Kapitel III

Nankān, Königreich Kerkoria, Seehafenstadt Tiefwasser, Spätsommer

Bei Sonnenaufgang legt die Fröschlein ab.« Danèstra setzte sich Kalenia gegenüber, die wie verlangt unter dem Vordach des Gasthauses Zur armen Auster am Hafen gewartet hatte. Sie trug frische Kleidung und hatte auf eine Haube verzichtet. Neben ihr wachte Thirío und wedelte mit dem Schwanz, als er seine Herrin sah. »Zusammen mit uns.«

Der dunkelrote Schein der untergehenden Sonne spiegelte sich im schwappenden Hafenwasser und illuminierte die zahlreichen aufragenden Fachwerkgebäude rings um den Kai. Es herrschte Trubel. Anweisungen wurden gerufen, Pakete, Kisten und Säcke einzeln geschleppt oder in Netzen umhergehievt. Ladungen schwebten über Flaschenzüge und Winden in die Speicher, die unmittelbar an der Wasserkante lagen.

Die Arme Auster war keine Kaschemme oder eine Schenke, in der man um sein Leben fürchten musste, wie in jeder Spelunke von Me–rirosvo, der Seeräuberfestung am Westufer des Süßwassersees. Danèstra hatte die werdende Mutter hier abgesetzt, ohne sich Sorgen um sie machen zu müssen. »Wir haben eine Kabine für uns.«

Kalenia hatte das Essen, das vor ihr stand, kaum angerührt. »Danke.«

»Natürlich.« Danèstra wischte sich eine silbergraue Strähne, die sich aus der Flechtfrisur gelöst hatte, aus dem Gesicht und deutete auf den Teller. »Ist es schlecht?« Sie hatte die Handschuhe ausgezogen und am Wehrgehänge befestigt. Thirío bekam von ihr seine verdienten Streicheleinheiten.

»Nein! Nein, es … schmeckt ganz ausgezeichnet. Nur nicht mir.«

»Du solltest essen. Du und dein Kind braucht Kraft. Die Zeit der Entbehrungen ist vorbei.« Sie winkte den Bediensteten zu sich und bestellte sich mit Sirsusfrucht parfümiertes Wasser und einen deftigen Eintopf mit Brot. »Ich mache dir einen Vorschlag: Für jeden Bissen, den ich esse, nimmst du auch einen.« Der Handel hatte schon bei ihrem eigenen Nachwuchs gewirkt. Meistens hatte der Appetit nach wenigen Happen von selbst eingesetzt.

Kalenia versuchte ein schwaches Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. »Einverstanden.«

Die Reise nach Tiefwasser war ohne Schwierigkeiten verlaufen. Der Landweg bis zur Küste hatte zwei Tage gedauert, an denen die ungleichen Frauen, die nebeneinander wie Großmutter und Enkelin wirkten, überwiegend schwiegen.

Danèstra hatte Kalenia in Ruhe gelassen. Sie würde sprechen, wenn die Zeit gekommen war, und verarbeitete gewiss die fürchterlichen Ereignisse des Überfalls sowie der letzten Monde. Siedlung, Familie, Gemahl – alles ausgelöscht. Nur die Götter wussten, was Kalenia da–rüber hinaus in der Wildnis, im Irrsal und in Nankān widerfahren war. Am zweiten Tag ihrer gemeinsamen Reise durch Kerkoria hatte Kalenia die Scheu verloren, und von da an brannte der Zorn in ihrem Blick. Hass auf jene, die ihr das angetan hatten. Die Verschwörer. Sie werden ihre Strafe bekommen, so wahr ich lebe und die Klinge des Schicksals bin.

Danèstra bekam ihr Mahl gebracht. Noch vor dem ersten Kosten musste sie mehrere Unterschriften an Gäste geben, die sie anhand der Rüstung und der Insignien erkannt hatten und unvermittelt an ihren Tisch traten. Mit Freude und Ehrfurcht auf den Gesichtern hielten sie leere Blätter hin, kramten Kohlestifte hervor. Danèstra garnierte ihre ausladenden, verschnörkelten Signaturen mit freundlichen Worten an die Bittsteller und beantwortete die Fragen geduldig, bis der Strom der Begeisterten versiegte.

Kalenia verfolgte es mit neugierigen Blicken. »Die Menschen mögen Euch. Weil Ihr für das Gute kämpft.«

»Sie wissen, dass ich etwas Besonderes bin. Das mögen die Menschen«, verbesserte Danèstra. »Ich habe mich daran gewöhnt.«

»Eure Rüstung. Sie ist sehr auffällig. Die Verzierungen und Monogramme laden regelrecht dazu ein, Euch zu erkennen und anzusprechen.«

»Es ist mein Stil.« Danèstra aß einen Happen vom Eintopf und nickte Kalenia auffordernd zu. Diese nahm daraufhin einen Bissen von ihrem Essen. »Ich stellte rasch fest, dass es Vorteile hat, erkannt zu werden. Manchmal lässt sich ein Kampf verhindern, eine Entscheidung beschleunigen und Zuspruch erleichtern.« Sie aß erneut, Kalenia auch. »Das kann entscheidend sein, wenn man die Klinge des Schicksals ist, Kind.«

»Wann begann es?«

»Was genau meinst du?«

»Eure … Aufgabe. Die Euch Deiwos gab.«

»Die Aufgabe.« Danèstra aß und kaute nachdenklich auf Gemüse und Fleisch herum. »Das Wort nutzte ich auch schon. Auftrag, Gabe, Fluch, Bestimmung und vieles mehr.« Sie steckte den Löffel in den dampfenden, duftenden Eintopf. »Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass ich nicht weiß, wer mich von Ort zu Ort sendet, um den Schwachen und Wehrlosen beizustehen und Unrecht zu verhindern. Aber es kann nur eine Kraft sein, die am Guten interessiert ist. Das finde ich tröstlich.«

Danèstra nahm einen Schluck vom Wasser und betrachtete die Arbeiter, während ihre Gedanken schweiften. Wenn sie mehr von Kalenia erfahren wollte, musste sie von sich selbst etwas preisgeben. Deshalb entschied sie, aus der Vergangenheit zu erzählen.

»Als ich einundzwanzig Gemeinjahre wurde, begann es. Ich schlief ein und erwachte an einem unbekannten Ort, der stinkend war und schummrig, und ich war umringt von heruntergekommenen, wimmernden Gestalten. Allesamt Kinder.« Vor ihrem inneren Auge entstand die Szenerie, die sie geprägt hatte. »Ein trunkener Grobian drosch wahllos auf sie ein und hatte bereits vier von ihnen die Schädel eingeschlagen. Überall stank es nach Blut und Exkrementen.«

»Was habt Ihr getan?«

»Laut geschrien.« Sie stellte den Becher ab. »Dann rannte ich davon. Ich dachte, ich sei in einem Albtraum.«

Kalenia lauschte gebannt. »Und dann?«

Danèstra atmete tief ein. »Versteckte ich mich. Ich wartete, dass mein Albtraum endete. Aber es geschah nicht. Ich rannte weiter, aus den Toren der unbekannten Stadt, und verbarg mich im Wald. Nachdem ich vor Erschöpfung eingeschlafen war« – Danèstra räusperte die Beklemmung aus ihrer Stimme –, erwachte ich am gleichen Ort wieder. Nur dass mehr Kinder erschlagen waren.«

»Oh, das ist… fürchterlich!«, hauchte Kalenia und legte eine Hand beschützend auf ihren Bauch.

»Das war es.« Danèstra lehnte sich gegen die Holzwand des Gasthauses und schaute zum blutrot leuchtenden See. Die Erinnerung an das einschneidende Erlebnis erschütterte sie jedes Mal aufs Neue. »Ich war bis dahin eine gut behütete junge Frau, folgsam und für das Leben auf einem großen Hof erzogen. Bald sollte ich heiraten und damit eine Familienfehde beenden und das Land meiner Eltern vergrößern.« Sie trank einen weiteren Schluck, ihre Kehle schien eng wie ein Nadelöhr. Sie roch den Gestank von damals, das Blut und hörte das Winseln der geschlagenen, sterbenden Kinder. Mein größtes Versagen. »Insgesamt erwachte ich noch zweimal an diesem Ort, bis ich verstand, dass ich hingeschickt worden war. Dass ich mich nicht in einem Traum befand. Dass ich etwas an den Umständen ändern musste.«

»Ihr solltet die Kinder retten.«

Danèstra nickte. »Zwei. Zwei haben überlebt, weil ich endlich begriff. Es war ein Armenhaus. Der Aufseher verging sich an den Kleinsten, zwang sie zu schändlichen Dingen und zum Schuften. Wenn er besoffen vom Schnaps war, tötete er sie aus Vergnügen.« Sie legte eine Hand gegen die gerüstete linke Hüfte. »Hier traf mich sein Messer, als ich ihn aufhalten wollte. Ich dachte, ich müsste sterben. Dafür habe ich ihm die Kehle aufgeschlitzt. Das war vor über vierzig Gemeinjahren.«

»Ihr seid unsterblich, sagt man.«

»Nein, das bin ich nicht. Ich altere.« Danèstra drehte sich zu Kalenia und wischte die Tränen weg. »Schau, meine Falten im Gesicht. Und manche Wunde hätte mich beinahe das Leben gekostet. Aber die Macht, die mich an Orte sendet, um Gutes zu tun, erlaubt mir, dass ich mich schneller erhole, flinker und stärker bin als die meisten Menschen. Es bringt Vorteile mit sich, die Klinge des Schicksals zu sein.« Danèstra zwinkerte ihr zu. »Und natürlich viele Feinde. Und Neider. Gerade wenn man vom Kaiser zur Erz-Königin von Uthalosa erhoben wird. Das bedeutet zwar nichts, aber es klingt schön. Nicht zu vergessen das Rittergehöft und das viele Land, das ich für ihn verteidigen darf«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Was haben Eure Eltern damals gesagt?«

Danèstra lachte herzlich. »Oh, das war etwas! Zuerst dachten sie, ich wäre durchgebrannt. Geflohen von zu Hause, um der Hochzeit zu entgehen. Es dauerte einen Mond, bis ich zurückgekehrt war. Immerhin hatte ich anfangs nur mein Nachtgewand.« Sie legte die Füße auf den freien Stuhl und kraulte Thiríos Kopf. »Zuerst glaubten wir alle, ich wäre verflucht worden. Von einem missgünstigen Verehrer. Die Schlafreisen wiederholten sich, auch wenn es nicht immer so dramatisch war wie beim ersten Mal, doch stets erwartete mich eine Aufgabe. Kein Priester wusste es sich zu erklären, kein Zauberer konnte einen Gegenbann sprechen. Daher entschied mein Vater, dass ich Unterricht im Fechten und Kämpfen erhalten müsste. Dann sprach es sich herum. Der ganze Gutshof wartete darauf, dass ich verschwinde, ein Abenteuer bestehe und zurückkehre.«

»Seit vierzig Gemeinjahren.«

»So ist es.« Danèstra lachte leise. »Du meine Güte. Ja, es kam einiges an Abenteuern zusammen.«

Kalenia steckte sich ein Stück Käse in den Mund. »Ihr seid dessen nicht müde?«

»Solange ich an fremden Orten aufwache, kann ich das schlecht sein, oder? Und der Tod ist keine Lösung. Dafür lebe ich zu gerne.« Sie winkte den Bediensteten zu sich und bestellte ein Glas Wein.

»Ihr habt Kinder?«

»Drei Töchter, einen Sohn. Ansiwa, Dhouza, Nushira und Mabian. Von verschiedenen Männern.« Danèstra amüsierte sich über den verwunderten Ausdruck auf Kalenias Gesicht. »Ich liebte sie, jeden von ihnen. Allesamt starke Persönlichkeiten und absolut unterschiedlich. Sie haben ihren Kindern große Kraft mitgegeben. Ich werde ihnen dadurch immer verbunden bleiben. Aber wer sie sind und was sie erreicht hatten, spielte niemals eine Rolle für mich oder mein Leben. Ich war eigenständig. Immer.«

»Ist das nicht schwer für sie gewesen? Ohne Vater?«

»Manchmal, vielleicht. Doch es fehlte meinen vier größten Schätzen an nichts. Schon gar nicht an Zuneigung. Es gab genug gute Menschen, die ihnen beistanden, wenn ich unterwegs war. Heute unterstützen sie mich und haben selbst Familien gegründet, auch wenn sie dabei etwas konventioneller geblieben sind.« Danèstra zeigte in den Abendhimmel. »Apropos, ich sandte Brieftauben, um meinem Gehöft eine Nachricht zu übermitteln, was geschah und was ich beabsichtige. Sobald wir einen Plan haben, organisieren meine Kinder für uns, was dafür nötig ist.«

»Verschwinden sie auch im Schlaf?«

»Nein. Möglicherweise geschieht das, wenn ich einmal tot bin und sich die Macht einen Ersatz suchen möchte.« Danèstra zeigte auf den deutlich sichtbaren Bauch der Schwangeren. »Oder darin wächst mein Nachfolger. Wer weiß? Das könnte ein weiterer Grund sein, weswegen ich bei dir erschien.« Sie bekam den Wein gebracht und prostete ihr zu. »Auf das Gute! Und nun genug von mir. Reden wir über dich. Hast du dich ein wenig von den körperlichen Strapazen erholt? Ist mit dem Kind in dir alles in Ordnung? Ich schätze, uns bleiben zwei Monde bis zu deiner Niederkunft.«

»Die Blutungen haben aufgehört, und ich kann spüren, dass es sich beruhigt. Ich fühle mich so weit gut, danke.« Kalenia hatte ihren Teller mittlerweile geleert. Sie sah ebenfalls auf den riesigen See, in ihren Blicken flackerte neben der Wut leichte Verunsicherung. »Müssen wir mit dem Schiff fahren?«

Danèstra nahm das Essen wieder auf. »Du kannst nicht schwimmen?«

Kalenia schüttelte den Kopf. »Das braucht man im Wald nicht. Und … ich habe vorhin ein Gespräch vernommen, dass …« Sie schauderte.

»Ebos.« Sie schluckte den Eintopf hinunter. »Ich hörte auch davon. Wir sind fast zweihundert Seemeilen von der Insel entfernt und bleiben in Küstennähe. Und die Fröschlein ist zu groß, um ein Opfer der Echsen zu werden.«

»Dann stimmt es?« Kalenia schaute erstaunt. »Ich dachte, Bestien leben in der Wildnis und nicht auf Nankān.«

»Wer weiß, was sie wirklich sind. Aber auf Ebos gab es sie schon immer. Noch bevor der Wald vordrang.« Die Menschen der großen Insel inmitten des Süßwassersees lebten für ihre riesigen Crocodyle, von denen manche sagten, es seien Drachen ohne Flügel. Sie hegten und pflegten die Panzerechsen. Warum sie das taten, wusste keiner so genau. Niemand durfte Ebos betreten, der nicht von dort stammte. Danèstra hatte im Laufe der Dekaden mehr als einmal Fährdienste in verschiedenen Hafenstädten genutzt, aber nicht in Tiefwasser. Die ebosischen Schnellkatamarane wurden von den Echsen gezogen, die unter der Oberfläche an langen Tauen dahinschwammen und Geschwindigkeiten aufboten, die ein flinker Segler allenfalls in einem Sturm erreichte.

»Was hast du bei dem Gespräch belauscht?«, hakte Danèstra nach.

»Sie haben gesagt, die Echsen hätten ein Fischerboot vernichtet und den Fang mitsamt der Besatzung verschlungen«, sagte Kalenia und sah zu Thirío.

»Wo?«

»Das habe ich nicht verstanden, aber es kann nicht so weit weg gewesen sein.« Kalenia senkte die Stimme und blickte bang zur betagten Kriegerin. »Vielleicht spüren sie das Vordringen der Wildnis und gebärden sich deswegen animalischer. Wütender. Angestachelter. Sie wollen uns auch vernichten.«

Danèstra wusste, dass die Bewohner von Ebos bei den Hinterbliebenen der Fischer erscheinen und fürstliche Entschädigungszahlungen leisten würden. Für die Menschen, das verlorene Boot und den Fang. »Das wäre in der Tat ungewöhnlich.«

»Sie verlangten, dass jemand Ebos auslöschen müsste. Dieses Gift im See würde sich immer weiter ausbreiten und eine Gefahr für die Anrainer bedeuten«, fuhr Kalenia fort und legte die Hände in den Schoß, verschränkte sie. Die Knöchel wurden weiß.

Sie fürchtet sich. Danèstra lachte aufmunternd. »Wenn ich eines Tages dort aufwachen sollte, dann ist es so weit. Aber vorher nicht, denke ich.« Sie genoss den Wein, einen Rottropfen aus Siwenloith, voller Aromen und Traubengeschmack. »Jegliche Eroberungsversuche scheiterten an der Abwehr. Die Menschen auf Ebos besitzen außer den Riesencrocodylen auch mächtige Zauberer. Aber das soll uns nicht kümmern.«

Kalenia vermochte sich nicht von der Furcht zu lösen. »Wirklich niemand von außerhalb war auf der Insel?«

»Doch. Es gab Freiwillige, die unbewaffnet nach Ebos reisten, um den Echsen zu dienen. Sie kehrten nach Jahren reich, aber ohne Gedächtnis zurück.«

Danèstra verbarg ihre eigenen Sorgen über die Angriffslust der Echsen, um die junge Frau nicht weiter zu ängstigen. Es konnte wirklich sein, dass die Wildnis dahintersteckte. Sie suchte vielleicht nach Verbündeten, um Nankān von dem abzulenken, was im Irrsal geschah. Ist die Zeit der Ruhe vorbei? Ihr fiel der gewaltige Versorgungstross ein, der nach Khamado gezogen war. Der Kaiser schien mehr zu wissen als sie.

Die Flucht der Bewohner des Kontinents Yarkin hatte vor hundertfünfzig Gemeinjahren begonnen. Mit der Wildnis und ihrem Dickicht aus Wäldern, Sümpfen, Mooren und sonstigem Gehölz kamen die Kreaturen.

Die bösartige Natur war immer weiter vorgedrungen, unaufhaltsam, bis die Menschen auf der Halbinsel Nankān zusammengepfercht waren und der restliche Kontinent mit seinen untergegangenen Reichen vollständig vom mysteriösen Wald überwuchert und in Beschlag genommen worden war.

»Das Wuchern der Wildnis kam vor guten … zwanzig Gemeinjahren zum Halten, als würde es der Grünödnis ausreichen, die Menschen verdrängt zu haben«, sprach Danèstra halblaut und spielte mit dem Glas. »Wir hatten Zauberer sowohl an die westlichen Grenzen als auch in die Wildnis gesandt, um gegen die tödliche Natur anzukämpfen. Aber kaum einer kehrte aus dem Wald zurück.«

Kalenia streichelte Thirío, der sich die Zärtlichkeiten auf dem Fell gefallen ließ. »Das stimmt. Wir hatten nicht einmal Besuch, seit ich mich erinnern kann. Bis die Verschwörer erschienen und unsere Siedlung vernichteten. Aber sprachen wir nicht über Ebos?«

»Ebos ist nicht wichtig.« Danèstra blickte Kalenia an und ließ den Wein im Behältnis kreisen. »Du bist wichtig und die einzige Rettung für die vielen Menschen, die sich wegen Brot in manchen Gegenden und Städten bereits an die Gurgel gehen.«

»Ja. Dies ist meine Bestimmung. Dank Euch. Weil Ihr mich gerettet habt.«

»Die Richtigen sind vom Schicksal verbunden worden.« Danèstra leerte das Getränk in einem Zug. »Ins Bett, Kind. Morgen müssen wir früh raus, wenn die Fröschlein uns mitnehmen soll.« Sie stand auf.

»Ich werde erleichtert sein, wenn wir am Hof von Gaurus sind.« Kalenia erhob sich und blickte zum See, dessen Wellen harmlos gegen die Hafenmauern schwappten. Sie hielt sich stützend den Rücken und ächzte. »Oh, es hat mich getreten.«

»Es lebt und wird gesund geboren«, versprach Danèstra. Sie fühlte sich an die Schwangerschaften ihrer Töchter erinnert, und an ihre eigenen. Dieses unbeschreibliche Gefühl, Leben in sich zu tragen und in die Welt zu entlassen, es großzuziehen und ihm Flügel zu geben, damit es alles erreichte, was es wollte. Das soll auch Kalenia erfahren. »Ich bin bei dir. Nichts wird dir geschehen.« Sie streichelte den Schopf der jungen Frau und küsste sie auf die Stirn.

»Gute Nacht.« Kalenia lächelte ihr dankbar zu und verschwand in die Arme Auster.

»Schlaf gut. Deiwos behüte deine Träume.« Danèstra atmete die abkühlende Abendluft ein, während auf dem Kai und in den Straßen allmählich Ruhe einkehrte. Straßenlaternen wurden entzündet, das Tagwerk war getan.

Auch wenn es friedlich und sicher in Tiefwasser wirkte, mochten in den Fluten des Sees die Panzerechsen warten. Und auf die zwei Frauen lauern.

»Deiwos der Gütige und Schicksalsmacht, steht uns bei.« Danèstra betrat den Gastraum. Wir bringen die Verschwörer zur Strecke und ganz Yarkin wird aufblühen. Wie in den alten Zeiten.

***

Nankān, im Süden des Irrsals, fünfzig Feldmeilen südlich der Stadt Dornenfeste, Spätsommer

Quent erwachte auf dem Bauch liegend, den Geruch von nasser Erde in der Nase und den Mund voller Dreck.

Ein feuchtes Prasseln hatte ihn geweckt. Aus großer Entfernung fielen Tropfen in der Dunkelheit auf ihn nieder, stetig und doch zart spürte er sie in seinem Nacken. Dann vernahm er das Rauschen. Wasser rann, floss und tropfte rings um ihn durch den Boden.

Ich … lebe noch. Er blieb liegen und atmete flach, lauschte. Alles war ruhig. Falls Kreaturen oder sein Herr in der Nähe weilten, hatten sie sein Erwachen nicht bemerkt.

Abgesehen von einem Pochen im linken Schultergelenk und einem schmerzenden Schädel fühlte sich Quent gut. Hunger grollte und knurrte in seinen Eingeweiden.

Wie lange liege ich hier? Er wagte es, sich in der Finsternis aufzurichten.

In seinem Rücken spürte er ein Stechen, und er ertastete einen Splitter, der sich oberflächlich in sein Fleisch gebohrt hatte. Das Joch hatte ihn abgefangen und das Eindringen verhindert; mehr als ein Kratzer war es nicht.

Die frische Luft, die mit den Tropfen herabströmte, sagte Quent, dass er sich noch an der Stelle befand, an welcher der Weg unter ihm, Calostro und dem Wagen eingebrochen war, nur eben etliche Schritte tiefer. Ob es eine Falle oder ein Unfall gewesen war, konnte er ohne Licht nicht ausmachen.

Quent tastete und wühlte sich durch die verstreuten Reste des Hab und Guts, bis er den Feuerstahl und Zunder gefunden hatte. Daraus entfachte er unter Aufbringung seines ganzen Mutes ein kleines Feuer, abseits des fallenden Wassers, und sah sich hastig um.

Er fürchtete sich seit seiner Kindheit vor Blut, großen Feuern und Monstern. Aber weder wurde Quent von Bestien angriffen, noch sah er Blut, und so erlaubte er sich ein wenig Hoffnung auf ein gutes Ende des verrückten Abenteuers. Weswegen ist Calostro das Wagnis wirklich eingegangen? Das Rot an seinen Fingern, das von der Rückenwunde stammte, wusch er schnell im Regen ab, bevor ihm schlecht wurde. Jedenfalls nicht wegen Streifenhörnchen.

Dann entdeckte Quent die Laterne im Durcheinander und entzündete sie mit dem letzten Flackern des Zunders. Thýguda, stehe mir bei!

Die Helligkeit nahm zu und zeigte Quent, dass er wirklich in einer ausgehobenen Höhle saß. Jemand hatte den Weg unter dem Stollen zur Falle werden lassen.

»Herr?« Er leuchtete umher, sah Calostro aber nirgends.

In der feuchten Erde entdeckte er Fußspuren, die der Zauberer hinterlassen hatte. Offenbar war er dem anschließenden Gang gefolgt; kleine Ascheflöckchen verrieten, dass er eine Fackel oder Ähnliches genutzt hatte, um Licht zu erschaffen.

Er ging bestimmt, um Hilfe zu holen. Das Piksen erinnerte Quent an den Splitter im Rücken. Oder hielt er mich für tot?

Schnell klaubte er aus den verstreuten Sachen auf, was ihm bei einer Erkundung sinnvoll oder zu wichtig zum Zurücklassen erschien, dann folgte er den Abdrücken. Keinesfalls würde er hier allein auf die Rückkehr seines Herrn warten. Seine Angst vor Monstern ließ es nicht zu, und sein Überlebenswille sagte ihm deutlich, dass er nicht unter der Erde verweilen sollte. Erst nach meinem Tod. Vorher nicht.

Der Gang war von Menschenhand erschaffen worden. Die seltsamen Markierungen halfen ihm jedoch nicht weiter, und so ließ er sein Augenmerk auf die Sohlenabdrücke gerichtet.

Sie führten ihn in einen anderen Gang, der aber bald endete. Die Decke war eingestürzt. Die Bruchstellen sahen frisch aus.

Nein! O nein! Er … er wurde von … Gerade wollte er sein Schicksal und seinen toten Herrn bedauern, als er weitere Stiefelspuren erkannte, die weg vom blockierenden Geröllberg führten. Er ist dem Tod entronnen.

Also setzte sich Quent erneut in Bewegung.

Bald kam das, wovor er sich gefürchtet hatte: der Geruch von Blut.

Früher schon hatte er Reißaus genommen, wenn das Schlachten einer Kuh oder eines Schafs anstand. Sich durch einen Gang zu tasten, in dem es nach Tod stank, war eine Qual.

Das Zittern, das ihn heimsuchte, brachte die Lampe in seiner Hand zum Beben und die Schatten zum Tanzen. Tapfer ging er jedoch weiter, folgte der Fährte seines verschollenen Herrn.

Thýguda, verlasse mich nicht. Dann erkannte Quent Brandspuren.

Eine gerade Linie hatte sich auf gleicher Höhe beckenhoch in die Wände gebrannt. Außer dem Blut roch er verbranntes Fleisch und Haare, als wäre ein Schwein gesengt worden.

Das ist … nicht gut. Leise begann er ein Gebet zu Thýguda, wiederholte es wieder und wieder, um sich selbst Mut zu machen.

Quent sah Leichen vor sich auf dem Boden liegen. Nicht nur, dass sie bluteten – es waren Bestien, wie er sie fürchtete.

Ein, zwei, drei Dutzend, und es wurden immer mehr, die durch- und übereinander im Stollen lagen. Einige grunzten und ächzten leise, doch ihre klaffenden Wunden waren tödlich. Sie konnten Quent nicht gefährlich werden.

Würgend ging er weiter, das Beben seines Körpers wollte nicht enden. Nie zuvor hatte er derartige Angst verspürt.

In einiger Entfernung erkannte er ein geschlossenes Gatter, vor dem noch mehr Bestien lagen. Mit ein wenig Abstand zu ihnen und nahe an den Eisengittern ruhte Calostros lebloser, nackter Körper. Außer ein paar Ringen, dem großen Amulett und seinen angebrannten Stiefeln gab es weder verhüllenden Stoff noch bedeckende Talismane.

»Herr!« Quent hüpfte ungeschickt wie ein betrunkener Säbeltänzer über die Leichname der Monstrositäten, trat in die Lücken zwischen den Toten, auf Gliedmaßen und beherrschte sich, um dabei nicht vor überbordender Furcht zu schreien. Zu viel Blut, zu viele Bestien!

Er setzte die Lampe neben seinem Mentor ab und prüfte den Herzschlag.

»Tot«, stellte Quent bestürzt fest und blickte schaudernd auf den Verstorbenen, der mit seinem letzten Atemzug einen Zauberspruch ausgestoßen hatte, der sich und den Gegnern das Ende gebracht hatte. Im Schein der Leuchte erblickte er jenseits des Gitters schemenhaft die umherliegenden Körper weiterer Bestien.

»Welch ein Held Ihr gewesen wart«, raunte Quent erschüttert. »Ihr habt mir das Leben gerettet.« Er betrachtete das Gitter, dessen Schloss durch die Energieattacke herausgebrannt worden war. »Und Ihr ermöglichtet mir die Flucht. Danke! Tausend Dank!«

Und nun? Nach dem Tod seines Herrn war er frei. Die entsprechenden Papiere trug Calostro stets bei sich, und die Anweisung an Quent hatte gelautet: Bin ich tot, gleich aus welchen Gründen, lies den Brief in meinem Medaillon.

Da er sich nicht anders zu helfen wusste und es ihm Gemeinjahr um Gemeinjahr eingebläut worden war, suchte der junge Mann danach. Nach etwas Probieren bekam er den Anhänger geöffnet. Darin fand er den kleinen Wachsumschlag und darin das eigentliche, winzige Schreiben.

Lauschend und zitternd wie Espenlaub, studierte Quent die eng geschriebenen Zeilen und Zwergbuchstaben, die durch die Jahre unter Verschluss, Wärme, Feuchtigkeit und Hitze stark verblasst waren.

Liebes Räblein,

 

nun ist es geschehen: Ich bin tot.

Und Du hast das getan, was ich Dir damals sagte. In Deinen Händen hältst Du mein Vermächtnis, meine letzten geschriebenen Worte und meinen Letzten Willen. Ich erwarte von Dir, dass Du alles daransetzt, meinen Letzten Willen zu erfüllen.

Erinnere Dich: Ich holte Dich aus dem Elend.

Ich gab Dir ein Zuhause.

Ich gab Dir Wissen und eine Aufgabe, anstelle eines Daseins auf einem kargen Acker.

Und Du hattest immer etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf und sogar Münzen in der Tasche.

Ganz sicher weiß ich: Du wirst mir alleine schon deshalb den Letzten Willen erfüllen. Aus Dankbarkeit. Und weil Du ein Junge mit einem sehr guten, reinen Herzen bist.

Vernimm meinen Letzten Willen, den ich Dir aufnotiert habe:

Ich möchte, dass meine Überreste nicht einfach so verscharrt werden oder ich unter einer Kreuzung begraben ende oder verbrannt werde, die Asche in alle Winde verstreut. Mein Körper soll zurück in meine Heimat gelangen, damit meine Seele Frieden findet.

Deiwos sei mein Zeuge und Thýguda ebenso.

Sonst, so befürchte ich, werde ich umhergehen als Geist und Spuk und die Lebenden verfolgen. Dich verfolgen, wenn Du meinen Letzten Willen nicht in die Tat umsetzt.

Was Du nicht weißt und wusstest, ist, dass ich nicht aus dem Land komme, in dem wir lebten.

Meine Vergangenheit führt zurück ans Meer.

An ein entferntes Meer.

Wisse, Räblein: Meine Ahnen stammen aus Lygäion.

Du hast richtig gelesen. Weit, weit im Osten, an den Ufern mit den rausten Wellen, daher stammen meine Vorfahren, denen ich mich sehr verbunden fühle. Dort möchte ich begraben sein.

Es gibt ein Städtchen, Hilgaion, im südlichen Teil von Lygäion, nahe dem See, in dem die drei Frauen leben. Aus diesem kam meine Familie, und genau da werde ich erwartet. Im Deiwos-Tempel ist mein Letzter Wille hinterlegt. Ein Grab wartet darauf, dass meine sterblichen Reste zur Ruhe gelegt werden.

Du wirst meinen toten Leib einbalsamieren und ihn nach Hilgaion schaffen. Sobald du im Städtchen angekommen bist, wirst Du den Deiwos-Tempel aufsuchen und den Priestern meinen Leichnam übergeben. Alles, was danach an Vorkehrungen nötig ist, findet sich in den Aufzeichnungen des heiligen Ortes.

Mach Dir keine Sorgen, Räblein.

Sind meine Überreste im Tempel, wird Dir der Vorsteher Dein Erbe auszahlen, das ich dort für Dich hinterlegt habe. Das ist Dein Lohn für die treuen Jahre, in denen Du mir dientest. Jeder Tag wird abgegolten sein, und Du wirst ein reicher, freier Mann sein.

Freue Dich auf die glückliche Zukunft!

Ich vertraue Dir.

Du schaffst, was ich Dir zumute, auch wenn es vermutlich einige Feldmeilen sind, die Du mit meiner Mumie zurücklegen musst. Das Geld für Deine Reise wirst Du zusammenbekommen, wenn Du unterwegs meinen Schmuck und meine Habseligkeiten veräußerst. Auf dem Karren oder in meinem Haus findest Du genug, was sich zu Münzen machen lässt.

 

Reise mit den Segen der Gottheiten, kleines Räblein. Bringe mich in meine Heimat und schenke meiner Seele Frieden.

 

Dein Dir verbundener

Calostro

Quent atmete lange aus, bevor er den Brief senkte und den Toten neben sich betrachtete. »Natürlich bringe ich Euch zurück, Herr«, sagte er leise und verständnisvoll. »Ich schwöre es.«

Er erhob sich und nahm unter größer Angst einem toten Scheusal den versengten Mantelrest ab, um Calostros Blöße zu bedecken. Danach legte er sich den Leichnam über die Schulter. Der Mann wog viel, fast das Doppelte von ihm. Der Marsch würde beschwerlich werden.

Quent drückte das Gitter auf und stapfte voran, über die getöteten Monster hinweg und mit der Lampe in der Hand.

Er vermied den Blick nach unten, schaute geradeaus, dorthin, wo die Freiheit auf ihn wartete. Ohne Gestank nach Blut, Verbranntem und Gedärmen, ohne Bestien.

Calostro und die aufgeklaubten Sachen schienen mit jedem Schritt schwerer zu werden, aber Quent ging vorwärts.

Von nun an war sein einziges Ziel Hilgaion, das Städtchen in Lygäion. Sobald er den Leichnam zum Deiwos-Tempel gebracht hatte, begann sein neues Leben.

Ein Leben, das er voll und ganz in die Dienste von Thýguda stellen würde.

***

Nankān, Königreich Taucora, Hauptstadt Gaurus, Spätsommer

Der Finsterfalke kreiste hoch über ihnen am blauen Himmel.

Nach ihrer eindringlichen Erklärung wartete Danèstra auf eine Reaktion von König Horneus, der in einer gefleckten Samttunika mit weißem Überwurf gelangweilt an ihr vorbeischaute. Es interessierte ihn nicht, was er hörte.

Danèstra hatte gehofft, mit seiner Gemahlin sprechen zu können, die große Stücke auf die Schicksalsklinge hielt. Leider weilte Korava im Sommerpalast außerhalb der Hauptstadt. Das machte es Danèstra schwerer, ein offenes Ohr für ihre Bitte zu finden. Horneus mochte sie nicht und hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht. Er sah sie als indirekte Bedrohung, wie die meisten Mächtigen.

Die Reise an den Hof war ohne Zwischenfälle verlaufen, sowohl über den großen Süßwassersee als auch durch Taucora. Nicht ein Crocodyl hatte die Fröschlein angegriffen. Da es der Kriegerin an Münzen nicht fehlte, war es nach dem Anlegen an Taucoras Gestade ein Leichtes gewesen, den Dienst einer eigenen Kutsche in Anspruch zu nehmen und bequem über die Straßen zu rollen. Nach nur vier Tagen hatten die ungleichen Frauen vor der Burg des Herrschers gestanden und waren umgehend vorgelassen worden. Ein Blick auf Danèstras Rüstung und ihre Insignien hatten jedes Zögern hinweggewischt. Das Gepäck wartete am Eingang auf sie.

»Hoheit?«, wagte Danèstra ein Nachhaken. »Habt Ihr bereits eine Meinung?« Sie hatte ihre Panzerung angelegt, damit ihr Besuch den offiziellen Charakter bekam, den er verdiente.

»Ich habe Euch vernommen, Großfürstin. Ihr sagtet, es gäbe keinen Zweifel, dass Ihr vom Schicksal in den Wald bei Samirlona gesandt wurdet, um diese …«

»Kalenia, Hoheit.«

»Diese Person vor dem Tod durch die Räuber zu bewahren, damit das Rätsel gelüftet wird, aus welchem Grund unsere Heimat nach Gemeinjahren der Ruhe von der Wildnis verschlungen wird«, fasste Horneus zusammen und legte die langen blonden Haare mit einer Handbewegung nach hinten.

»Das habt Ihr richtig verstanden, Hoheit.«

Danèstra, der König und Kalenia befanden sich auf einer der vier Innenweiden der weitläufigen Schlossanlage, in der der König im dreizehnten Jahr lebte und über das Land herrschte.

Auf den hundert mal hundert Schritt großen Grasflächen, an denen die sich die Stallungen anschlossen, standen die schönsten Tartabullen und Ehudikühe. Sie waren Besitztümer des Herrschers und sein persönliches Heiligtum. Drum herum erhoben sich Zäune und die Wände der Palastbauten. Thirío saß neben Kalenia und betrachtete die Kühe, als suchte er sich eine für sein Mahl aus. Sabber rann in dünnen Fäden aus dem Maul, die Ohren hatte er aufgerichtet.

Den Huftieren war nahezu alles erlaubt. Brachen sie von den Weiden aus und verwüsteten den Park oder griffen Menschen an, wurde die Angelegenheit mit Münzen geregelt. Das Vorgehen erinnerte Danèstra an Ebos und seine Crocodyle.

Horneus machte unvermittelt ein glückliches Gesicht. »Da ist sie!«

»Wer, Hoheit?« Hoffnungsvoll blickte sich Danèstra nach der Königin um.

»Ehudinata. Das beste Tier von ganz Taucora. Der Wuchs, das Fell, die Gliedmaßen. In jedem Gemeinjahr wird sie schöner. Ein Ideal für die Züchter. Sie werden meine Ehudinata bei der nächsten Schau bewundern dürfen und sollen wissen: Nur ich besitze solche Perfektion. Ich dachte schon, sie wäre in den Stallungen geblieben. Das hätte mir Sorge bereitet.«

»So, so. Das hätte Euch Sorge bereitet. Gut zu wissen. Wie sieht es mit Eurer Sorge um Nankān aus?«, drängte Danèstra ungehalten.

»Ununterbrochen, edle Danèstara von Tiamin. Ununterbrochen.« Horneus nahm eine schmale Pfeife zur Hand und gab damit ein Signal. »Aber die Wildnis ist weit weg.«

Ein Tier löste sich aus der Herde und eilte zu der kleinen Gruppe.

»Seht Ihr, wie Ehudinata mir folgt? Wie ein Hund!«, sagte der König begeistert. »Ist Euer Köter ebenso folgsam und gelehrig wie sie?«

Thirío knurrte leise.

Kalenia hatte die Hände zu Fäusten geballt, in den braunen Augen loderte Wut. Sie beherrschte sich mit Mühe und hielt ihre Zunge im Zaum, wie sie es mit Danèstra vereinbart hatte.

»Hoheit, ich lobpreise die Pracht Eures Hornviehs und worauf Ihr sonst noch Wert legt. Und gewiss schmeckt sie eines Tages auch großartig auf einem Grill, am Stück oder in Scheiben«, sagte Danèstra und schärfte ihre Stimme. »Doch was sagt Ihr zu dem, was ich Euch berichtete? Von den Verschwörern, die durch einen Dämonenpakt Yarkin in den Untergang getrieben haben und nicht ruhen werden, bis auch Nankān gefallen ist?« Sie streichelte den Rist der Kuh. »Einschließlich Taucora. Und Eurer Ehudinata.«

»Eine Schande.«

»Das ist alles?«

»Eine Schande, dass Ihr vom Braten und Rösten sprecht. Ihr macht ihr doch Angst.« Horneus legte eine Hand auf die Blesse des Tieres. »Was die Verschwörer anbelangt: Was soll ich Eurer Ansicht nach tun? Los, redet freiheraus. Ihr seid die Klinge des Schicksals, die stets einen Plan hat.«

Danèstra wusste, dass sich Horneus dumm stellte, um sie zu provozieren. »Hoheit, würdet …«

»Aber diese Schundromane nennen Euch so: die Klinge des Schicksals. Und Eure Anhänger und glühenden Verehrer«, unterbrach Horneus sie. »Diese Menschen, die Euch am liebsten als Kaiserin über ganz Nankān herrschen sehen würden.«

Natürlich. Er fürchtet sich mehr vor mir als vor den Verschwörern. »Das habe ich nicht zu bestimmen, Hoheit. Und ich will es auch gar nicht.« Danèstra wünschte sich die Königin herbei. Mit ihr wäre die Angelegenheit längst besprochen.

Aber Horneus blieb unnachgiebig. »Und wenn Ihr eines Tages auf meinem Thron erwacht? Ist das nicht das Zeichen, Euch die Herrschaft über Taucora anzueignen? Was soll ich von Euch halten, die sich schon Erz-Königin von Uthalosa nennt?«

»Den Titel bekam ich vom Kaiser«, stellte sie richtig. »Bislang sandte mich die unsichtbare Macht aus, um den Schwachen und Bedrängten beizustehen. Herrje! Legt endlich Eure kindische Angst ab, ich würde Euch die Herrschaft stehlen.«

»Aber es ist nicht sicher, dass es nicht geschieht!« Horneus streichelte Ehudinatas Nacken.

Danèstra musterte den König, der vom Altersunterschied her ihr Sohn sein könnte. »Zum letzten Mal: Ich bin keine Gefahr für Euch. Die Gefahr sind die Verschwörer, von denen ich Euch berichtete.«

»Kindische Angst nennt Ihr das.« Der König betrachtete sie eingehend. »Ihr habt recht: Ich traue Euch nicht. Ich traue Euren Anhängern nicht. Niemand könnte Euch aufhalten, wenn es Euch in den Sinn käme, die Länder für Euch zu fordern. Alles, was Ihr sagen müsstet, wäre: Das Schicksal will es so. Sie würden euch in die Paläste tragen.«

»König, das ist deine größte Sorge?«, platzte es wütend aus Kalenia heraus. »Ich habe die Namen und die Orte der Verschwörer, die verantwortlich für tausendfachen Tod und tausendfaches Leid sind, und du … sorgst dich … um …«

»Schweig!«, schrie Horneus sie an, und die Kuh zuckte erschrocken zusammen. »Wie kannst du es wagen, mich anzusprechen, als wäre ich deinesgleichen?«

»Sie lebte im Wald, Hoheit, in einer Köhlersiedlung«, versuchte Danèstra den Unmut zu dämpfen. »Vergebt Kalenia, dass sie es nicht gewohnt ist, mit Menschen Eures Standes zu sprechen und sich entsprechend zu benehmen.«

»Ich vergebe es nicht! Sollte sie noch einmal in diesem Ton zu mir reden, lasse ich sie auspeitschen.« Horneus schob das zahme Huftier an, und es trottete mit leisem Muhen zurück zur Herde. »Ist es nicht ein wenig verwunderlich?«

»Geht es erneut um Eure Kuh, Hoheit?«

Er blickte Kalenia lange an und fuhr sich wieder durch die blonden Haare. »Meine Vorgänger und ich selbst hatten mehrere Expeditionen zu Lande und zu Wasser in die Wildnis ausgesandt. Erfahrene Kriegerinnen und Krieger, Spurenleser, die beste Ausrüstung, die man sich vorstellen kann. Aber bis auf eine blieben sie verschollen.« Er wies mit einem ringgeschmückten Finger abschätzig an Kalenia hoch und runter. »Nun steht eine Rückkehrerin vor mir. Ein Mädchen von … vierzehn?«

»Sechzehn, Hoheit«, sagte sie und deutete einen Knicks an. Sie lernte schnell.

»Sechzehn Lenze, und will sich durch die Wildnis und das Irrsal gekämpft haben. Alleine. Hochschwanger.« Horneus machte aus seinem Misstrauen keinen Hehl. »Und sie kennt das Geheimnis der Wildnis. Wie, bei Deiwos dem Allmächtigen, geht das?«

»Die Erklärung, Hoheit, ist recht einfach. Mein Vater gehörte zu einer solchen verschollenen Expedition. Sie beschlossen, im Wald als Köhler getarnt zu leben, um mehr über die Mächte und Kreaturen der Grünödnis zu erfahren«, sprach Kalenia zu Danèstras Überraschung. »Er erwähnte das einmal. Aber ich dachte mir nie etwas dabei.«

Das hat sie erfunden! Danèstra biss sich auf die Zunge. Eine Lüge, um das Vertrauen des Herrschers zu erlangen.

Horneus machte kleine Augen. »Ist das so?«

»Das ist so, Hoheit«, erwiderte Kalenia und deutete eine Verbeugung an. Sie nahm einige Papiere aus ihrem Mantel. »Hier. Das sind die Beweise aus der vernichteten Siedlung, die Ihr gewiss haben wollt.«

Auch Papiere waren zuvor mit keinem Wort erwähnt worden. Sie weiß, wie sie an ihr Ziel kommt. Aber warum sagte sie mir davon nichts?

Horneus nahm die Unterlagen und betrachtete sie kritisch. »Das Siegel meines Vorgängers«, murmelte er. »Eine Ermächtigung, dass man den Tross an den Grenzen passieren lassen solle.« Er hielt ein vergilbtes Blatt gegen das Sonnenlicht. »Das Wasserzeichen scheint echt zu sein, auch wenn Tinte und Linien arg verblichen sind.«

»Ihr wolltet wissen, wie mir der Weg aus den Wäldern gelingen konnte: weil ich im Wald geboren worden bin«, erklärte Kalenia. »Ich kenne Geheimnisse, um in der Wildnis zu überleben. Und ich weiß die Namen und die Wohnorte jener Verschwörer, die das Leid zu uns brachten, Hoheit. Sie vernichteten mein Dorf und wollen Nankāns Ende, um ihre Belohnung zu erhalten.« Sie deutete auf die Blätter. »Habe ich Euch nun überzeugt, dass …«

»Überzeugt? Dass du keine Verräterin bist, die uns die Wildnis sendet, um uns den Todesstoß zu versetzen?« Horneus steckte die Unterlagen ein. »Nein, das gelang dir nicht. Auch das kann eine Fälschung sein. Ich lasse sie prüfen.«

So geht das nicht voran. »Hoheit, die verschiedenen Länder und Reiche auf Nankān müssen sich entscheiden, was sie wegen der Verschwörer unternehmen wollen«, warf Danèstra ein. »Ruft eine Zusammenkunft ein, ohne den genauen Grund zu verraten, damit die Verräter nicht gewarnt werden. Dann spreche ich vor den Herrscherinnen und Herrschern. Tut es jetzt gleich.«

Horneus stieß ein knappes Lachen aus. »Ihr denkt, die gekrönten Häupter reisen an, weil Ihr es wünscht? Ich glaube nicht, dass auch nur einer erscheint. Sie denken wie ich über Euch. Ihr seid eine Gefahr. Die Klinge des Schicksals, die zuschlägt, wann und wo immer es ihr beliebt.«

»Nicht wieder diese Leier, Hoheit.« Danèstra erlaubte sich den gestrengen Ton einer Mutter gegenüber einem aufsässigen, unbelehrbaren Kind. »Darüber werde ich nicht mehr mit Euch disputieren. Beruft das Treffen ein – oder ich werde es tun!«

Horneus ging auf das Gatter zu. »Es wäre der perfekte Moment für Euch, uns zu töten und zur Kaiserin des Untergangs zu werden.« Er deutete auf Kalenia. »Ihr könntet gemeinsame Sache machen. Eine nette Geschichte der Hoffnung, um einen Albtraum daraus werden zu lassen. Und Ihr werdet Herrscherin über Nankān. Wer weiß?«

»Werdet erwachsen, Hoheit!« Danèstra schloss zu ihm auf und bedeutete der jungen Frau, etwas zurückzubleiben. Sie hätte den Monarchen am liebsten am Arm ergriffen und festgehalten, um ihn zu schütteln. »Bei Deiwos! Ladet die …«

»Nein«, unterbrach Horneus sie entschieden. »Ihr mögt heute Nacht im Palast bleiben dürfen und Euch ausruhen. So viel Gastfreundschaft gewähre ich Euch.« Horneus öffnete das Gatter. »Morgen seid Ihr und diese Rückkehrerin verschwunden. Die Papiere bekommt Ihr dann wieder. Versucht Euer Glück mit dem Anliegen bei einem, der Euch geneigter ist. Kommt nicht auf den Gedanken, zu meiner Königin zu reisen. Sie wird mich nicht umstimmen.« Er machte eine Geste, um Danèstra zum Stehenbleiben zu veranlassen. »Wie ich schon sagte: Ich traue Euch nicht.« Dann ließ er sie und Kalenia stehen und rief einen lauten Befehl. Ein Bediensteter kam daraufhin aus den Stallungen geeilt und hielt auf sie zu.

»Es … es ist meine Schuld, nicht wahr?« Die junge Frau trat mit hängenden Schultern heran, eine Hand auf ihren Bauch gelegt. »Ich … hätte …«

»Du hast es gehört: Er traut mir nicht. Das ist der Hauptgrund, weswegen uns das Treffen nicht weiterbrachte.« Danèstra sah zu den Weiden, auf denen die Tartabullen und Ehudikühe grasten. »Er mag sich König nennen, aber er ist nicht mehr als ein eingebildeter Viehzüchter.« Sie löste ihre Flechtfrisur mit wenigen Handgriffen, die langen silbergrauen Haare fielen offen auf ihre Rüstung.

»Was tun wir?«

»Zur Königin reisen.« Sie streichelte Thirío und sagte zu ihm: »Ich weiß, du würdest dir gerne eine von den Kühen mitnehmen, aber das geht leider nicht. Wir finden beim Schlachter Ersatz gegen deinen Hunger.«

Thirío winselte einmal auf und leckte sich um die Schnauze.

Kalenia war die Überraschung anzusehen. »Aber sagte Horneus nicht …?«

»Aus Angst vor ihr. Er weiß, dass er gegen seine Frau nicht ankommt. Sie erinnert mich an mich selbst, in meinen frühen Tagen.« Danèstra ging nicht zu den Palastgebäuden zurück. Auf die Unterbringung verzichtete sie. »Wir brechen sofort auf.«

Der Bedienstete, in verdreckter Kleidung und schmutzig von der Stallarbeit, hatte sie eingeholt und verbeugte sich. »Der König schickt mich. Ich soll Euch in Eure Unterkunft bringen.« Es handelte sich um einen einfachen Knecht. Aufmachung und Rang des Mannes bedeuteten eine weitere Herabsetzung der Gäste.

»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Danèstra. »Folge uns, bitte.«

»Dieser Horneus ist weder weise noch klug.« Kalenia folgte der älteren Kriegerin. »Wie kann er König sein?«

»Ist das eine ernst gemeinte Frage, Kind?«

»Ja. Hat er sein Amt vom Vater erhalten?«

»Du musst wissen: Taucora ist ein Reich voller Hornviehbesessener, und sie sind berühmt für die Züchtungen, die auf den Weiden stehen. Fleisch, Fell, unerreicht.« Offenbar hatte die junge Frau weit entfernt von Nankān nichts mitbekommen. »Taucora bestimmt daher seinen König oder die Königin auf besondere Weise.«

Kalenia lachte bitter auf und streifte die Haube von den schwarzen Haaren. »Ich rate: Wer das schönste Tier hat.«

»Nein. Das wäre zu einfach. Ein Zweikampf. Mann oder Frau gegen den Heiligen Bullen. Das Tier muss mit bloßen Händen bezwungen werden.« Danèstra erinnerte sich an zwei Festspiele, denen sie beigewohnt hatte. »Ein ganz schönes Spektakel.«

»Einen ausgewachsenen Bullen wie jene dort?« Verwundert nickte Kalenia zu den Weiden. »Die wiegen … weit mehr als tausend Pfund! Wie soll man ein solches Vieh besiegen?«

»Du würdest staunen. Der Heilige Bulle ist größer. Mit langen Hörnern, die ausreichen, um drei Menschen aufzuspießen«, sagte Danèstra. »Jedes Gemeinjahr wird dieses Ritual neu abgehalten, und ein jeder und eine jede kann sich melden. Aber man muss danach das Amt antreten, sofern man den Heiligen Bullen besiegt.«

»Was bedeutet besiegt?«

»Niederringt, sodass das Tier in den Staub der Arena sinkt, ohne es zu töten. Wer danach das Amt nicht antritt, wird hingerichtet. Und wer den Bullen tötet, auch. «Danèstra führte sie zum Eingang, wo sie vom Hügel hinab in die Stadt marschierten. »Es gibt noch weitere Bullen, die dann zum Einsatz kämen. Und an Herausforderern mangelt es niemals. Zumal keiner Horneus leiden kann.«

Das Gepäck ließen sie sich vom Stallknecht hinterhertragen. Thirío trottete neben ihnen her. Vélos stieß wie aus dem Nichts herab und landete auf der gerüsteten Schulter der Kriegerin. »Horneus sitzt bereits im dreizehnten Jahr auf dem Thron, und keiner weiß, wie er den Stier jedes Mal bezwingen kann.« Sie streichelte den Kopf des Vogels, der sich gegen ihren Finger schmiegte.

»Dann ist der Heilige Bulle sein Verbündeter? Hat er ihn abgerichtet, oder ist es ein anderer Trick?« Kalenia stellte die Fragen, die sich jeder und jede auf Nankān stellte.

»Wir werden es nicht herausfinden. Die zehn Grafschaften, die weisungsgebunden sind, gehorchen zähneknirschend, auch wenn sie Betrug wittern.« Danèstra deutete auf eine Kutschstation. »Fahren wir.«

»Aber was mit meinen Papieren?«

»Holen wir morgen.« Danèstra gab dem Knecht eine Silbermünze, damit er ihr Gepäck auf dem ersten Gefährt verzurrte und davoneilte. »Wenn wir mit der Königin zurückkehren.«

Sie stiegen in den Wagen ein, der über eine gute Federung verfügte, was der Schwangeren entgegenkam. Die Stöße der Räder wurden über Feder- und Lederriemenvorrichtungen abgefangen.

Die großzügige Vorabbezahlung ließ den Kutscher auf den Bock springen und die Peitsche schwingen. Sänftengleich schaukelnd ging es für Danèstra und Kalenia durch die Straßen von Gaurus, zum Tor hinaus aufs weite Land.

Auf den schier unendlichen Weiden, über denen ein blauer Himmel hing, stand das Hornvieh, mal mit glattem, mit kurzem, mit langem, mit gelocktem Fell, und die Farben variierten von Brauntönen in Flecken, von Schwarz bis Weiß.

Danèstra verfolgte mit abwesendem Blick die Arbeit der Treiber, die auf Pferden ritten und Herden mit langen Stangen und knallenden Peitschen dirigierten, um sie auf frischen Weidegrund zu leiten.

Ihre Gedanken drehten sich darum, was sie unternehmen könnte, wenn auch die Königin sie nicht anhören wollte. Eine Brieftaube war von Gaurus gewiss auf den Weg zur Sommerresidenz geschickt worden. Horneus rechnete natürlich damit, dass Danèstra trotz seiner Anweisung dort auftauchen würde.

Muss. Sie schnallte das Wehrgehänge ab und legte es neben sich auf den Sitz.

Die Umgebung änderte sich. So weit das Auge reichte, erstreckten sich Felder, auf denen lang- und kurzhalmige Getreidesorten und Reis wuchsen. Die Büffel in den wasserreichen Gebieten unterschieden sich deutlich von den Exemplaren auf den Grasweiden. Bauern bestellten mit ihnen die gefluteten Äcker, das braune Wasser schäumte zwischen den unermüdlich marschierenden Beinen der gedrungenen, muskulösen Tiere.

»Die Armen! Wie sie sich unter dem Joch abmühen. Die einen müssen schuften, die anderen dürfen umherstehen«, sagte Kalenia.

»Wie auch in unserem Leben. Mensch und Tier sind sich ähnlicher, als die meisten ahnen.« Danèstra streichelte Thirío, der sich auf dem Boden ausstreckte, ein wenig mit dem Schwanz wedelte und die Augen schloss. Vélos saß auf dem Fensterrahmen und blickte sich aufmerksam draußen um. Er suchte in den Feldern nach Beute. Dann schoss er plötzlich mit einem leisen Ruf ins Freie und war verschwunden.

»Wie weit ist es bis zum Sommerpalast der Königin?«

»Am Ende des Tages sollten wir angekommen sein. Der Kutscher lässt die Pferde gehörig laufen.« Danèstra schüttelte ihre Gedanken ab und erlaubte sich keinerlei Zweifel. »Finden wir bei der Königin kein Gehör, reisen wir umgehend weiter. In Marwarod muss es jemanden geben, der uns anhört und eine Versammlung einberuft.«

»Ihr seid ungebrochen überzeugt von unserem Tun.«

»Das Schicksal erteilte mir eine Aufgabe. Ich erfüllte sie bislang alle.« Danèstra verfolgte den Flug des Falken, der abrupt abwärts– stürzte und zwischen den Gerstenhalmen verschwand. Die Ähren wogten bei seinem Einschlag wie eine Wasseroberfläche. »Auch wenn noch keiner meiner Schutzbefohlenen es wagte, dabei zu lügen.«

»Ich habe Euch nicht angelogen!«

»Mich nicht. Aber König Horneus.« Sie blickte Kalenia aufmerksam an. Die junge Frau hatte wieder diese Wut in den braunen Augen. »Dein Vater stammt nicht aus einer verschollenen Expedition. Er war ein einfacher Köhler.«

»Ich … ich musste doch lügen!«

»Aber du warst auf diese Lüge vorbereitet. Woher hast du diese Unterlagen?«

Kalenia seufzte. »Mein Vater fand sie. Bei längst gestorbenen Soldaten in der Wildnis. Er nahm mit, was er fand. Als ich aus meinem Dorf flüchtete, wusste ich, dass ich etwas brauche, um meine Erzählung zu belegen, sonst glaubt mir keiner. Gerade weil diese Verschwörer einflussreiche, bekannte Männer sind. Ich konnte nicht ahnen, dass ich der Klinge des Schicksals begegne.«

»Nein. Das konntest du nicht.« Danèstra überlegte. Die Lüge vermochte von keinem Zeugen widerlegt werden, und sie spielte ihnen in die Hände. Für die gerechte Sache war der Kniff erlaubt. Moralisch nicht einwandfrei, aber wider Horneus und die anderen Kleingeister musste mit Tricks gearbeitet werden. »Dann ist es so: Wir behalten die Geschichte bei.«

»Ja?«

»Ja. Sie ist die Absicherung gegen Zweifel.«

»Nicht bei Horneus.«

»Horneus hasst mich. Fast glaube ich, dass die Sache besser für dich verlaufen wäre, du wärst ohne mich bei ihm aufgetaucht. Ich sah seinen Blick, als er das Siegel seines Vorgängers erkannte. Da war ein Funke Glauben. Aber meine Anwesenheit machte ihn unzugänglich für unser Anliegen.« Danèstras Ärger über den sturen König flammte auf. »So ein Hornochse.«

»Daher gewiss sein Name.« Kalenia summte ein leises Lied.

Thirío hob plötzlich den Kopf, die Ohren richteten sich in die Höhe. Aus seinen blauen Augen beobachtete er Kalenia und lauschte aufmerksam.

Danèstra horchte auf. »Was ist das für eine Melodie?«

»Ich lernte sie von meiner Mutter. Sie spielte sie auf der Flöte, abends, wenn wir einschlafen sollten«, antwortete Kalenia. »Dein Hund mag sie.«

»Ja, das ist anscheinend so.« Thirío stupste Kalenias Bein mit der Schnauze an und forderte, dass sie weitersummte. »Dabei ist er üblicherweise zurückhaltend bei Fremden und neigt zum Beißen.«

Kalenia lachte. »Er hat sich schon in der Auster von mir streicheln lassen.«

»Das stimmt. Wie machst du das?«

»Meine Mutter sagte, sie habe einst Nymphen an einem Waldtümpel beim Singen belauscht. Mit ihren Melodien könne man die Bestien der Wildnis zähmen.« Kalenia betrachtete den Hund zu ihren Füßen. »Dabei sieht er gar nicht gefährlich aus.«

»Das ist er durchaus, Kind. Aber dir tut er nichts.« Die werdende Mutter überraschte Danèstra an einem Tag gleich zweifach: mit Findigkeit und mit einem einmaligen Talent. Das Schicksal hält große Stücke auf Kalenia.

 

Am frühen Nachmittag, und damit rascher als vorgesehen, erreichte die Kutsche den Sommerpalast der königlichen Familie, der an einem kleinen ruhigen Fluss lag, über dessen Kanäle und Verästelungen man Ausflüge in die pittoreske Umgebung unternehmen konnte.

Danèstra und Kalenia hatten die Fahrt überwiegend mit Dösen verbracht.

Thirío forderte mit freundlichen Nasenstupsern zwischendurch nach neuen Liedern, dem die junge Frau nachkam, was die Kriegerin in anhaltende Verwunderung stürzte. Das hatte sie nie zuvor erlebt.

»Wir sind da.« Danèstra nahm das Wehrgehänge und stieg als Erste aus, noch bevor der Kutscher vom Bock gesprungen war und die Tür geöffnet hatte. »Gut gefahren«, sagte sie und warf ihm eine Goldmünze hinauf. Dann legte sie ihre Waffen an. »Warte hier. Es mag sein, dass wir nicht lange bleiben werden.« Sie zeigte auf das Gepäck. »Du musst nichts abladen.«

Der Mann verbeugte sich und blieb sitzen.

Der Finsterfalke kam aus den Wolken geschossen und landete auf der Dachreling. Er schrie zufrieden, am gebogenen Schnabel hingen Flaumfedern und Blut.

»Ho, Vélos! Den Bauch hast du dir vollgeschlagen. Wenigstens einer von uns ist erfolgreich«, rief Danèstra ihm zu und half Kalenia den schmalen Ausstieg und die wackligen Klapptritte hinab.

»Ah, meine gute Freundin!«, sprach eine Frauenstimme voller Wärme in ihrem Rücken. »Ihr wart schnell. Beinahe hättet Ihr die Brieftaube überholt, die mein Gemahl sandte.«

»Sagte ich es nicht?«, raunte Danèstra Kalenia zu und wandte sich zur Königin um. »Danke für Euren herzlichen Empfang, Hoheit.«

Korava stand in einem einfachen hellen Gewand vor dem Tor zum Hauptgebäude, dahinter wartete mit vier Schritt Abstand ihr Hofstaat. Abseits der Augen und Ohren der Stadt genoss sie es, nicht in schweren, repräsentativen Kleidern umherzugehen; die langen blonden Haare hatte sie unter einem ausladenden grünen Hut gebändigt, was keinerlei Aufwand verlangte. Ketten umschmeichelten ihren Hals, an den Fingern leuchteten Perlenringe. »Ihr seid mir stets willkommen, mütterliche Freundin und Ratgeberin. Ich habe bereits das neuste Büchlein über Eure Abenteuer erhalten. Das werdet Ihr mir unterschreiben müssen.«

»Sagte ich Euch nicht, dass alles erfunden und erlogen ist, Hoheit? Ihr macht einen Betrüger reich.«

»Aber einen Betrüger, der gut schreiben kann und der mich köstlich unterhält.« Korava kam auf sie zu und streckte ihr beide Hände entgegen. »Willkommen auf Schloss Weidenthal, liebe Freundin. Einmal mehr.«

Danèstra ergriff ihre Finger und drückte sie leicht. »Ich danke Euch nochmals.«

»Erfrischungen stehen bereit, auch die Gästezimmer sind hergerichtet.« Sie wandte sich an Kalenia. »Da ist es, das Mädchen aus der Wildnis, mit dem Geheimnis ausgestattet, uns alle vor dem Übel zu bewahren.« Sie deutete auf den Schwangerschaftsbauch. »Ist das von der Wildnis höchstpersönlich?« Sie sah Danèstra an. »Also, in den Geschichten über Euch, liebste Freundin, würde ein Monstrum aus ihr hervorbrechen und uns ins Gesicht springen und seine Eier in uns legen, sodass wir daran sterben und sich eine Plage ausbreitet.« Sie vollführte eine kreisrunde Armbewegung. »In ganz Nankān wären die Bestien zu finden.« Sie klatschte einmal. »Wäre das nicht eine tolle und schauerliche Geschichte für die Klinge des Schicksals?«

Kalenia starrte die Königin mit offenem Mund an, beide Hände um den Bauch gelegt. Sie vergaß sogar den angebrachten Knicks.

»Das wäre es. Aber dann würde die Reihe über mich enden, Hoheit.« Danèstra lächelte. »Wir wären alle tot, nicht wahr?«

Korava lachte und winkte ab. »Ein dummer Scherz von mir. Aber es kam mir just in den Sinn, als ich die junge Dame sah. Unsere Retterin.« Sie zeigte zum aufragenden Schloss mit seiner Fassade aus Backstein und Granit. »Herein mit euch beiden. Ich will jede Kleinigkeit vernehmen. Von diesem echten Abenteuer, das Ihr bestanden habt, Danèstara von Tiamin.«

»Das sollt Ihr, Hoheit.«

Gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. »Und natürlich habe ich schon Brieftauben aussenden lassen.«

»Hoheit?«

»An die anderen Reiche. Wegen der Versammlung und um die Meinungen der übrigen Höfe und Räte einzuholen. Was mein Mann Euch verwehrte, gebe ich Euch dreifach. Schon alleine, um ihn damit grün und blau zu ärgern.« Korava lachte den Frauen zu. »Nun aber erfrischt Ihr Euch, und danach gibt es eine Stärkung. Das Kind muss wachsen.«

Danèstra grinste. »Ich wusste, dass ich auf Euch zählen kann, Hoheit.«

»Mein Gemahl mag mit seinem Stier spielen, durch die Fladen seiner Kühe waten und sich königlich vorkommen. Ich kümmere mich um die Angelegenheit von Taucora.« Sie hakte sich bei der Kriegerin ein und winkte Kalenia an ihre Seite.

»Die sind bei Euch in den besten Händen.«

***