeant in Soho kannte er noch jede Gasse, jede Einbahnstraße und die meisten Straftaten aus dem Repertoire. Mrs Boseley parkte in der Great Marlborough Street; er fuhr an ihr vorbei, hielt dreißig Meter weiter vorn an und beobachtete im Seitenspiegel, wie sie ausstieg und ihren Wagen abschloss. Er folgte ihr die Poland Street entlang, dann die Broadwick Street hinunter, einmal links und einmal rechts, und dann verschwand sie in einem Klub. Ein paar Minuten lang blieb er gut zwanzig Meter vom Eingang entfernt stehen, dann überquerte er die Straße und schlenderte gemächlich den gegenüberliegenden Gehsteig entlang.
Dude’s hieß der Klub, und schon von der anderen Straßenseite sah er nicht nach der Sorte Lokal aus, in der Mrs Boseley verkehrte – jedenfalls nicht die Mrs Boseley, die er kennengelernt hatte. Über dem Eingang war eine rotbraune Markise, auf der in drei Fuß hoher lateinischer Schrägschrift Dude’s stand. An den Fenstern waren Samtvorhänge, mit Spitzenbändern zur Seite gerafft; aber obwohl die Vorhänge zurückgezogen waren, konnte man nicht hineinsehen, da es an der Innenseite auch Läden gab, und die waren geschlossen. Um sich eine Vorstellung davon zu machen, wie es im Innern aussah, musste man die großen Schaukästen zu beiden Seiten des Eingangs studieren, in denen große, von hinten beleuchtete Farbdias hingen.
Duffy ging über die Straße und warf einen raschen Blick darauf. Ein Bild zeigte eine halbrunde Bar mit vielen Hockern, keiner davon besetzt; dann gab es ein Bild von einem mutmaßlichen Speisesaal mit diversen Separees hinter hüfthohen Pendeltüren mit Lamellen. Es gab auch zwei Bilder von sehr hübschen Mädchen, die eine dunkel, die andere blond, beide mit nackten Schultern. Über dem Schaukasten zur Linken las Duffy: Dude’s – wo sich der Gentleman entspannt; über dem Kasten zur Rechten las er: Dude’s – wo Sie in bester Gesellschaft sind.
Er ging weiter und bezog gut dreißig Meter vom Eingang entfernt Stellung. Nach einer knappen Stunde kam Mrs Boseley heraus und machte sich, ohne nach rechts oder links zu schauen, auf den Weg zu ihrem Wagen. Duffy folgte ihr so lange, bis er sicher annehmen durfte, dass sie nach Hause fuhr; dann bog er ab, brachte den Mini zurück zu Carols Wohnung und tauschte ihn gegen seinen Wagen. Er schob die Schlüssel durch den Briefschlitz; darauf hatte Carol bestanden. Beim Wegfahren warf Duffy einen unheilvollen Blick auf die geparkten Autos in der Nähe. Gehörte das dort nicht Paul Newman?
Bei der Arbeit am nächsten Tag ertappte er sich gelegentlich dabei, wie er durch die Halle zu Mrs Boseleys gläsernem Horst hinüberschielte. Schau, schau, dachte er. Der normale, seriöse Job, das kleine Haus in der Rayners Lane, die Gießkanne, der Ehemann in der eisernen Lunge – und dann plötzlich die Haare aufmachen und ab in den Schmuddelklub. Was hatte das zu bedeuten; was hatte das bloß zu bedeuten? Ging sie ab und zu auf Abstaube, um die Behandlungskosten ihres Mannes decken zu helfen? Aber wenn dem so war, lohnte es sich denn, wegen einer einzigen Stunde die weite Fahrt in die Stadt zu machen? Da müsste man schon etwas unglaublich Abartiges machen, damit sich das lohnte, dachte Duffy. Und als sie herauskam, wirkte sie keineswegs so, als hätte sie gerade etwas unglaublich Abartiges getan.
Vielleicht gab es ja eine völlig harmlose Erklärung. Nach Duffys Erfahrung gab es die zwar nie; aber versuchen konnte man’s ja. Vielleicht arbeitete ihr Bruder da; oder so etwas wie eine uneheliche Tochter. Würde man seine uneheliche Tochter bei der Arbeit besuchen? Und warum hatte sie ihr Haar aufgemacht? Sie sah besser aus mit offenem Haar, das musste Duffy zugeben, weniger frostig. Beinahe wie jemand, der nicht fies war.
Dieses Rätsel hielt Duffy den ganzen Tag über bei Laune. Und obendrein wusste er, dass er heute Abend nicht Tan zu der malaysischen Disco in Hayes folgen würde, nein danke. Nach Feierabend rief er Carol an, ob er vorbeikommen könne; nein, er brauche ihren Wagen nicht. Was er brauchte, war der braune Umschlag, den er bei ihr hinterlegt hatte. Es war nicht anzunehmen, dass ein »Gentleman« sich für einen Pappenstiel »entspannte«. Ebenso wenig war anzunehmen, dass er dies in einem grünen Wildlederblouson mit großem Plastikreißverschluss und Rollkragenpullover und Jeans tat. Ein Teil von Duffy dachte: Scheiß drauf, ich zahle schließlich, warum soll ich mich nicht kleiden, wie ich will? Der vernünftigere Teil dachte: Du solltest nicht mehr auffallen als nötig. Er kramte im hintersten Winkel seines Kleiderschranks und förderte einen echten Polizistenanzug zutage, ein zartes Schlammbraun mit schmalen Hosenbeinen und Aufschlägen, die nicht breiter waren als die Dreiecke auf einem Backgammon-Brett. Er zog ihn an und hatte sofort ein unbehagliches Gefühl um die Taille; er löste die zwei elastischen Knopflaschen an der Seite des Hosenbunds, aber das schien nicht viel auszumachen. »Das ist bloß die Reife, die mich ausfüllt«, sagte er sich; aber die andere Stimme flüsterte: »Du wirst fett, Duffy, du wirst fett.«
Er fand einen Schlips, so dünn wie eine Stangenbohne, und schlang ihn um den Hals. Als er ihn stramm zog, fühlte er sich wie ein Selbstmörder; Herrgott, selbst der Hals war fett. Dann betrachtete er sich im Spiegel. Er sah lächerlich aus. Er sah aus wie das Mitglied einer Rockgruppe aus den Sixties, die sich Gerry and the Pacemakers zum Vorbild genommen hatte und nie auf einen grünen Zweig gekommen war; er zwirbelte ein paar imaginäre Trommelstöcke. Auf jeden Fall sah er nicht aus wie ein »Gentleman«, der sich »entspannen« wollte. Ob er den Stecker aus dem Ohr nehmen sollte? Ob er die Desert Boots ausziehen sollte? Ach, scheiß drauf – er hatte schon genug Konzessionen gemacht. Wenn die erst die Farbe seiner äußerst gebrauchten Ein-Pfund-Noten sahen, dann wüssten sie, mit wem sie’s zu tun hatten.
Als Carol ihn sah, brach sie in Gelächter aus.
»Wo gehst du hin, Duffy – zu einem Rock-Revival?«
»Ist es so schlimm? Ich hatte mich für recht smart gehalten.«
»Duffy, du siehst abscheulich aus.« Und sie küsste ihn auf die Lippen, aus schierem Vergnügen darüber, wie entsetzlich er aussah. Der Hosenbund schnürte ihm den Leib ein, sodass er einen Drang zum Pinkeln verspürte. Als er zurückkam, sagte Carol:
»Ach ja, ich hab diese Namen für dich überprüft. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich wollte nichts riskieren.«
»Klar. Danke, Schatz. Was hast du rausgekriegt?«
Sie reichte ihm ein Blatt Papier. Er überflog es. Genau wie Hendrick gesagt hatte. Und Hendrick selbst war sauber. Trotzdem musste er sich gebührend dankbar zeigen.
»Das ist sehr nützlich, Schatz. Genau was ich brauche.«
»Wie läuft es?« Sie hatte nicht mehr nachgefragt, was »es« war, weil sie es eigentlich gar nicht wissen wollte. Aber sie machte sich ganz allgemein Sorgen um Duffys Karriere.
»Nicht sehr gut. Eine zähe Angelegenheit. Immerhin bringt es was ein.«
»Das ist die Hauptsache.« Sie holte den braunen Umschlag. Er nahm das Geld heraus und stopfte es in die Tasche. Als er hinausging – Carol unterdrückte ein Kichern beim Anblick seines kurzen, schlitzlosen Jacketts, wie aus einem Gangsterfilm –, kam er sich allmählich wie ein wohlsituierter Herr vor. So konnte er als »Gentleman« durchgehen, im Dunkeln, mit dem Licht im Rücken.
Er parkte in der Great Marlborough Street, und in seinem Magen begann sich ein flatterndes Händepaar zu rühren. Er machte sich auf den Weg zum Dude’s, das neu aufgegangen war, nachdem er dieses Revier verlassen hatte. Wie würde es sein? Würde es schick sein? Würde es schmierig sein? Egal wie, jedenfalls besser, als in einem rostenden Mini in der Rayners Lane zu sitzen.
Auf der gläsernen Doppeltür stand Dude’s. Auf der spezial angefertigten Fußmatte stand Dude’s. Auf der inneren gläsernen Doppeltür stand Dude’s. Sie verstanden es, einem klarzumachen, wo man sich befand. Drinnen kam es Duffy erst mal sehr düster vor. Zu seiner Linken gab es eine Garderobennische, in der ein Mädchen stand. Vielleicht wäre er auch so stehen geblieben, aber jetzt musste er einfach. Ihre Brüste waren völlig nackt und obendrein sehr schön, fand er.
»Ihren Hut, Sir«, sagte sie.
»Ich habe keinen Hut.«
»Nein; Ihren Hut, Sir.«
Er trat näher. War er begriffsstutzig? War es unfein, ihre Brüste anzuschauen?
»Tut mir leid«, sagte er, »ich bin zum ersten Mal hier.«
»Das macht gar nichts, Sir«, erwiderte sie mit einem Zahnpastalächeln. »Aber Sie werden natürlich eines der Mädchen mit nach unten nehmen.«
»Oh, ja, natürlich.«
»Zwanzig Pfund, bitte.«
»Oh, ja, natürlich.«
Bedächtig zählte er zwei Fünftel seines Bündels ab und fragte sich, wofür er da zahlte. Fragte sich vor allem, für wen er da zahlte. Wo war unten? Und wo waren die Mädchen?
Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Als er sich von der Garderobiere abwandte, sah er sie. Zu seiner Rechten war die lange, halbrunde Bar, die draußen abgebildet war, allerdings wirkte sie kleiner und weniger feudal als auf dem Foto. Um die Bar waren etwa fünfzehn Mädchen verstreut, von denen gut fünf sich um einen dicken Mann am anderen Ende bemühten. Wie Duffy bemerkte, waren verschiedenste Mädchentypen vertreten, darunter auch eine Pro-forma-Schwarze und eine Pro-forma-Chinesin (vielleicht auch Pro-forma-Malaysierin), aber eines hatten sie alle gemeinsam: Ihre Brüste waren nackt. Das heißt bis auf eine, die ein Trikot trug. Als Duffy zur Bar trat, zog dieses Mädchen automatisch das Oberteil ihres Trikots herunter, damit er ihre Brüste sehen konnte, die durch die Bewegung ins Pendeln gerieten.
Die acht oder zehn Mädchen an seinem Ende der Bar machten ihm Platz und wiesen ihm den Weg zu einem freien Barhocker, indem sie beiseitetraten. Der enorm große Barkeeper legte ihm nahe, einen Drink zu bestellen, und Duffy konnte ihm nur beipflichten. Er bestellte einen Whisky.
»Vier Pfund, Sir.« Mit dieser Stimme war nicht gut streiten; wenn schon, war man eher geneigt zu sagen: »Ist das alles, können Sie nicht noch was drauflegen, da, nehmen Sie doch sieben Pfund.« Es war ein enorm kleiner Whisky. Jetzt hatte Duffy schon fast die Hälfte seiner Barschaft durchgebracht.
»Tut mir leid, aber ich fürchte, ich kann es mir nicht leisten, euch allen eine Runde auszugeben«, sagte er bedauernd zu den Mädchen, die ihn umgaben. Noch nie in seinem Leben hatte er so viele verschiedenartige und verschiedenbrüstige Mädchen auf einmal gesehen. Es war ein komisches Gefühl. Es war weniger ein Gefühl von Verruchtheit; eher ein Gefühl, als wäre er im Zoo.
»Das macht nichts«, sagte das Mädchen zu seiner Rechten. »Wir trinken eh auf Kosten des Hauses.« Die meisten tranken Orangensaft. Er nippte an seinem Whisky. Er spürte, wie die Unterhaltung allmählich erstarb.
»Na, was macht ihr denn so?«, sagte er nervös, als sei er auf einer Party. Es war vermutlich die unnötigste Frage, die er in seinem ganzen Leben gestellt hatte. Die Mädchen kicherten.
»Was machst denn du so?«, konterte die eine zu seiner Linken, ein dunkles Mädchen mit einem nordenglischen Akzent und Brüsten, die etwa in der Mitte zwischen den angebotenen Extremen lagen.
»Ich bin … Ich bin …« Eine oder zwei fingen bereits an zu kichern. Wahrscheinlich logen die Männer immer, das gehörte zu den Spielregeln, und die Mädchen wussten immer Bescheid. Schließlich sagte er: »Ich bin ein … Couturier.«
Sie wieherten los, und eines der Mädchen aus dem Umfeld des Dicken löste sich und kam zu Duffys Gruppe herüber. Wieder geriet die Unterhaltung ins Stocken. Er war schon fast am Ende seines Whiskys angelangt.
»Also«, sagte das Mädchen zu seiner Linken. »Genug gesehen? Wen nimmst du mit nach unten? Die Spannung steigt ins Unerträgliche.«
»Oh.« Duffy griff nach seinem Whisky und kippte den letzten Teelöffel voll runter. Er schreckte davor zurück, sie alle voreinander zu begutachten, obgleich er seine zwanzig Pfund bezahlt hatte. Er zog den Kopf ein und sagte: »Oh, äh, dann wohl dich.«
Sie standen auf, worauf das Mädchen im Trikot die Träger hochzog und ihre Titten wieder verstaute. Da würden sie bleiben bis zum nächsten Kunden. Er folgte dem Mädchen, das er ausgewählt hatte, durch den Raum zur Treppe. Er bemerkte, dass sie schwarze Samthosen trug, die in halber Wadenhöhe aufhörten, wie bei einem Gondoliere, und dazu goldfarbene, hochhackige Sandalen.
Als sie die Treppe hinuntergingen, schien es noch dunkler zu werden. Es roch stark nach Räucherstäbchen. Sie erreichten den anderen Raum, der draußen abgebildet war, den mit den Separees und den Pendeltüren mit Lamellen. Nach einigem Umherspähen ortete das Mädchen ein leeres Separee, und da machten sie es sich bequem. Sie drückte auf einen Klingelknopf und sagte:
»Wie heißt du, Süßer?«
»Nick, und du?«
»Delia. Schrecklicher Name, nicht? Kannst was anderes zu mir sagen, wenn du willst. Das tun die meisten.«
»Nein, schon gut, das … ist schon okay.« Er würde wohl kaum in die Lage kommen, ihren Namen zu benutzen; ihre Begegnung war nicht von der Art, dass er quer durch ein Gedränge nach ihr würde rufen müssen. Ein Kellner kam mit zwei Gläsern und einer Piccoloflasche Sekt; sie stand in einem Kübel voller Schmelzwasser.
»Zehn«, flüsterte ihm das Mädchen zu, und er zählte noch etwas mehr von Gleesons Geld ab.
Das Mädchen schenkte zwei Gläser voll und stieß mit ihm an. Er trank von seinem Glas; sie stellte ihres auf den Tisch.
»Wo haste denn die Kleider her?«
»Gefallen sie dir?«
»Ja, finde ich echt stark. So original Fifties, nicht?«
»M-hm.«
»Wo haste sie her?«
»Oh, ich kenne da so einen kleinen Laden. Die machen Fifties-Nostalgie-Mode.«
Das Mädchen lächelte ihn an, fast ein normales Lächeln, fand er.
»Warum riechen sie dann nach Mottenkugeln?«
»Das ist nur mein Rasierwasser. Auch das ist wieder schwer im Kommen. Hast du noch nie davon gehört. Kölnisch Mottenwasser – Eau de Motte?«
»Du machst Witze.«
»Nein, ehrlich.«
»Du bist komisch.«
»M-hm.«
»Du kannst meine Titten anfassen, wenn du willst.«
»Oh.«
»Hast schließlich dafür bezahlt. Darum hängen sie ja raus. Die sind nicht bloß zum Anschauen.«
»Natürlich nicht.« Es war allenfalls eine Spur erregender als die Aufforderung, einen Beutel Puderzucker anzufassen, fand er; Delia verstand es wirklich, ihrer Einladung jegliche Erotik auszutreiben. Er streckte die Hand aus und legte sie um ihre rechte Brust. Sie schien geradezu erleichtert, als würde jetzt endlich der Ziemlichkeit Genüge getan.
Er blickte auf den Tisch. Neben dem Sekt standen da noch drei Dinge: eine brennende Kerze; ein Strauß exotisch aussehender Blumen; ein qualmendes Räucherstäbchen.
»Die sind echt«, sagte sie. Vermutlich sprach sie jetzt nicht mehr von ihren Titten.
»Tatsächlich?«
»Ja – riech mal.«
Das hatte er auch vor. Er überlegte sich den logistischen Ablauf dieses Unterfangens und erkannte, dass er sich nicht bis zu den Blumen vorbeugen konnte, ohne zuvor seine Hand von Delias Brust zu nehmen; er hatte ohnehin schon sein Sektglas in der linken Hand gehalten und sich jedes Mal beim Trinken mit den Armen verheddert. Er löste seine Hand von ihrer Brust und beugte sich vor zu den Blumen. Dabei bemerkte er aus dem Augenwinkel eine schnelle Bewegung. Er schnüffelte; sie rochen irgendwie üppig, obschon es bei dem überlagernden Räucherstäbchengeruch schwer zu sagen war.
Er richtete sich wieder auf und legte seine Hand zurück auf ihre Brust: wieder die rechte, die ihm näher lag; es hätte allzu vertraulich gewirkt oder als sei er unzufrieden, wenn er nach der entfernteren gegriffen hätte.
»Was ist das für eine Sorte?«
»Keine Ahnung. Sie sind frisch. Jeden Tag frisch. Mr Dalby lässt sie jeden Tag einfliegen. Aus dem Ausland. Frische Blumen für meine geilen Pflänzchen, sagt er.«
»Warum hast du deinen Sekt weggekippt, als ich an den Blumen gerochen habe?«
»Ach, um ihn loszuwerden und eine neue Flasche zu bestellen. Außerdem schmeckt er mir auch gar nicht mehr. Seit ich hier arbeite, ist er mir richtig verleidet. Soll ich dir einen runterholen?«
»Äh, im Augenblick noch nicht, danke.«
»Kostet einen Zehner, wenn du Bedenken hast wegen dem Preis. Oh, rasch, bestell noch eine Flasche, da kommt Mr Dalby.« Sie drückte auf die Klingel an der Wand, und Duffy nahm die Hand von ihrer Brust, um nach seinem Geld zu greifen. Aus einem Büro über einer kurzen Treppe am anderen Ende des Raums war ein Mann getreten, der jetzt langsam zwischen den Separees entlangging. Er war diskret, spähte nur aus den Augenwinkeln, aber sein bloßer lautloser Auftritt ließ die Mädchen an ihre Klingeln springen und mehr Sekt bestellen.
»Diesmal trink ich deinen auch mit, wenn’s dir nichts ausmacht.«
»Also gut, aber nicht rumtrödeln, du musst ihn so schnell trinken, wie wenn wir beide trinken würden.«
»Also gut.«
Mr Dalby war jetzt fast bei ihrem Separee angelangt. Er ging ein wenig wie ein alter Mann, aber vielleicht war das auch nur, weil er die Gäste nicht erschrecken wollte. Tatsächlich war er um die vierzig, mit einem runden, rosigen Gesicht und einem Nadelstreifenanzug. Duffy schaute weg, und es war nicht das schlechte Gewissen des Freiers, das ihn dazu bewog. Mr Dalby war der Mann in der Schublade.