Duffy schlief sich aus und stand gemächlich auf. Sein Ohr fühlte sich nicht allzu gut an. Er schnappte eine Portion Müsli, die versucht hatte, aus ihrer dreifachen Zwangsjacke von Plastikbeuteln zu entkommen, und kaute sich ohne große Begeisterung hindurch. Er glaubte einfach nicht so recht, dass Müsli war, was es zu sein vorgab. Er konnte einfach nicht glauben, dass es in den Müsli-Fabriken nicht irgendwelche Spaßvögel gab, die ab und zu eine Kiste Sägemehl reinkippten oder einen Beutel Holzspäne oder einen Sack Heckenschnittabfälle, nur um zu sehen, ob irgendjemand einen Unterschied bemerkte. Natürlich nicht. Je schlimmer es schmeckte, umso gesünder war es: Das glaubten doch alle.
Um zehn rief er Carol an. Sie kam verschlafen ans Telefon: Sie hatte wieder mal die alte Scheißschicht gehabt, von sechs bis zwei Uhr früh. Ja, sie würde sehr gerne am Abend vorbeikommen. Irgendwas Besonderes? Würden sie ausgehen? Das war ein Witz, obwohl sie ihn nie als solchen servierte. Sie gingen nie aus. Oder genauer gesagt, er führte sie nie aus. Was habt ihr gestern Abend gemacht, Carol? Oh, Duffy hat mich wieder mal nicht ausgeführt, das haben wir gemacht. Ihre Freundinnen lächelten, weil sie ein bisschen verlegen aussah. Dieser Duffy, dachten sie, ein wahrer Teufel im Bett, uns macht die nichts vor. Wir wissen schon, was die meint, wenn sie sagt, sie seien zu Hause geblieben.
Aber so war es natürlich ganz und gar nicht. Sie blieben zu Hause, und Duffy kochte ihr ein Abendessen, während sie ihn aufzog: Er schrubbe das Gemüse immer so keimfrei sauber, als ginge es um einen Mondflug; ob seinen Lebensmitteln schon mal ein Ausbruchsversuch gelungen sei, und dass seine Messer blanker poliert seien als ihr Schminkspiegel. Sie werkelten jeder für sich wie ein altes Ehepaar. Und im Gegensatz zu dem, was ihre Freundinnen dachten, gingen sie nicht miteinander ins Bett – ebenfalls wie ein altes Ehepaar. Sie sahen fern und plauderten, und manchmal, aber nicht unbedingt, legte Carol ihre Uhr in die Tupperware-Box und kuschelte sich für die Nacht an ihn. Die Erwartung, dass etwas passieren könnte, hatte sie mittlerweile aufgegeben. Das heißt, es passierte schon etwas, bloß anderswo; und nach einer Weile ohne Erwartungen in dieser Richtung hatte es ihr erstaunlicherweise gar nichts mehr ausgemacht. Sie versuchte nicht einmal mehr, sich leise an ihm zu reiben. Sie hatte das leise Gefühl, er würde es ohnehin nicht mögen – es weckte zu viele Erinnerungen.
Als Nächstes rief Duffy Willett an und fragte, ob er nach Feierabend vorbeikommen könne. Er hatte einen ganzen Katalog von Fragen aufgestellt nach all dem, was der alte Willett ihm das letzte Mal serviert hatte. Sein Glucksen klang nach Zustimmung. Dann wählte Duffy eine neue Nummer, eine aus seinem Notizbuch.
»Ist Mr Dalby im Hause?«
»Ich fürchte, Mr Dalby ist im Augenblick nicht zu sprechen, Sir.« Nein: vermutlich noch etwas zu früh. Bis in die tiefe Nacht all diese Rundgänge durch das Dude’s, um sicherzustellen, dass Sektflaschen und Schwänze auch oft genug spritzten: Das musste einen ja schlauchen.
»Wann könnte ich ihn am besten erreichen?«
»Sie könnten’s ja gegen elf nochmals versuchen.«
»Bestens.« Damit käme er so richtig spät zur Arbeit; ein guter Vorwand für Mrs Boseley, um Dampf abzulassen. Um elf rief er wieder an.
»Mr Dalby da?«
»Ich seh mal nach. Wer ist am Apparat?«
»Ach, sagen Sie doch einfach, es sei der Assistent von Lord Brown.«
»Einen kleinen Moment, Sir … ich verbinde.« Verbindlich wie immer, sinnierte Duffy.
»Hallo, hier Dalby.« Eine präzise Stimme, mit neutralem Tonfall, bereit, auf herrisch oder unterwürfig zu schalten, je nachdem, was die Situation gebot.
»Guten Morgen, Mr Dalby, hier spricht Jeffrey Marcus, Assistent von Lord Brown.« Duffy konnte eine völlig unordinäre Stimme annehmen, wenn er wollte. »Es handelt sich aber um eine Privatangelegenheit, die nichts mit Lord Brown zu tun hat.«
»Ja.«
»Ich habe neulich mit Christopher gesprochen, und er sagte mir, Sie seien wieder im Geschäft.«
»Christopher …?« Dalby klang verwirrt, was ja nicht erstaunlich war.
»Ich kenne ihn als Christopher, so nennt er sich mir gegenüber seit ein paar Jahren, aber ich kann mir denken, dass er bei Ihnen einen anderen Namen verwendet. Christopher hat den Bogen raus.«
»Wenn Sie meinen …«
»Da Sie also wieder im Geschäft sind, würde ich gerne heute Abend mal bei Ihnen vorbeikommen.«
»Können Sie sich etwas deutlicher ausdrücken?«
»Das halte ich nicht für besonders klug, oder? Nicht auf dieser Linie …«
»Oh, da haben Sie wohl recht …«
»Sagen wir, um neun, Mr Dalby? Und ich benutze den Vordereingang, ja?« Duffy hoffte, dass er »Nein, nicht durch den Vordereingang« sagen und ihm eine Alternative vorschlagen würde, aber sein selbstsicherer, schon fast gebieterischer Ton gegenüber Dalby hatte seine Wirkung offenbar nur zu gut getan.
»Ja, neun Uhr, ja, in Ordnung, Mr Marcus, ich werde Sie erwarten.«
Das zumindest war gut gelaufen. Duffy betrachtete den Erfolg dieses Anrufs als Schmerzensgeld für sein lädiertes Ohr; das heißt, als erste, klitzekleine Anzahlung. Sofern der Rest so glattlief. Sofern er Dalby beim persönlichen Gespräch weiter einwickeln konnte; sofern Willett die richtigen Antworten lieferte; sofern Mrs Boseley sich an ihre Abmachung hielt und ihm nicht irgendetwas anhängte und ihn mit einem Bullen an der Tür empfing, wenn er zur Arbeit kam; sofern Plan A – der Sorgfalt, Intelligenz, Scharfsinn und eine enorme Portion Glück erforderte – funktionierte. Falls er das nicht tat, würde Duffy auf Plan B zurückgreifen müssen, der einiges an Fiesheit, nicht ganz legalen Tricks und eine nicht ganz so enorme Portion Glück erforderte.
Wie einen Rosenkranz ließ Duffy sich die Gedankenkette durch den Kopf gehen, während er gemächlich zur Arbeit fuhr; er hatte das Gefühl, dass es heute für den Lieferwagen nicht gut wäre, schneller als siebzig zu fahren, und trödelte so die M 4 entlang, ab und zu angerempelt von den Druckwellen vorbeibrausender Flughafenbusse. Der Rosenkranz ging so: frische Blumen, Räucherstäbchen, Litschis in Dosen, Pistazien, frische Muscheln, Verschiedenes. Dalby musste irgendwo noch ein Restaurant haben. Duffy ging Punkt für Punkt durch, drehte und wendete sie, ging sie nochmals durch, erst vorwärts, dann rückwärts. Es musste wohl »Verschiedenes« sein. Sein Mut sank ein bisschen bei diesem Gedanken. Aber vielleicht würde Willett das anders sehen.
Als er auf den vergangenen Abend zurückblickte, musste Duffy über sich selbst den Kopf schütteln wegen seiner Bemerkung, dass alle Männer ein Stück weit schwul seien. Dies ausgerechnet zu einem Typen wie Gleeson, dessen Spindtür an der Innenseite zentimeterdick mit Seite-3-Mädchen vollgekleistert war. Und dabei hatte Duffy seine Zunge bis zu jenem Augenblick so gut im Zaum gehalten. Das war eine Bemerkung, wie man sie einem lästigen Zeitgenossen, den man auf einer Party kennenlernte, an den Kopf warf, wenn er schon ziemlich besoffen war und eine Gehschiene am Bein trug, aber nicht einem muskelbepackten Seite-3-Ficker, der deine Eier in der Zange hatte, oder zumindest dein Ohr. Blöd, Duffy, saublöd.
Aber gleichzeitig, hinter dem Gefühl, dass ihm der halbe Kopf abgerissen wurde, war ein Gedanke gewesen, der sich ins Freie kämpfte, und dieser Gedanke war ganz einfach. Er lautete: Hab ich euch. Hab ich euch. Gleesons Impuls, Duffy schließlich den Kopf abzureißen, mochte schlichtem Schwulenhass entsprungen sein; aber bei allem davor und danach war es um etwas anderes gegangen. Dass Duffys Ohr überhaupt in Gefahr geraten war, verriet ihm, dass es nicht nur darum ging, wer er war und wo er Mr Hendrick kennengelernt hatte. Die Brutalität des Vorgehens zeugte von Nervosität, von Unruhe, von einer Bereitschaft, notfalls die ganze Belegschaft des Frachtschuppens zu liquidieren, um ihr Ziel zu erreichen; einer Bereitschaft, zerfressen von der Angst, ein solcher Schritt könnte alles auffliegen lassen. Und deshalb wollten sie ihm glauben – ganz abgesehen davon, dass Duffy sich ohnehin recht gut abgesichert hatte. Sie wollten um jeden Preis, dass er nichts weiter war als das, was er ihnen gestanden hatte, als er umfiel.
Und diese Nervosität, verbunden mit ihrem Eifer, ihn auf der Stelle zu entlassen, brachte Duffy zu der Überzeugung, dass bald etwas geschehen würde; dass irgendeine Sendung oder so was unterwegs war. Darum waren sie so von den Socken gewesen, als erneut etwas gestohlen wurde, und deshalb wollten sie auch Duffys eher dürftiger, optimistischer Versicherung glauben, dass er Casey noch vor Ablauf der Woche für sie dingfest machen würde. Sie hatten keinen Beweis gegen Casey und auch keinen Anhaltspunkt für Duffys Kompetenz; in ihrer Verzweiflung aber glaubten sie, beides zu haben.
So war denn Duffy gar nicht überrascht, als Mrs Boseley ihre Rolle spielte wie vereinbart. Als er beim Spind seine Jeansjacke auszog, stand plötzlich Tan neben ihm.
»Mrs Boseley will dich.«
»Danke, Tan, ich werd’s mir überlegen.«
»Nein, gleich, schnell, schnell, sagt sie.«
»Okay, Tan, okay.« Er reckte sich genüsslich und zog für Tan eine Nummer ab. »Diese Frau geht mir ganz schön auf die Titten, muss ich dir sagen.«
»…? Titten?«
»Ja, andauernd liegt sie mir in den Ohren, und da siehst du jetzt, was dabei rauskommt. Ach was, vergiss es.«
Tan schien verblüfft, was nicht erstaunlich war, denn der Duffy, der heute vor ihm stand, war ein ganz anderer als sonst. Dieser Neue schlurfte aufreizend von den Spinden hinüber zu dem erhöhten Büro, drückte die Tür auf und blieb einfach im Rahmen stehen. Sowohl er als auch Mrs Boseley redeten mit lauter Stimme, sodass alle im Umkreis sie hören konnten.
»Sie wollten mich sprechen?«
»Ja, setzen Sie sich, Duffy.«
»Mir gefällt’s so.«
»Sie kommen zu spät zur Arbeit.«
»Na und?«
»Kommen Sie mir nicht mit ›Na und‹, Duffy, ich verlange eine Erklärung. Andere mussten Ihre Arbeit machen, bis Sie geruht haben, hier aufzutauchen.«
»Ist doch mal ’ne Abwechslung. Sonst muss ich den ganzen Tag für die die Scheißarbeit machen. Machen sie’s zur Abwechslung eben mal selbst.«
»Wenn Sie mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden sind, dann suchen Sie sich einen anderen Job. Ich kann nicht behaupten, dass man Ihnen groß nachweinen wird.« Mittlerweile schrien sie einander schon recht laut an; aus dem Augenwinkel konnte Duffy einen verdutzten Casey sowie einen der Fahrer sehen, die beide zu ihnen hochschauten.
»Wär ja alles halb so schlimm, wenn es hier nicht so viele blöde Fotzen gäbe.« Das müsste reichen, dachte er; so groß ihre Abneigung gegen Mrs Boseley sein mag, aber diese Beleidigung müssten sie als Kündigungsgrund ansehen.
»Sie sind entlassen.«
»Von mir aus lieber heute als morgen.«
»In einer Woche sind Sie draußen. Und jetzt zurück an Ihre Arbeit.«
Duffy trat gegen die Glastür, stellte aber fest, dass sie in weiser Voraussicht aus Sicherheitsglas bestand. Während er die Treppe hinuntertrampelte, schrie er über die Schulter: »In diesen Laden gehört eine Scheißgewerkschaft!«
Obschon seine Großspurigkeit nur vorgetäuscht war, ließ sich Duffy irgendwie davon anstecken. Er hatte zwar nur Theater gespielt mit Mrs Boseley, aber es war dennoch ein Genuss gewesen, sie vor dem ganzen Frachtschuppen anzupissen. Den Rest des Morgens saß er ganz aufgekratzt in seiner Dummenecke. Und als es zur Mittagspause pfiff, geschah etwas Erstaunliches. Casey kam zu ihm gezottelt und knuffte ihn in den Bizeps.
»Kantine«, sagte er klar und deutlich. Duffy fühlte sich wie ein Tierforscher, dem das Experiment endlich gelungen war, einem seiner Schützlinge die Nachahmung der menschlichen Stimme beizubringen. Diese Anstrengung schien Casey jedoch geschlaucht zu haben, denn über seiner Doppelportion Nudelringe mit Pommes verfiel er wieder in sein gewohntes Schweigen. Als er nach seinem doppelten Plumpudding den Löffel hinwarf und laut ausatmete, hielt Duffy die Zeit für gekommen, die Unterhaltung wieder aufzunehmen.
»Was für ein Tag«, sagte er. »Erst schneid ich mir beim Rasieren fast das Ohr ab, und dann werd ich auch noch gefeuert.«
Casey runzelte die Stirn. Er schien sehr lange nachzudenken. Dann sagte er, im Tonfall äußerster Vertraulichkeit: »War spitze, wie du Fotze zu ihr gesagt hast. Höhö.«
Duffy war beinahe gerührt. Casey schien ihm damit so etwas wie Zuneigung ausdrücken zu wollen. Wie schade, dass es so lange gedauert hatte. Wie schade, dass sie nur noch eine knappe Woche miteinander zu Mittag essen würden. Wie schade, dass Casey vielleicht wegen Duffy in der Scheiße landen würde.
Nach Feierabend fuhr er wieder zum Terminal 1, zum Apple Tree Buffet. Hier herrschte die gleiche Stimmung von Massenpanik wie eh und je, nur dass eine neue Ladung Passagiere mit schweißnassen Händen davon ergriffen war.
»Ein paar Sachfragen«, sagte er zu Willett, »und ein Ratespiel.«
»Schieß los.«
»Sachfrage eins. Du findest einen Beutel Heroin. Ganz gleich wo, Chinesenarsch, wo auch immer. Was nun?«
»Ich denke, wir würden ihn erst mal rausziehen.«
»Und dann?«
»Dann machen wir einen ersten Test. Wir haben eine kleine Testausrüstung. Nur um sicherzugehen, dass es nicht Salz ist oder so was, das geschmuggelt wird.«
»Und der Test sagt euch, was es ist.«
»Mehr oder weniger, ja. Dann schicken wir es an das staatliche Chemielabor. Versiegelt natürlich, damit der Kurier nicht zu üppig wird. Die analysieren es für uns und machen eine Rückmeldung.«
»Und was können die euch sagen?«
»Na ja, sie sagen dir, was es ist. Sie sagen dir, wie alt es ist. Sie sagen dir, woher es kommt. Das gehört zu den befriedigenderen Seiten der Sache: Die Analyse ist unglaublich präzise. Dabei ist es natürlich eine Hilfe, dass nie zwei Lieferungen gleich sind – es sei denn, sie wurden zur gleichen Zeit in derselben Fabrik hergestellt, klar. Und dass so viel davon in Heimindustrie produziert wird, ist ebenfalls eine Hilfe. Ich meine, zwei genau gleiche Lieferungen Heroin kommen so wenig vor wie zwei genau gleiche salzglasierte Teller.«
Diesen Vergleich hätte Duffy nicht gebraucht. Zumal er ihn gar nicht verstand.
»Und wenn … angenommen, der Kurier hatte einen Beutel – angenommen, er hatte zwei Beutel, und die wurden getrennt, auf dem Flug oder wo auch immer, und die werden an verschiedenen Orten gefunden: Könnte das Labor dann nachweisen, dass sie zur selben Lieferung gehörten?«
»O ja, kein Problem. Oft ist das der einzige Beweis dafür, dass beispielsweise zwei Dealer miteinander zu tun haben. Aber so was sind Beweise von hohem Wert.«
»Hmmm. Gut. Ende des ersten Teils. Bereit für das Ratespiel?«
»Ja.«
»Du bist ein Schmuggler.« Das war nur mit gleicher Münze heimgezahlt; schließlich hatte Willett ihn einen Zollbeamten spielen lassen. »Du hast eine bestimmte Menge Heroin bei dir.«
»In welcher Form?«
»Was heißt das, in welcher Form?«
»Na ja, es ist nicht unbedingt in Pulverform. Es kann in einer Flüssigkeit gelöst sein, zu einer Paste verarbeitet werden. Kann ich damit machen, was ich will?«
»Du kannst damit machen, was du willst. Du musst es nur durch den Zoll bringen – an mir vorbei. Ich bin ein eifriger, aber relativ neuer Zollassistent.«
»Kein Problem.«
»Moment, du musst es auf eine von sechs Arten machen. Du bringst sechs Sorten von Fracht rein, und in einer davon muss es sein – vielleicht auch in mehr als einer. Bereit?«
»Bereit.«
»Okay, hier die erste Frage für zehn Punkte. Pistazien.«
»Sind das diese fiesen kleinen grünen Dinger?«
»Genau.«
»So halb offen, aber trotzdem brichst du dir die Fingernägel daran ab? Die einen sind offen, da brichst du dir die Fingernägel ab; die anderen sind zu, und an denen beißt du dir die Zähne aus?«
»Genau.«
»Sollte nicht so schwierig sein.« Willett überlegte ein Weilchen. »Pulverform. Einige der halb offenen Nüsse aufbrechen, die Schalen mit dem Stoff füllen, zukleben, fertig.«
»Was, jede einzeln?«
»Klar. In jede davon kriegst du genug rein, um dir ein Auto zu kaufen. Wenn das Zeug erst mal für den Straßenverkauf gestreckt ist. Und die sind ja mit Salz oder so was bestäubt, stimmt’s?«
»Ja.«
»Das hilft. Kein Problem. Die hätten wir durchgeschmuggelt. Das Nächste?«
»Räucherstäbchen.«
»Hmmm. Wie werden die geliefert?«
»Ah, da bin ich nicht sicher. Sagen wir, Päckchen von, na, zwanzig, dreißig Stück. Paar Dutzend Päckchen pro Karton.«
»Welche Art von Päckchen? Papier?«
»Ja, okay. Na ja, sagen wir, eine Pappschachtel, mit einem Papieraufkleber.«
»Das ist schon heikler. Die Stäbchen ausbohren geht nicht. Das Zeug zu Stäbchen formen und bemalen? Nein. Nein – dann muss es die Verpackung sein. Nicht allzu schwierig, aber langwierig und umständlich, weil die Schachteln nicht so groß sind, aber es geht. Die Aufkleber einweichen und ablösen, das Heroin zu einer Paste machen und damit die Aufkleber wieder ankleistern. Das müsste an dir vorbeikommen.«
»Litschis in Dosen.«
»Dosen. Kann gut sein, kann schlecht sein. Kommt ganz darauf an, was dir für technische Mittel zur Verfügung stehen. Wenn du eine kleine Konservenfabrik an der Hand hast, ist es natürlich kein Problem. Drei Möglichkeiten, denke ich. Du kannst die Methode mit der Paste und den Aufklebern verwenden. Oder eine Abgießmethode: Das heißt, du nimmst den Aufkleber weg, bohrst ein winziges Loch in die Dose – nein, da brauchst du wohl ein Zweites, nicht wahr, für die Luft – und gießt die Flüssigkeit ab. Dann füllst du die Dose mit Heroinlösung – geht ganz einfach mit ’ner Spritze. Dann machst du den Aufkleber wieder dran, und fertig ist der Lack.«
»Was ist mit den Litschis?«
»Ach, die lässt du einfach drin. Es sei denn, Litschis und Heroin würden zusammen irgendeine chemische Reaktion auslösen, von der ich nichts weiß. Aber gelöstes Heroin ist sehr beliebt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Flaschen Sojasauce und Reiswein wir schon geöffnet haben, ohne großen Erfolg.«
»Und die dritte Methode?«
»Also am einfachsten für den Empfänger ist es, wenn du schon beim Eindosen was machen kannst – entweder das, oder du hast die technischen Mittel, um den Dosendeckel abzunehmen und wieder aufzulöten. Dann steckst du einfach einen Beutel Heroin rein, füllst auf mit ein paar Litschis, bis du genau das gleiche Gewicht hast wie bei den andern Dosen, und dann versiegelst du sie wieder.«
»Wie erkennt der Empfänger die richtige Dose?«
»Kein Problem. Ein einfacher Code – sagen wir, ein paar klitzekleine Nadelstiche an einer vereinbarten Stelle im Aufkleber. Sofern wir nicht einen Tipp bekommen – oder jede einzelne Dose öffnen, die durchkommt –, können wir das unmöglich entdecken. Und wenn wir jede Dose öffnen wollten, deren Aufkleber nicht völlig einwandfrei aussieht – also, dafür müssten wir gleich eine ganz neue Abteilung aufmachen, nicht wahr?«
»Schnittblumen.«
»Welche Sorte?«
»Ah – diverse.«
»In dem Fall – diverse Möglichkeiten. Wenn es Exotische sind, weißt du, mit dicken, fleischigen Stielen, könntest du einen dünnen Plastikhalm voller Stoff in die Stängel hineinschieben. Die Verpackung könntest du auch verwenden, wie bei den Räucherstäbchen – Pastenform. Du könntest auch – da kommt es allerdings drauf an, woher sie kommen und wie lange sie unterwegs sind – Stoff oder vielleicht Watte verwenden, die in Heroinlösung getränkt ist, als wollte man die Blumen damit feucht halten. Ein bisschen weit hergeholt, aber so ähnlich auch schon vorgekommen. Oh, und dann hab ich noch etwas Cleveres mit Blumen gehört. Allerdings nicht in diesem Land. Da hatten die einen einheimischen Künstler angestellt – der Mann muss verdammt geschickt gewesen sein –, der so kleine Stückchen Papier bemalte, damit sie aussahen wie der Boden eines Blütenkelchs: Weißt du, die Sorte Blumen mit so großen Glocken. Dann haben sie die reingeklebt und hatten so im Grunde eine Blume mit doppeltem Boden; dazwischen war ziemlich viel Platz für Stoff.«
»Wie ein Koffer.«
»Genau. Verdammt clever. Da würdest du nicht nachsehen, stimmt’s?«
»Nein. Frische Muscheln.«
»Ich weiß nicht genau, wie die aussehen; die müsste ich mir erst mal anschauen. Wenn sie geschlossen sind – oder zumindest ein paar davon –, kannst du einfach das Pistazienprinzip anwenden. Wenn sie offen sind: bisschen heikler, da müsstest du vielleicht irgendwie die Schalen verwenden. Also, wenn das zu schwierig wäre, würde ich es einfach mit der Verpackung machen.«
»M-hm. Und als Sechstes und Letztes: verschiedenes.«
»Was meinst du damit?«
»Na ja, das steht in den Frachtunterlagen.«
»Von allem etwas?«
»Das nehm ich an.«
»Dann hab ich, so gesehen, ja geradezu Geburtstag, nicht wahr. Ich meine, wenn du eine Kiste mit einem Dutzend verschiedener Sachen drin hast, dann finde ich dir auch ein Dutzend verschiedener Methoden, und dann suche ich mir die beste davon aus, und dann findest du’s nie – es sei denn, du findest es vielleicht eben doch.«
»Wieso vielleicht doch?«
»Weil du etwas, das mit dem Vermerk ›Verschiedenes‹ daherkommt, sehr genau unter die Lupe nehmen würdest. Und wenn du eh schon einen Verdacht hast, ist die Methode ein bisschen zu offensichtlich. Das ist genauso ’ne Methode, wie sie ein nicht hundertprozentiger Profi für eine große einmalige Lieferung wählen würde.«
»M-hm. Welche von diesen sechs würdest du also verwenden?«
»Na ja, vergiss nicht, dass ich mit ein bisschen mehr Zeit vielleicht für alle sechs noch bessere Methoden finden könnte. Diese Typen verbringen Monate, manchmal Jahre damit, sich etwas auszudenken, das wir dann binnen Sekunden oder Minuten entdecken oder eben nicht entdecken. Da sind die Chancen schlecht verteilt. Und die machen es auch immer wieder anders. Sobald eine Methode auffliegt – und wenn sie schlau sind, oft sogar noch früher –, verlegen sie sich auf eine andere; ein System, das einmal schiefgelaufen ist, irgendwo auf der Welt, verwenden die Cleveren nie wieder.«
»Welche Methode würdest du also verwenden?«
»Die Muscheln gefallen mir nicht, aber vielleicht müsste ich über die auch noch mal nachgrübeln. Die Räucherstäbchen gefallen mir nicht, weil die einen eifrigen jungen Zollassistenten an Opiumhöhlen oder so was erinnern könnten. Und wie gesagt, ›Verschiedenes‹ gefällt mir auch nicht. Ich würde die Nüsse, die Dosen oder die Blumen wählen. Und da kommt’s jetzt drauf an, was für ein Typ du bist. Blumen – da müsste ich etwas phantasievoller sein; Dosen – da bräuchte ich die entsprechenden technischen Mittel; Nüsse – da bräuchte ich entsprechend viel Geduld. Aber versteh mich bitte richtig – ich käme an dir vorbei. An dir käme ich allemal vorbei.«
Duffy überlegte. War das ein versteckter Appell? Ein Mach-bloß-nichts-auf-eigene-Faust-Junge-Ratschlag? Vielleicht. An Willetts Stelle hätte er wenig Freude bei der Vorstellung, dass ein Amateur Zollbeamter spielen wollte; er würde erwarten, dass er einen Tipp bekäme, dass Fachleute eingeschaltet würden. Schön und gut – bloß hatte Duffy eben keine Details; keinen Lieferungstermin, keine Waren, die es besonders unter die Lupe zu nehmen galt, bloß eine Hypothese. Herr Zollbeamter, machen Sie sofort diese Hypothese auf. Dachte ich mir’s doch: ein doppelter Boden.
Er beschloss, auf Willetts Aufforderung ein Stück weit einzugehen.
»Wenn ich etwas spitzkriegen sollte …«
»Ja?«
»Wie weit erstrecken sich deine Befugnisse?«
»Überallhin.«
»Heißt das, auch außerhalb des Zollbereichs? Bis zu Hendrick Freight?«
»Überallhin heißt überallhin. Es gibt nicht plötzlich eine Amnestie, bloß weil du etwas durch den Zoll gekriegt hast. Wenn Waren verboten oder zollpflichtig sind, bleiben sie das auch. Da rücken wir dir auf die Pelle, egal wo du bist.«
»Ach, dann lass ich’s lieber. Ich schmeiße das Zeug von der Kanalfähre aus über Bord.«
Willetts faltiges Gesicht runzelte sich noch etwas mehr.
»Da kann ich nur sagen, pass auf die Strömungen auf.«
»…?«
»’n Fall vor ein paar Jahren. Ein Bursche in einem Privatflugzeug kriegte kalte Füße. Flog einen Ballen Gras ein, das sich nicht unbedingt eignete als Futter für sein Vieh. Ziemlich geringer Heuanteil, könnte man sagen. Jedenfalls bekam er kalte Füße und kippte das ganze Zeug in den Ärmelkanal. Landete, fuhr nach Hause, fühlte sich ein bisschen ärmer, aber auch um vieles leichter. Ein paar Tage vergehen, da schwemmt die Flut diesen großen Packen Stoff an die Küste von Dorset. Ich hab wohl Geburtstag, denkt da der alte Bauer und raucht eine ganze Menge davon, bis ihm dämmert, dass es dieses komische Zeug sein muss, von dem in der Zeitung immer die Rede ist. Er ruft uns an, wir klären die Herkunft ab und nehmen den Piloten hopp wegen illegaler Einfuhr.«
Das fand Duffy denn doch ein starkes Stück. Er brummte und fuhr fort.
»Jetzt kommt übrigens Sachfrage Nummer zwei. Falls ich etwas spitzkriege, kann ich dich dann anrufen?«
»Du wärst bescheuert, wenn du’s nicht tätest.« Willett war stolz auf seinen Beruf, stolz auf die Art und Weise, wie Heathrow sich in den letzten Jahren entwickelt hatte. Da hatten sie die Schrauben angezogen. Was natürlich bedeutete, dass die cleveren Typen ihr Glück anderswo versuchten – in Luton zum Beispiel und auf laschen Pauschalreiseflughäfen, wo die Banditen, inmitten von erschlafften Dauerwellen und zollfreiem Tia Maria, durch die grünen Korridore schwirren. Aber trotzdem konnte er persönlich stolz sein.
»Dabei könnte ich auch … recht vage bleiben, ja?«
»O ja – oft kriegen wir nur Tipps von der Sorte: Jamaika, irgendwann in diesem Monat. Aber es verbessert unsere Chancen.«
»Und wenn ich … sehr spezifisch würde?« Duffy war wie immer bestrebt, sich Rückendeckung zu verschaffen.
»Zweites Schließfach, oberste Reihe. Dagegen hätten wir auch nichts einzuwenden, Kumpel.«
»Und wie stehe ich juristisch da, wenn ich dich anrufe – oder jemand anderen, wenn du nicht im Dienst bist?«
»Also, wenn ich nicht da bin, verlangst du Dickie Mallett: prima Kerl. Und was dich angeht: Ich kann es nicht mit absoluter Sicherheit sagen, ich bin ja kein Anwalt. Aber ich würde meinen, dass du mindestens so viel Immunität bekämest, wie wir garantieren müssten, damit wir auch sicher die Information bekommen.«
Das klang ganz nett und juristisch: mit anderen Worten, verschwommen und unverständlich. Duffy nahm einen zweiten Anlauf.
»Wenn ich dich anrufe, ohne zu sagen, wer ich bin, und nur sage: ›Ich bin ein interessiertes Mitglied der Öffentlichkeit‹ – sagen wir mal, ich hätte genau das gesagt, aber du wüsstest, dass ich es bin, und dann gäbe ich dir einen Tipp. Müsstest du weiterleiten, dass du wusstest, dass ich es bin?«
Willett begriff, dass dies nicht mehr zum Ratespiel gehörte (nicht dass das Ratespiel nicht auch ernst gemeint gewesen wäre, wie ihm klar geworden war); jetzt wurde er geprüft. Er dachte einige Augenblicke nach.
»Ich meine, ich würde wohl meinen«, erwiderte er schließlich, »dass du mit dieser Formulierung bereits deine Bedingungen bekannt gibst, und ich müsste sie annehmen. Ich würde auch formaljuristisch damit argumentieren, dass ich schon deshalb gezwungen bin, deine Identität beim ersten Mal geheim zu halten, da wir sonst keine Aussicht auf ein zweites Mal hätten.«
Duffy lächelte. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass es ein zweites Mal geben würde – er hatte keine große Lust, je wieder in einem Flughafen zu arbeiten. Aber nun hatte er seine Zusicherung bekommen.
Er hatte seine Zusicherung, aber Willett hatte auch seinen Plan A zunichtegemacht. Es war aber auch naiv von ihm gewesen zu erwarten, dass sein Freund einfach Nein, Nein, Nein, Nein, Nein sagen würde und dann »Ja, es wird in der dritten Muschel von rechts sein, bei der übernächsten Lieferung«. Das war dumm gewesen; aber er hatte dennoch so halb daran festgehalten, weil er auf Plan B nicht gerade scharf war. Doch dann fasste er sich an den Teil seines linken Ohrs, dem es erlaubt war, aus der zärtlichen Umhüllung des Assistenzarztes hervorzulugen, und war prompt ein bisschen weniger unscharf auf Plan B.
Herrgott, er hatte Carol eingeladen und dann eine zweite Verabredung getroffen. Sollte er sie anrufen oder so tun, als wäre die Sache mit Dalby plötzlich dazwischengekommen? Na ja, das war sie irgendwie ja auch, fand er. Das kannst du dir später noch überlegen, sagte er sich. Zuerst gilt es, noch ein paar Leute anzurufen und ein paar Kontakte herzustellen. Einer davon würde jemandem sehr viel Ärger bescheren.
Während er Geoff Bells Nummer einstellte, legte er sich seinen Einleitungswitz zurecht. Bell war ein Freund, dessen Hilfe in technischen Dingen Duffy bisweilen in Anspruch nahm. Um ein Telefon abzuhören, brauchte er es nur schief anzusehen; er konnte durch Backsteinmauern fotografieren. Duffy war einmal so blöd gewesen, fünf Pfund zu wetten, dass Bell ihn, Duffy, nicht binnen einer Woche in Unterhosen fotografieren könnte. Zwei Tage lang passte Duffy sehr genau auf, wo er seine Hose runterließ. Am dritten Tag kriegte er mit der Post einen unscharfen, grobkörnigen, aber unzweideutigen Schnappschuss von ihm selbst und einem Freund aus dem Alligator. In einer äußerst unterhosenfreien Situation. Auf Bells Begleitzettel stand: »Wenn du willst, kann ich mich weiterhin um eines mit Unterhosen bemühen.« Da die Wette noch vier Tage weiterlief, schätzte Duffy seine Chancen als schlecht ein und zahlte.
Bell zeichnete jeden Anruf, der reinkam, auf, sodass Duffy seine immer mit einem faulen Spruch anfing:
»Ah, Geoff«, sagte er, als er durchkam, »hier AQ35B wegen der Tripolis-Connection. Wenn wir den Plastiksprengstoff unter den zweiten Bohrturm legen statt unter den dritten, kommen wir mit leichteren Zündkapseln aus und können die Zündschnur quer durchs Mittelmeer bis Malta ziehen.«
»Duffy, wie geht’s? Schon ’ne Ewigkeit nichts mehr von dir gehört. Das Letzte war dieser Auftrag mit dem gelöschten Tonband gewesen.« Manchmal verzweifelte Duffy an Bell. Was für Duffy ein Spiel zur Einstimmung war, fasste Bell todernst als Test auf.
»Ich hab da was ziemlich Heikles vor, Geoff, und wollte wissen, ob du mir helfen könntest.«
Duffy hatte eigentlich etwas ziemlich Einfaches vor; aber es war nun mal so, dass Bell sich für einfache Jobs nicht begeistern konnte.
»Bist du morgen Abend frei?«
»Ja.«
»Ich brauche so gegen sechs einen Leib-Rekorder und etwas später – wann genau, weiß ich noch nicht – so schnell wie möglich drei Kopien, die an drei verschiedene Adressen geliefert werden müssen. Bis dann pfeifen mir wahrscheinlich schon die ersten Kugeln um die Ohren«, fügte er melodramatisch hinzu.
»Also, eine Polizeiweste kannst du vergessen, durch die kannst du Puffreis schießen. Natürlich nur mit der richtigen Waffe. Einem Pusterohr zum Beispiel.«
»Wie steht’s mit den Aufnahmen?« Typisch Geoff; er hatte sich wieder zuerst das Nebensächliche rausgepickt.
»Na ja, das können wir in Serie machen, damit die Qualität bei allen gleich ist und nicht von Band zu Band abnimmt und …« Geoff fuhr noch eine ganze Weile fort, aber Duffy hörte nicht mehr zu: Im Grunde führte Bell ein Selbstgespräch.
Der zweite Anruf galt Christine, einer Krankenschwester, die er vor ein paar Monaten kennengelernt hatte. Rein äußerlich war sie Carol ein bisschen zu ähnlich, als dass Duffy mit gutem Gewissen mit ihr angebändelt hätte; deshalb hatte er sie nur ein paar Mal ausgeführt, wobei er Carols wegen jedes Mal Gewissensbisse hatte. Sie wiederum war ganz froh, dass Duffy kein Arzt war und dass nicht gleich zu einer gynäkologischen Untersuchung geschritten wurde, kaum war die erste halbe Bierdose getrunken und der erste Beutel Kartoffelchips geleert. Dergleichen hatte Duffy noch nie von ihr verlangt. Tatsächlich war dieser Anruf das erste Mal, dass Duffy überhaupt etwas verlangte. Er sagte, er brauche das, was er brauche, für ein Laientheater; genauer gesagt, für einen Sketch, den er mit ein paar Freunden in einem Pub aufführe. – Ob sie mitkommen dürfe? – Nein, vor ihr wäre es ihm peinlich, da würde er erstarren; aber falls sie das noch ein zweites Mal spielen sollten, dürfte sie natürlich gerne kommen. Ob sie ihm eine borgen könne? Christine sagte, das sei eindeutig gegen die Spitalvorschriften; aber schließlich würden sie die Dinger ja die ganze Zeit wegschmeißen, und wenn sie nicht wirklich verwendet würde … »Nein«, sagte Duffy, »aber sie muss so aussehen, als könnte man sie verwenden – vielleicht sitzen da Ärzte im Publikum, und die beschweren sich, wenn da nicht das richtige Teil dran ist.« Ob er das Ding morgen abholen könne? Prima.
Um halb acht kam Carol an in ihrem Mini.
»Was gibt’s denn heute Abend, Duffy? Käse auf Toast oder Röstbrot mit Käsegarnitur? Lieber Himmel, was hast du denn mit deinem Ohr gemacht?«
»Beim Rasieren. Schon gut, tut nicht weh. Ich bestell mir Moussaka und Pommes, und du kannst alles auf der Speisekarte haben, was unter vier Pfund kostet.«
»Duffy …«, und ihr Tonfall beschrieb einen Bogen der Überraschung und des Entzückens, als sie seinen Namen in die Länge zog, »wir gehen doch nicht etwa aus?«
»Doch, doch.«
»Das hättest du mir sagen sollen, dann hätte ich mich doch noch umgezogen.«
Duffy sah verlegen drein. Carol glaubte zuerst, es sei sein schlechtes Gewissen, weil er sie schon so lange nicht mehr ausgeführt hätte. Doch er sah weiterhin verlegen drein.
»Duffy«, sagte sie streng, »wo ist der Haken bei der Sache?«
»Nnn?«
»Wo ist der Haken, Duffy?«
»Wie? Nichts Haken.« Aber sie konnte sehen, dass da einer war. »Ich muss nur kurz jemanden treffen unterwegs, weiter nichts.«
»Duffy, du bist ein Schwein.«
Duffy grinste vorsichtig.
»Ich weiß.«
Um halb neun brachen sie auf und fuhren gemächlich in die Stadt. Als Carol erkannte, in welche Richtung es ging, wandte sie sich Duffy zu und sagte: »Du fährst mich doch nicht etwa zur Arbeit, Duffy? Vor morgen früh muss ich dort nämlich nicht mehr antreten.« Jetzt sah er noch verlegener aus.
Diesmal fuhr Duffy viel näher ans Dude’s ran und parkte gut dreißig Meter davon entfernt.
»Ich geh mal eben da rein«, sagte er und zeigte die Straße entlang. »Bin gleich zurück.«
»Du bist ein Schwein, Duffy, und ein schmutziges dazu. Falls einer meiner Kollegen hier vorbeikommt, schick ich ihn rein, damit du keine Sauereien machst.« Aber sie meinte es nicht wirklich ernst. Wenn Duffy sein Geld in schicken Massagesalons ausgeben wollte, war das seine Sache. Sie konnte nichts dagegen einwenden. Und wenigstens war es mit Frauen.
Heute Abend stand ein anderes Mädchen an der Garderobe. Blond und mit Brüsten … nein, Duffy wollte eigentlich gar nicht hinsehen. Irgendetwas an diesem Lokal machte, dass man sich ausgesprochen schmutzig vorkam und gleichzeitig ausgesprochen wenig Interesse verspürte. Fünfzehn Paar Brüste sollten fünfzehnmal aufregender sein als ein Paar; aber so funktionierte es nun mal nicht. Selbst im Separee mit dem Mädchen hatte er an ihren Brüsten kein großes Interesse gefunden, weil sie gar nicht ihr zu gehören schienen: Sie schienen Teil der Armaturen und Installationen des Klubs zu sein. Vorgehängt und dann wieder ins Regal gelegt um zwei Uhr früh, wenn der letzte schnaufende Freier seinen Hut bekommen hatte und auf die Straße bugsiert worden war.
»Kostet das etwas?«, fragte er das Mädchen, plötzlich neugierig geworden.
»Zwanzig Pfund, Sir …«
»Nein – nein, ich meine, wenn man tatsächlich seinen Hut abgibt.«
»Den Hut? Heutzutage gibt es kaum noch Herren, die einen tragen.«
»Oder den Mantel. Ob die Garderobe etwas kostet, wollte ich eigentlich nur wissen.«
»O nein, Sir, ganz bestimmt nicht.« Sie wirkte geradezu beleidigt. »Aber Sie können uns natürlich immer ein Trinkgeld geben«, fügte sie hinzu. Natürlich. Immer. Das eine Pfund Wechselgeld vom Preis eines Whiskys – das käme etwa hin. Er war genervt.
»Termin bei Mr Dalby«, sagte er ziemlich schroff.
»Oh, da muss ich erst nachsehen, ob er frei ist, Sir.«
»Mein Name ist Marcus.«
»Marcus wie?«
»Mister Marcus.« Duffy merkte, dass er ein Pseudonym gewählt hatte, das aus zwei Vornamen bestand. Wie Eric Leonard. Einen Namen, der nicht seriös war.
»Oh, entschuldigen Sie.« Das Mädchen wirkte beschämt. Duffy fühlte sich wie ein Despot. Das war vermutlich gar nicht mal schlecht; er musste in die richtige Stimmung kommen, um Dalby zu bluffen.
Er hoffte, dass ihn das Mädchen mit dem nordenglischen Akzent und den Brüsten in der statistischen Mitte nicht wiedererkennen würde. Andererseits, wie lange erinnerten die sich wohl an einen Freier – zehn Minuten? Außerdem sah er jetzt anders aus; statt Fifties-Revival und Mottenkugeltinktur war er heute ganz aufgesamtet. Blaues Jackett, blaue Hose – in diesem Licht genügend passend, um als Anzug gelten zu können –, Stiefel und ein lila Hemd mit offenem Kragen. Sah er aus wie Lord Browns Assistent? Sah er aus wie ein Dealer? Nun, es lag einzig an ihm, diese Gleichungen umzukehren: Er musste weder wie der eine noch wie der andere aussehen, wenn er sie aussehen ließ wie er.
Während er zur Treppe geführt wurde, warf er einen verstohlenen Blick zur mädchengespickten Bar. Der alte Geruch von Räucherstäbchen. Unten so düster wie eh. Die Separees mit ihren Pendeltüren; die Hände, die wie angeleimt an Brüsten klebten; die feuchten Flaschen; die frischen Blumen; der gekünstelte Konversationston der Hostessen; die Ehemänner mit schütterem Haar, gutem Anzug und schlechtem Gewissen.
»Mr Marcus, es ist mir ein Vergnügen.« Dalby war aus dem Büro getreten, um ihn zu begrüßen, und hielt kurz inne, um die Szenerie zu seinen Füßen zu inspizieren. Man konnte zwar nicht hören, wie Pfundnoten hingeblättert wurden; aber vorstellen konnte man es sich von hier oben ganz gut, dachte Duffy.
Auf den ersten Blick kam ihm Dalbys Büro wie von Flutlicht erhellt vor, aber das war nur der Kontrast. Duffy setzte sich dem Klubinhaber gegenüber in einen Stuhl mit hoher Rückenlehne und Gobelinbezug. Er nahm sich Zeit und ließ seinen Blick sekundenlang durch das Büro schweifen, als spielte er mit dem Gedanken, es zu kaufen. Er registrierte die Stehlampe, das Sofa, das kleine Bücherregal, die Serie von großen Drucken an den Wänden. Sie sahen aus wie frühe Holzschnitte, die für moderne Dekorationszwecke etwa zwanzigfach vergrößert worden waren; sie zeigten pastorale Szenerien. Derjenige hinter Dalbys Kopf stellte ein großes angepflocktes Pferd dar, eine Kuh, ein Schaf und ein paar strohgedeckte Cottages. Jahrhunderte und Welten vom Dude’s entfernt. Es sei denn natürlich, das angebundene Pferd gehörte einem braven Opium-Handelsmanne, der gerade in einem der Cottages vorbeischaute, um eine Connection zu machen.
Dalby hüstelte, und Duffy gestattete seinem Auge, langsam zu dem Hüstler zurückzuschweifen. Dalby blickte ihn durch seine kleine runde Goldrandbrille etwas beklommen an. Duffy stellte fest, dass er im Augenblick das Heft in der Hand hatte; und so sollte es auch bleiben. Wenn schon bluffen, dann ganz groß bluffen, dachte er, und aggressiv bluffen. Zudem würde er als Zeichen der Selbstsicherheit auf den gewundenen, halbseidenen Jargon der Branche verzichten. Dalby wirkte wie die Sorte Dealer, die ständig drum herumredeten und ins Schleudern kamen, wenn man die Dinge beim Namen nannte.
»Der Raum ist sauber«, sagte er scharf in seinem unordinären Tonfall. Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
»O ja.«
Duffy blickte an Dalbys linker Schulter vorbei zu der offenen Tür, die vermutlich in sein Schlafzimmer führte und zu dem Badezimmer mit der postkoitalen Wanne. Er verlieh seinem Blick durch dessen Länge die Wirkung einer zweiten Frage.
»Wir sind ganz unter uns«, versicherte ihm Dalby.
Dann sprach Duffy schnell und selbstsicher, wie es sich für Lord Browns Assistenten gehörte.
»Ich kriege demnächst hundert Kilo Gras rein, aber soviel ich gehört habe, wird Sie das nicht sonderlich interessieren. Kann ich Ihnen auch nicht verübeln, ist ja vom Handling her eine sehr umständliche Droge, nicht wahr; und persönlich halte ich Zigaretten ohnehin für ein abscheuliches Laster, selbstverständlich ohne jemandem nahe treten zu wollen. Nächste Woche oder so kommt bei mir auch eine mittelgroße Menge Koks rein. Und ich habe auch gerade eine Lieferung ausgezeichnetes Chinese Number Three reingekriegt, die zurzeit verschnitten wird. So weit meine Einkaufsliste. Wie ich auf Sie komme? Weil ich jetzt Geld brauche für meine nächste Einfuhr, die ziemlich üppig sein wird. Sonst würde ich gar nicht nach außen gehen. Sie gelten als zuverlässig und ehrlich – zumindest habe ich das so gehört –, und, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sie sind Brite, was eine nette Abwechslung ist. Sollte dies nicht der Fall sein – ich meine natürlich nicht, dass Sie kein Brite sind, Sie wissen schon –, dann würde ich Ihnen davon abraten, mit mir eine Geschäftsbeziehung einzugehen.«
Duffy blickte Dalby gelassen an und wartete auf seine Antwort.
»Äh … hm … hm …« Er wirkte von so viel Direktheit etwas überrumpelt. So überrumpelt, hoffte Duffy, dass er nicht nachhaken würde, wer denn dieser fiktive »Christopher« sei.
»… äh … Preis?«, sagte er schließlich, als müsste er sich zwingen, ein unanständiges Wort zu gebrauchen.
»Koks oder Horse?«
»Das äh … Erstere.« (Hieß das nun, dass er nur an diesem interessiert war; oder dass er selbst schon eine Lieferung des Zweiten erwartete?)
»Gleitende Preisskala, je nach Reinheitsgrad. Da muss ich erst abwarten und nachsehen, wenn es da ist. Meine Preise liegen im mittleren Bereich. Zwanzig bis dreißig pro Gramm. Wollen Sie welches?«
»Äh … jaaa.«
»Gut, prima«, sagte Duffy, als müsste er an diesem Abend noch ein paar weitere Kunden besuchen. Er stand auf und streckte die Hand aus.
»Alles nur per Handschlag«, sagte er. Dalby ergriff seine Hand, als wäre es eine Ehre. »Ach, übrigens, beim Reinkommen habe ich offenbar einige Ihrer Kunden gestört. Gibt es noch einen anderen Ausgang?«
»Ja, ja, hier lang.« Er führte Duffy aus dem Büro, durch einen Flur weg von den Separees und durch eine Hintertür ins Freie. Keine Alarmanlage, einfache Tür: Duffy lachte innerlich. Dalby hielt ihm die Tür auf; Duffy nickte, aber ohne ihn anzusehen, und ging festen Schrittes in die Dunkelheit hinaus. Das war anstrengend gewesen.
»Haben sie wunderbare Sachen mit dir gemacht?«, fragte Carol, als er in den Lieferwagen glitt. Es war ein halb ernster Scherz. Er drehte sich ja auch um ein gefährliches Thema.
»Wunderbar«, erwiderte Duffy mit träumerischer Stimme. »Kostet bloß vierundfünfzig Pfund.«
»Nimmst du mich mal mit?«, fragte sie. Aber Duffy kicherte nur vor sich hin.
Später, als sie bei Kebab saßen und sich über der Sorbas-Musik Gehör zu verschaffen versuchten, sagte er: »Vielleicht lass ich dich allein hingehen.«
»Wohin?«
»In diesen Schuppen – das Dude’s.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, ich hab mich nur eben gefragt, mit wem du heute Abend essen gegangen sein könntest.« Carol sah verwirrt drein. Duffy zwinkerte ihr zu.
»Ich lade dich natürlich ein, aber wenn du die Rechnung mitnimmst, kannst du’s doch als Spesen abschreiben, wenn alles klappt, nicht wahr?«
Sie beugte sich herüber und pochte ihm mit den Knöcheln auf den Kopf, als wollte sie darin Ordnung schaffen.
»Ich meine, auf diese Weise kriegst du was zurückbezahlt, nicht wahr?«
Manchmal verstand sie ihn überhaupt nicht, auch wenn sie später nochmals darüber nachdachte.
»Dein Kebab wird kalt.« Warum lächelte er sie jetzt so an?
Er fuhr sie zurück nach Acton, und weil ihr Wagen ja bereits dort stand und es spät war, beschloss sie, da zu übernachten. Sie gingen in die Wohnung, und Duffy drehte alle Lichter an, obschon sie gleich schlafen gehen wollten. Er sah sich immer gerne ein letztes Mal um. Er fühlte sich dann sicherer beim Einschlafen.
»Duffy«, sagte sie, als sie sich an seinen Rücken kuschelte.
»Mnnn.« Er schlief schon fast.
»Dieser Samtanzug gefällt mir.«
»Mnnn.«
»Schade, dass die Teile nicht zusammenpassen.«