Kapitel X

Nankān, Bairi Yar, Herbst

Quent kroch wie ein ängstlicher Wurm über den nassen Boden und nutzte hochstehende zerstörte Bodenplatten des Dammes als Sichtschutz vor der saphirfarbenen Seeschlange, die sich mit ihren drei drachenartigen Köpfen über die Menschen hermachte. Zwischendurch brüllte Skamata triumphierend und wälzte ihren drachenhaften Leib auf der Mauerkrone. Wie ein Wurm fühlte sich Quent auch: stets in Gefahr, vom Boden aufgepickt und verschlungen zu werden. Auf Thýguda vertrauend, schob er sich auf die Kabine der Seilbahn zu.

Der maskierte Dammwächter machte unterdessen schreiend Jagd auf jene, die versuchten, an ihm vorbeizuflüchten und dem Monstrum zu entgehen. Sein Dreizack traf tödlich genau.

Da sich die tobende Skamata dicht an dem Stützmast herumtrieb, erschien es Quent zu gefährlich, das Fortbewegungsmittel zu nutzen, um die zerstörte Mauerkrone hinter sich zu lassen. Am allerliebsten hätte er sich zu Fuß aus dem Staub gemacht, solange die Seeschlange unter dem Adligen und der Gruppe wütete. Aber der Sarg mit Calostros Überresten befand sich in der Kabine.

Ein Schwur bleibt ein Schwur. Quent verharrte und wischte das Regenwasser aus den Augen, linste um die schützenden Granitstücke herum. Seine Robe hatte sich vollgesogen und schien das Doppelte zu wiegen.

Zwei der blau geschuppten Skamata-Schädel hielten sich schadlos an den geschnappten Männern, der dritte machte sich einen Spaß, gegen den Adligen und seine verbliebenen Krieger zu kämpfen. Unentwegt setzte das riesige Monstrum den abgeflachten Schweif ein, warf sie mit gezielten Hieben um und schleuderte sie umher. Quent musste an eine Katze denken, die mit ihrer Beute spielte.

Ob der Wächter den Verstand verloren hat? Oder war sein Vorgehen der verzweifelte Versuch, die Bestie mit Menschenfleisch zu beruhigen und vom Einreißen des Dammes abzuhalten? Skamata kann für die Zerstörung verantwortlich sein.

Der Adlige und seine Kämpfer wichen vor der Seeschlange zurück, um sich aus dem Bereich der hereinbrandenden Wogen zu bringen, die eine zusätzliche Gefahr darstellten.

Krachend und knisternd verbreiterten sich die Risse in der Oberfläche der Barriere. Der Damm bebte unter dem Gewicht der Kreatur, die sich nun gänzlich aus dem Wasser schob und über die Mauer hinwegkroch. Sie verfolgte ihr lebendiges Futter mit Vergnügen.

Damit bekam Quent die Gelegenheit, an die er kaum mehr geglaubt hatte.

Danke, Thýguda! Er rutschte und rannte auf allen vieren vorwärts. Ein gewaltiger Sprung brachte ihn an Bord der verwitterten Gondel, in die sich eine weitere Woge ergoss. Dieses Mal hielt er sich am Rahmen fest und wurde nicht hinausgespült. Glassplitter klirrten über den Boden auf die Steine.

Hastig und mit kaltklammen Fingern betätigte Quent die Kurbel, blieb in der Hocke.

Quälend langsam hob die Kabine ab. Sie schaukelte sogleich im Wind und in den brechenden Wellen. Das von Sonne und Salzluft angegriffene Holz knarrte und knackte.

Quent stürzte durch das heftige Schwanken mit den Knien auf den Holzboden, er bediente den Mechanismus wie von Sinnen. Wollte er sich rasch fortbewegen und Skamata entkommen, musste die Gondel weit hinauf, um durch die Neigung am horizontal gespannten Seil entlangzuschießen. Doch sobald das Monstrum seine Absicht durchschaute und den senkrechten Tragemast umriss, um seine Flucht zu verhindern, verlor der Draht die Spannung, und die Kabine stürzte ab. Die Fahrt und sein Leben wären auf der Stelle vorbei.

Thýguda, das ist eine Prüfung. Ich werde sie meistern. Bewusst vermied Quent jeglichen Blick zur offenen Tür hinaus. Das leiser werdende Geschrei der Menschen und das Brüllen der drei Bestienköpfe verrieten ihm genug, wie es um die Gruppe stand.

Seine Arme schmerzten, die Lunge brannte von der Salzgischt, die durchnässte Kleidung hing schwer an ihm; die schwankende, pendelnde Kabine belastete seinen Magen ganz fürchterlich. Aber die Angst verlieh ihm die Durchhaltekräfte eines Riesen, mit denen er sich nach oben kurbelte.

Als Quent doch einen Blick hinaus wagte, lagen mehr als fünfundzwanzig Schritt Luft unter ihm. Vier bedauernswerte Kämpfer boten den letzten Widerstand gegen Skamata auf. Der wahnhafte Dammwächter hetzte einem fünften nach, der glaubte, Richtung Osten entkommen zu können.

Und nun fort! Quent fand nach etwas Probieren den richtigen Hebel, mit dem die Bremse gelöst wurde.

Die Gondel surrte die leichte Neigung entlang und in mehr als zwanzig Schritt Höhe über den Damm hinweg. Verlief die Fahrt anfangs viel zu gemächlich, um einer wütenden Seeschlange zu entkommen, beschleunigte die Kabine alsbald.

Bin ich bemerkt worden? Quent sah über die Kante aus dem hinteren Fenster, in dem es kein Glas mehr gab.

Skamata und der Dammwächter machten gemeinsame Jagd auf den Adligen. Noch hatten sie kein Auge für die Seilbahn, die sich von ihnen entfernte.

Das darf so bleiben. Er klammerte sich an eine Strebe, seine Angst vor einer Entdeckung ließ nicht nach. Die Flaschenzugrollen über ihm schnurrten, feuchter Wind fuhr durch die rüttelnde, pendelnde Gondel …

Unter Quent jagte der Damm dahin. Die Beschädigungen nahmen zu. Die Wellen hatten einen großen Teil der Platten zusammengeschoben und aufgetürmt. Die freigelegten, einst widerständigen Quader darunter waren dank See, Salz und Sonne zu Bröckchen zerfallen.

Die Risse und Sprünge zogen sich hin, so weit Quent blicken konnte. Löcher von mehreren Schritt Länge und Tiefe klafften in der lebensnotwendigen Barriere. In der Außenmauer erkannte er Stellen, an denen Teilstücke ausgeschwemmt und abgebrochen waren, die sicherlich eine halbe Feldmeile weit reichten. Der Zerfall schien mit herkömmlichen Mitteln nicht aufzuhalten sein.

Der Damm wird früher oder später brechen. Quent erhob sich und beobachtete entsetzt, wie eine Woge gegen die Mauer raste und sich daran brach. Ein großes Stück sackte daraufhin ab und versank in den tosenden Fluten. Es ist zu viel Wasser im See. Für diese Menge ist die Barriere nicht errichtet worden. Zudem fehlte auf der Südseite der ausgleichende Gegendruck.

Quent drehte den Kopf. Skamata wütete inzwischen in weiter Entfernung und war zu einem kleinen Umriss verkommen.

Das beruhigte ihn ein wenig, entspannte ihn aber keineswegs. Die Gondel sauste am Rand des Dammes entlang, und damit hätte die mehrköpfige Seeschlange leichtes Spiel, ihn mit schnellem Schwimmen und einem kräftigen Sprung aus den Fluten heraus zu schnappen.

Die Geschwindigkeit der Kabine blieb gleich, aber der Abstand zum Boden verringerte sich.

Quent wandte sich nach vorn um. Wie lange kann ich sie noch nutzen?

Er sah einen umgestürzten Tragemast, was das Durchhängen erklärte. Das Stahlseil verlief dennoch weiter geradeaus, in den dichten Regen und ins graue Ungewisse.

Feldmeile um Feldmeile reiste er dahin, geschätzte zwanzig hatte er in der kurzen Zeit bereits hinter sich gebracht. Als die Gondel zu sehr an Schwung verlor, unterstützte er die Fahrt mit dem Betätigen einer zweiten Kurbel, welche die Umlenkrollen zusätzlich antrieb. Keine fünf Schritt mehr trennten die Unterseite der Kabine von der zerklüfteten Oberfläche des Dammes. Quent drehte weiter, auch wenn die Haut an seinen Händen aufgerissen war und blutete.

Die Kabine war sein bestes Transportmittel. Mit dem Sarg würde er durch dieses Terrain viel zu langsam reisen und von dem Dammwächter oder Skamata eingeholt werden.

Als Quent sah, dass der Zustand der Mauerkrone und der Platten sich verbesserte, schöpfte er Hoffnung, die Prüfung lebend zu überstehen. Endlich!

Gleich darauf sackte die morsche Gondel grundlos abwärts und schlug auf dem Boden auf. Der poröse Rumpf zerbrach, die maroden Seitenwände lösten sich auf. In einem Durcheinander aus Holzteilen landete Quent auf dem Damm. Die schweren Flaschenzugrollen aus Eisen verfehlten ihn und die Totenkiste um eine Armlänge.

Quent befreite sich von den Trümmern und umfasste die Griffe am Sarg. Sie haben das Seil gekappt. Dann bleibt mir nicht mehr viel Zeit.

Er rannte sogleich los, Richtung Süden und weg von der Kante zum See. Skamata benötigte für zwanzig Meilen nicht lange, daher wollte er möglichst viel Strecke zwischen sich und die Bestie bringen. Der Regen würde seine Geruchsspur hoffentlich vernichten.

Keuchend lief Quent den Damm entlang, der sich inzwischen wieder makellos und einwandfrei präsentierte, als hätte es das beschädigte Stück niemals gegeben. Mehrmals stolperte er über den Gewandsaum, zerrte die verrutschte nasse Robe umständlich hoch und hetzte weiter. Rumpelnd hüpfte der Sarg hinter ihm her.

Dann sah Quent durch die Regenschleier und die schwach wabernden Nebelschleier schwarze Schatten aufragen. Die Reste eines großen Gebäudes. Erschöpft hielt er darauf zu. Gut. Ich werde einen Platz zum Verstecken finden.

Nach einer weiteren halben Meile erkannte er seinen Irrtum: Es waren die Ruinen einer Stadt.

Durch die eingestürzte Verteidigungsmauer gelangte er in verlassene Gassen und leere Straßen, passierte die sterblichen Überreste von Menschen auf den Granitplatten. Gebeine, fleischlos und ausgeblichen, waren in den Ecken achtlos zusammengescharrt worden wie Unrat. Um sie herum befanden sich die Roben und Kutten der Dammwächter, auf manchen Schädel saß sogar die Maske im Knochenantlitz.

Wieso bemerkt keiner auf Nankān, was in diesem Reich vorgeht? Die Antwort lag auf der Hand: Weil man sich um die Wildnis sorgte, ohne einen Blick für die anbahnende Katastrophe mitten unter ihnen zu haben.

Quent ging langsamer und hielt durch die Schauer Ausschau nach einem Haus, das intakt war. Er vermutete, dass die Zerstörung lange zurücklag. Moose und Flechten wuchsen überall, Möwen und andere Seevögel hatten ihre Nester in den Trümmern errichtet und fingerdicke Kotspuren hinterlassen, die der Regen nicht abwusch.

Nach einer gefühlten weiteren Meile durch Ruinen machte er einen stallähnlichen Anbau aus, der noch Dachziegel auf dem Gebälk besaß. Quent zog den Sarg hinter sich her ins Trockene und atmete auf. Das Dauerberieseln hatte ein Ende. Vorerst geschafft.

Im alten Stall hingen noch Ketten von den Decken, mit denen die Tiere vor den Trögen angebunden worden waren. Dann entdeckte er die zahllosen Gebeine sowie Kuttenreste in einer Ecke. Kurzerhand und zitternd vor Kälte, weil ihm durch das Stillstehen die Wärme der Bewegung fehlte, entfachte er daraus ein Feuer. Es brannte mit eigentümlichem Geruch und fahler Flamme, knackend verbreiteten sich Licht und Hitze.

Quent verließ sich darauf, dass Skamata ihn nicht verfolgt hatte. Zudem war die Seeschlange vollgefressen und hoffentlich nicht mehr in der Stimmung, dürrer Beute wie ihm nachzujagen.

Er betrachtete seinen offenen, blutenden Finger und Handflächen. Bald bin ich am Osttor. Es würde sich zeigen, ob es ebenso verlassen wie die Stadt war oder dort die nächste Falle auf ihn wartete.

Ich lasse mich nicht mehr aufhalten, dachte Quent entschlossen und malte mit einem verkohlten Knochenstück Thýgudas Siegel an die Wände, um sich vor dem Bösen zu schützen. Der Anblick der Symbole gab ihm ein Stückchen inneren Frieden. Calostro wird Frieden finden, und ich werde Priester. Er zog seinen durchnässten Überwurf und die Gugel ab, hängte sie mithilfe der korrodierten Ketten rings um das Feuer auf. Die Wärme im Stall wurde behaglich und einlullend. Quent lehnte sich an eine Wand und warf einige trockene Gebeine in die Flammen.

Schon bald fielen ihm die Augen zu, auch wenn sein Magen vor Hunger knurrte, und er sank in einen tiefen traumlosen Schlummer – bis ihn ein stechender Schmerz weckte.

Mit einem lauten Schrei riss er die Lider auf und sah über einen langen Holzschaft hinweg den maskierten Dammwächter vor sich stehen. Er hatte Quent den Dreizack in die rechte Schulter gerammt und hielt ihn aufgespießt gegen die Wand gedrückt.

»Dachte ich mir, dass du davon wach wirst«, kam es gedämpft hinter der Maske hervor. »Wie seid ihr auf den Damm gekommen?«

Quent legte beide Hände um den Stiel und versuchte, den Druck zu mindern. Aber die Kraft des Gegners war zu groß. Mehr als ein Stöhnen kam nicht über seine Lippen.

»Wie?«, rief der Mann wütend. »Verrate es mir! Keiner kommt an den Machinas vorbei, die …«

»Das Tor stand offen«, ächzte Quent. Das Blut lief ihm den Rücken hinab, die Zinken waren hinten aus seiner Schulter ausgetreten. Da er noch Luft bekam, mussten sie die Lunge verfehlt haben.

»Lüge!«

»Es stand offen. Ich schwöre es bei Thýguda! Erst als ich und die Gruppe hindurchgegangen waren, schloss es sich.«

»Niemals!«

»Es war so. Ich … ich sah in der Nähe einen toten Dammwächter«, sagte er und stöhnte vor Schmerz. »Vielleicht war er zu schwach, die Riegel vorzulegen.«

»Ihr seid Eindringlinge und ohne Erlaubnis nach Bairi Yar gekommen. Obendrein habt ihr Skamata erzürnt, die in ihrer Wut und auf der Jagd große Schäden am Damm anrichtete«, erklärte der wütende Mann. »Das gab es schon lange nicht mehr, dass sie ungerufen erschien und tobte.«

»Ich habe die Schäden gesehen.«

»Weil du und deine Freunde …«

»Es waren nicht meine Freunde!«

»Weil ihr nicht den Weg genommen habt, den sonst alle gehen. Geführt. Von uns«, zischte ihn der Wächter an. »Das hättest du niemals sehen dürfen. Und es darf niemand in Nankān wissen. Es muss ein Geheimnis bleiben.«

Quent wollte sein Todesurteil nicht hinnehmen. Aber der Druck auf dem Dreizack blieb unerbittlich. Ein Schlag gegen den Schaft würde nichts ausrichten, und mit dem Fuß erreichte er weder die Waffe noch den Feind. Er unternahm dennoch einen verzweifelten Versuch, das Holz zu packen und die Zinken herauszuziehen.

Sein Rütteln wurde von dem Maskierten sogleich unterbunden. »Das wirst du sein lassen!« Er drückte den jungen Mann mit dem Dreizack zu Boden wie einen harpunierten Fisch.

Quent hatte dem in seiner Erschöpfung nichts mehr entgegenzusetzen. Es ist vorbei. Er starb in den Ruinen einer unbekannten Stadt, neben der Leiche seines Herrn, erbarmungswürdig in Leibwäsche, ohne seine Mission erfüllt zu haben. Thýguda, verzeih mir.

»Ich schleife dich …«, setzte der Dammwächter an und verstummte schlagartig. Seine Hände verloren die Kraft. Er rutschte am langen Stiel abwärts und sank vor Quent auf die Knie, als wollte er sich für seine Tat entschuldigen.

Hinter ihm wurde die stämmige Ovinia sichtbar, die einen blutigen Dolch hielt.

»Warte, Junge. Ich helfe dir.« Sie steckte ihre besudelte Waffe weg, stieß den Sterbenden zur Seite und setzte Quent einen Fuß auf die Brust, packte den Dreizack mit ihren kräftigen Händen. »Das wird wehtun. Denk an was Schönes.«

Ruckartig zog sie.

Quent brüllte, wie er noch nie gebrüllt hatte.

***

Nankān, Wildnis, Spätherbst

Du hättest den Jungen nicht entkommen lassen dürfen.« Perdis, die ihr mit Symbolen verziertes Priesterinnengewand trug, blickte vorwurfsvoll hinüber zu Iradias Bai, dessen Gesicht im Schatten der ausladenden Hutkrempe verschwand. Dieser Hut hatte ihm die Spitznamen Mann ohne Antlitz und Sprechendes Kinn eingebracht. Sie ritten wie der Rest der Truppe zu zweit nebeneinander auf dem breiten Pfad, und Perdis sprach laut genug, dass die Übrigen ihre Zurechtweisung mitbekamen. »Er hätte uns Dinge zur Siedlung erzählen können. Ich hörte, er und diese Kalenia verbrachten viel Zeit miteinander.«

»Ich hatte vor, ihn mitzunehmen«, gab der Windbüchsenschütze unwirsch zurück, der in seiner grünbraunen Kleidung kaum in der Umgebung auffiel. Bis auf Perdis trugen sie alle Lederkleidung und Lederrüstung. Der Tod lauerte in vielfacher Gestalt im Gestrüpp und in den Bäumen. »Die Meute und diese beiden Möchtegerngardisten hinderten mich daran. Woher sollte ich wissen, dass das Abschießen einer Brieftaube einen Aufstand auslöst?« Missmutig spuckte er vom Pferderücken herab. »Es waren zu viele. Wegen Mord wollte ich nicht aufgeknüpft werden. Der Galgenturm war mir zu nahe.«

»Das ist das Gleiche, wie wenn du einen Nachrichtenläufer erledigst. Das findet auch keiner witzig«, warf der betagtere Heersen von hinten ein und rückte die Sehgläser zurecht, die er in einem Drahtgestell auf der Nase trug. »Die Botschaften müssen durchkommen. Stell dir vor, es stünde etwas Wichtiges drin.«

»Wie die Nachricht des Scheißers an seine berühmte Mutter, meinst du?«, gab Iradias zurück. »Könnte das der Grund gewesen sein, warum ich den scheiß roten Vogel aus dem Himmel geholt habe? Kaum vorstellbar!«

Die Gruppe um sie herum lachte leise. Er bewarf Heersen mit einem abgerissenen Ast, an dem ein rot gepunktetes Blatt haftete. »Bleib bei dem, mit dem du dich auskennst.«

»Tue ich. Nehmen wir die Pflanze, die du gerade berührt hast.«

»Der Baum. Was ist damit?«

»Das ist ein …«

»Kommt jetzt irgendein verquerer Name, den sich niemand merken kann und den gelehrte Angeber nutzen, um sich wichtigzumachen?«, unterbrach ihn Iradias. »Los. Beeindrucke mich.«

»Ich wollte nur sagen« – wieder rückte er die Sehgläser zurecht –, »er ist giftig.«

»Was?« Erschrocken schaute Iradias auf seine Hand.

»Sein Harz und seine Blattsäfte töten. Zügig.« Heersen tat, als drehte er eine Sanduhr um. »Die roten Punkte sollen abschrecken.«

Iradias fluchte und rieb die Finger an seiner Rüstung ab, nahm die Wasserflasche und kippte sich einen Schluck darüber, um sie zu spülen. »Was kann man dagegen tun? Rasch!«

»Nichts.« Dann lachte Heersen schallend, und die Übrigen stimmten mit ein.

»Oh, das war sehr lustig.« Iradias zog die dunkelgrüne Krempe weiter herab. »Du bist ein Arschloch, Heersen. Ein altes Arschloch.« Er achtete stets darauf, dass man sein Gesicht bei Tageslicht nicht sah. Nur am Abend, wenn sie am Lagerfeuer saßen und er den Blick nach oben hob, hatte das Licht eine Gelegenheit, seine Züge und das dünne Oberlippenbärtchen zu beleuchten.

»Seid ruhig jetzt«, befahl Perdis. »Erinnert euch: Wir sind in der Wildnis, nicht mehr im Irrsal. Bis zur Siedlung haben wir noch etliche Meilen vor uns. Ich würde es gerne lebend bis hin schaffen.«

»Und zurück.« Arbos warf einen Blick vom Kutschbock des vorderen Wagens auf die Gruppe, deren Befehlshaber eigentlich er war, auch wenn Außenstehende oft den Eindruck gewannen, es wäre Perdis. Er ließ die Priesterin gewähren. Als Anhänger des alten Glaubens auf Nankān konnte er den zugezogenen Gottheiten nichts abgewinnen, aber solange sie gegen die Finsternis halfen, war es ihm gleich. Sollten sie den Beistand von Deiwos und Thýguda benötigen, bräuchten sie Perdis, die in Elayion bestimmt eine größere Siedlung als Vorsteherin führte.

Arbos, ein stattlich-kräftiger Mann mittleren Alters mit einem dichten, dunkelbraunen Bart, stellte sich auf und ließ den Blick von der erhöhten Position des Karrens über die Truppe schweifen. Im Verlauf der Reise hatte sich die Zahl dezimiert. Jede Feldmeile zahlten sie mit Verletzungen oder einem Toten.

Zum Kern gehörten der betagte Heersen Kronbloim aus Siwenloith, der ihnen als Kenner für Pflanzen mitgeschickt worden war. Sysca Râal, die neben ihm saß, und Nymaina Sôol aus Izozath waren die Expertinnen für Electorum-Waffen von unterschiedlicher Durchschlagskraft, von denen die drei Wagen etliche bargen. Die Geschütze lagen unter Planen abgedeckt und konnten jederzeit zum Einsatz gebracht werden. Arbos wünschte sich das nicht, aber er war gespannt, was sie bewirkten.

Perdis war nicht nur Priesterin, sondern auch magisch begabt. Sie beherrsche von allem ein wenig, wie sie sagte, und verdanke ihre Kraft Thýguda. Sie lehnte den Begriff Zauberin ab, obgleich sie dieselben Formeln nutzte. Ihre Begleiterin hatten sie an eine Ansis-Viper verloren.

Iradias Bai war ein Windbüchsenschütze, wie man ihn selten sah. Die Präzision seiner Schüsse war gegen die Bestien von enormer Wichtigkeit, ganz gleich ob er Pistolas, Büchsen oder seinen Stutzen einsetzte.

Arbos selbst stammte aus Taucora und war von den Mächtigen zum Anführer der Mission ernannt worden, was sich im Titel Oberhauptmann niederschlug. Weil er zu den wenigen Menschen auf Nankān gehörte, die an einer Expedition in die Wildnis teilgenommen hatten und lebend zurückgekehrt waren. Er kannte die Tücken der grausamen Wälder am eigenen Leib. Als Tierfänger und Spurenleser oblag es ihm, den anderen Anweisungen zu erteilen.

Zu diesem wertvollen Kern hatte er in Merirosvo knapp hundert Abenteurer angeheuert, Männer und Frauen, die für die Aussicht auf einen überguten Lohn alles taten. Sogar in die tödliche Wildnis mit ihrer gefährlichen Natur und den grausamen Bestien zu marschieren, wo es angeblich sagenhafte Schätze zu finden gab.

Dieses Gerücht hatte Arbos beim Anheuern gestreut.

Die Gier vollbringt stets neue Wunder an den Menschen. In den Gesprächen hatte er eine Karte präsentiert, die den Unwissenden nichts als die Siedlung und keine unermesslichen Reichtümer zeigte. Aber woher sollten sie es besser wissen? Freudig hatte sie daraufhin ihren Vertrag unterzeichnet, im festen Glauben, je ein Prozent vom Anteil des Schatzes als Bonus zu bekommen.

Ein Teil der Hasardeure ging voraus und prüfte den Weg. Sie rodeten ihn mit langen Macheten und machten ein Durchkommen der großrädrigen, hoch gebauten Wagen erst möglich. Ein anderer Teil bewachte die Gefährte, und ein kleiner Rest bildete die Nachhut.

Die Reise blieb gefährlich, Meile um Meile. Nach Angriffen von affenartigen Bestien hatten sie ein halbes Dutzend Tote zu beklagen, vier Mann waren durch Schlangenbisse gestorben. Meuchelefeu, verschiedenste Monstren, Feuerranken, Todesdorn … So ging es weiter auf der Liste. Drei Hasardeure hatten sich letzte Nacht heimlich abgesetzt, sie wollten nicht tiefer in die Wildnis vordringen, wie auf einer gekritzelten Notiz stand.

Arbos rechnete nicht damit, sie lebendig wiederzusehen. Er setzte sich wieder.

Ihre Mission sah vor, die Köhlersiedlung zu erreichen, aus der Kalenia stammte, eine junge Frau, die behauptete, sie besäße Wissen über das Geheimnis der Wildnis. Arbos und seine Leute sollten sich umschauen und Beweise für die Behauptungen suchen, ehe die Mächtigen in Nankān bereit waren, den Ausführungen der Frau zu glauben und auf ihre Aussagen hin Entscheidungen zu fällen.

Außerdem trug er einen versiegelten Umschlag mit Anweisungen bei sich, den er öffnen sollte, sobald sie den Ort erreicht hatten. Nicht vorher.

Welch ein Kommando. Nicht alle Mächtigen fanden die Unternehmung gut, wie Arbos gehört hatte. Vor allem in Siwenloith wollte man die aggressive Wildnis nicht reizen. Daher unterließ man es, mit einem gewaltigen Heer bis zur Siedlung vorzurücken – abgesehen davon hätten sich die Soldatinnen und Soldaten aus den regulären Streitkräften vermutlich geweigert. Es bedurfte »verwegener Seelen«, wie er und die Mitglieder seiner Truppe bezeichnet worden waren.

Und doch greift die Wildnis um sich. Sie hätten das Heer senden sollen anstatt uns. Auf dem Weg durchs Irrsal hatten sie vereinzelte Ausläufer der Grünödnis entdeckt, die sich wie dürre Finger ins Land schoben. Dagegen gingen die Bewohner vor, mit Feuer und scharfen Äxten sowie der einfachen Magie der Bauern.

Wie Arbos gesehen hatte, blieben die Abwehrerfolge dürftig. Damit wurde ihre Mission zu einer großen Sache. Sofern wir herausfinden, dass es einen Weg gibt, das Übel aufzuhalten. Kalenias Geheimnis wird bald enthüllt sein.

Der Wagen holperte über eine Wurzel, und Arbos rutschte gegen die Frau neben sich, die wie alle Lederkleidung und Rüstung trug. Dabei bemerkte er den Duft von gerösteten Mandeln und erhitztem Eisen. Es war keine der Legenden, die über die Izozath erzählt wurden.

»Verzeihung«, sagte er und rückte auf dem Kutschbock zurück.

Sysca lächelte. »Es wird noch viele Male vorkommen, bis wir die Siedlung erreicht haben. Das ist doch so bei einer Expedition, Oberhauptmann.« Die Ingenia mit der gemaserten Alabasterhaut ließ die angespannten Ochsen langsamer laufen, da sie zur Vorhut aufschlossen, die auf sie gewartet hatte. Die langen schwarzen Haare hatte sie wie ihre Freundin Nymaina zu einem Zopf gebunden. »Es gibt etwas auf unserem Weg, wie mir scheint.«

Arbos prüfte ihren Standort mit einem Blick auf die Karte, die er aus dem Stiefelschaft gezogen hatte. »Es ist nichts eingezeichnet, was es zu sehen gäbe.« Er steckte den Plan zurück, sprang auf den grasbedeckten Boden und bedeutete der Kerntruppe, ihm zu folgen.

Als er zur Vorauseinheit gelangte, erkannte Arbos, warum sie seine Meinung einholen wollten. Der Pfad, den sie nutzten, wurde von einer zugewucherten Straße gequert. Sie war abgesackt und streckenweise eingebrochen. In geschätzt hundert Schritt Entfernung hatte sich ein tiefer Trichter aufgetan, aus dem der durchdringende Gestank von Verwesung drang. Was immer darin gelebt hatte, es war tot und zersetzte sich.

»Ich hoffe, es lebt wirklich nicht mehr«, sagte Iradias unter seiner Krempe hervor und schulterte seine schwere Windbüchse. Das hohe Gewicht und die geringere Reichweite bedeuteten einen Nachteil gegenüber Electorum-Waffen; dafür kosteten sie nur einen Bruchteil. »Gegen Untote würde ich nicht ziehen wollen.«

»Es könnte sein, dass du keine Wahl hast«, gab Arbos nachdenklich zurück.

»Wir haben den Krater einmal umrundet«, erklärte ein Mann der Vorhut. »Es sieht aus, als wäre der Weg absichtlich zu einem Hinterhalt umgebaut worden. Darunter scheint es einen Schacht mit anschließendem Tunnel oder Stollen zu geben. Reinsteigen war uns zu gefährlich.«

Arbos zog seine Windpistola und ging langsam den Weg entlang. »Schauen wir nach.«

Bis auf die Frauen aus Izozath, die zu den Wagen mit den Electorum-Geschützen zurückkehrten, folgte ihm die Kerntruppe und machte ihre Waffen bereit. Arbos zog die Karte aus dem Stiefel und prüfte sie erneut. »An der Straße steht zwar etwas, aber ich kann es kaum …« Erst als er das dünne Papier gegen das schwache Licht hielt, das von oben durch die Äste drang, erkannte er eine nachträglich entfernte Markierung. »Mineneinstieg«, las er leise vor.

»Was meinst du?« Perdis hielt ihr Schwert in der Rechten, die Linke umfasste das Symbol ihrer Göttin.

»Es muss eine Mine unter der Straße gegeben haben.« Arbos deutete nach Nordwesten. »Der Einstieg liegt in dieser Richtung.«

»Längst aufgegeben. Wer würde in der Wildnis schürfen?« Iradias hielt seine Büchse schräg vor dem Körper, um sie jederzeit in Anschlag bringen zu können. Er hatte einen Dolch unter den Lauf angesetzt, um sich im Nahkampf damit zu verteidigen. »Was stinkt hier? Faules Gold?«

»Grubenwasser«, schlug Perdis vor. »Eine alchemistische Substanz ist ausgeschwemmt worden.«

»Es könnten verrottende Pflanzen sein«, warf Heersen ein. »Oder Brechwurzel, die bekannt für ihren absonderlichen Gestank ist. Erinnert an Fäulnis und Pestgeschwüre.«

»Schönes Gewächs.«

»Schön, ja. Aber damit hat es sich schon.« Heersen bewunderte die wuchernden Bäume und das Dickicht, wieder fingerte er an seinen Nasengläsern herum. »Herrlich, wie alles wächst.« Die übrige Gruppe teilte die Begeisterung des Mannes aus Siwenloith nicht.

Arbos ließ sich auf ein Knie herab. Er hatte etwas entdeckt. »Da liegt ein verrosteter Splint, der zu einer Wagenbefestigung gehörte. Ich schätze, sie brachen ein, und der Rest liegt da unten.« Er hob den Blick. »Arme Schweine.«

Iradias lugte vom Rand des Einbruchs in die Tiefe, zielte mit der Windbüchse hinein. »Holla? Ist da jemand? Braucht ihr Hilfe?«

Arbos betrachtete den Splint. Er bezweifelte, dass die Reisenden noch am Leben waren. Ihn machte stutzig, dass sich Wagemutige auf den Weg gemacht hatten. In die Wildnis. Mit einem Karren. Sie haben sich keinesfalls verlaufen. Was suchten sie hier?

Die Hasardeure der Vorhut standen abseits und redeten leise miteinander. Mehrfach fielen die Worte Mine, Edelsteine, nachschauen und Schatz gefunden. Dieses Mal war die Gier nicht hilfreich.

»Das ist nicht unser Ziel«, rief Arbos ihnen zu.

»Das nicht, Herr.« Einer der Männer zeigte die von Wurzeln, Bäumen und Ranken halb verschlungene, aufgebrochene Straße entlang. »Ich erinnere mich an ältere Berichte. Es gab mal vor dem Angriff der Wildnis eine reiche Mine, in der Baron Swistan nach Edelsteinen grub. Sie musste von ihm aufgegeben werden. Aber nicht etwa, weil das Vorkommen erschöpft war.«

Arbos tauschte Blicke mit Iradias, Perdis und Heersen. Solche Gerüchte konnten sie nicht gebrauchen. Den Hasardeuren aus Merirosvo war der Schatz in greifbarer Nähe deutlich lieber als die Aussicht auf weitere Tagesmärsche durch die mit Bestien gefüllten, tödlichen Wälder an einen Ort, von dem man auch noch zurückmusste.

»Ihr werdet auf dem Rückweg genug Gelegenheit haben, euch durch die Stollen zu wühlen«, sagte die Priesterin resolut. »Sollte es Edelsteine zu holen geben, nimmt sie euch keiner weg.« Sie senkte die Stimme und deutete zum entfernt wartenden Tross. »Seid schlau und berichtet keinem darüber. Dann bleibt mehr für euch.«

Die Hasardeure legten sogleich verschwörerisch die Hände überei–nander, um einen raschen Eid zu leisten, niemandem davon zu erzählen.

Arbos nickte Perdis dankend zu.

Heersen war unterdessen ganz nahe an eine Ranke getreten, die sich um eine Rotrindenfichte wand und das feste Holz einschnürte, sodass sich Risse gebildet hatten und Harz austrat. »Das ist … sehr beeindruckend«, wisperte er und zog ein haardünn gewalztes Skalpell aus seiner Werkzeugtasche, zusammen mit einer Lupe. »Eine Schlangenranke. Sie ist viel größer und stärker, als sie eigentlich sein dürfte.«

»Finger weg«, herrschte ihn Iradias an und tippte ihn mit dem Unterlaufdolch an. »Sonst greift sie an und wringt dich aus!«

Heersen verzog das Gesicht als Antwort und verdeutlichte damit, was er als Kenner von der Meinung des Schützen hielt.

Arbos erhob sich vom Boden und schloss die Augen. Er lauschte auf die Geräusche der Umgebung, in der es leise raschelte und knisterte, als würde es regnen. Dann drang ein moschusartiger Duft in seine Nase. »Wir sind nicht mehr alleine«, raunte er, sodass es seine Kerntruppe vernahm.

»Von links kommt jemand den Weg entlang. Ein Wagen. Berittene«, verkündete Iradias und hob die Büchse, um durch das montierte Zielfernrohr zu blicken. »Vorweg läuft eine bleiche Frau, vermutlich aus einer der Grottenstädte in Marwarod. Denen bin ich schon öfter begegnet.«

»Eine Kundschafterin.« Perdis sah zu Arbos, der langsam die Lider öffnete. »Was tun wir?«

»Diese Ranke ist … anders«, murmelte Heersen, der in seinem fachlichen Faszinosum ignorierte, was um ihn herum geschah. Er senkte die dünne, scharfe Klinge behutsam in flachem Winkel durch die Außenhaut.

Ein Zucken lief durch die Pflanze, und sie löste sich von ihrer Position, um dem Angriff zu entkommen.

»Bei Deiwos!«, jubelte Heersen und betrachtete den ausgetretenen Saft auf dem Skalpell. »Das war eine …«

»Zurück zum Tross«, befahl Arbos angespannt. »Wir werden gerade umzingelt.«

»Was?« Iradias schwenkte den Lauf auf der Suche nach einem Ziel. »Wo?«

»Überall. Auch von oben.« Er deutete mit seiner Pistola über ihre Köpfe. »Zu den Geschützen! Sonst werden wir draufgehen.«

Perdis packte Heersen an der Schulter, der aufbegehren wollte, und zog ihn mit sich, die Hasardeure sicherten den Rückzug. Sie bewegten sich auf den Durchgang zu, der zu ihrem Pfad führte.

Iradias blickte gelegentlich durch sein Zielfernrohr die zerstörte Straße entlang nach der zweiten Gruppe. »Unheilige Dämonenscheiße«, entfuhr es ihm. »Da kommt der Rest von denen! Ihr werdet niemals erraten, wer das ist.«

Arbos fand, dass in diesem Abschnitt der Wildnis viel zu viele Menschen unterwegs waren. »Das ist mir gleich«, raunte er. »Ich will zu den Geschützen.«

»Die Klinge des Schicksals«, sagte der Schütze dennoch.

»Nicht möglich!«, rief Heersen überrascht.

»Wer würde ihr Wappen und den Harnisch nicht erkennen?« Iradias korrigierte die Einstellungen des Vergrößerungsglases über dem Lauf. »Ältere Frau, Silberhaare und ihre berühmte Flechtfrisur, das Signum auf dem Brustpanzer«, berichtete er. »Sie hat eine sehr junge Frau bei sich. Sitzt auf dem Kutschbock neben einem Mann mit goldenem Nasenring. Taucoraner, denke ich. Die junge Frau sieht ziemlich genau so aus wie die Rückkehrerin auf der Zeichnung, die wir gesehen haben. Und ziemlich schwanger.«

»Das bedeutet«, sagte Perdis freudig, »dass sich Kalenia bei ihr befindet. Wir könnten sie abgreifen!«

»Zu. Den. Geschützen«, wiederholte Arbos und zog seinen schweren Säbel. Er hatte im Farn auf der gegenüberliegenden Seite der Straße Schatten ausgemacht, die vorwärtspirschten und sich rasch näherten. Raubkatzen, die Fleckfärbung spricht für Waldluchse. Allerdings passte die immense Größe nicht. »Da kommt etwas auf uns zu, was ich nicht kenne.«

Der Moschusgeruch nahm zu.

»Ich glaube, sie haben uns bemerkt«, verkündete Heersen. »Die Späherin ist …«

»Sie haben nicht uns bemerkt, sondern diese Bestien.« Arbos blickte alarmiert in die Runde. »Wenn ich es sage, dreht ihr euch um und rennt los.« Dann setzte er die Signalpfeife an die Lippen und gab dem entfernten Tross das Zeichen, Kampfstellung zu beziehen. Er hoffte, dass Sysca und Nymaina besonnen genug an den Electorum-Geschützen blieben, um gezielte Salven gegen die Kreaturen senden zu können. Die kleinen Kugeln der Windbüchse und der Pistolas würden nichts ausrichten, allerhöchstens bei einem Treffer ins Auge und durch den Schädel.

Kaum erschallte vom Pfad die gepfiffene Erwiderung, dass der Befehl verstanden worden war, sprangen die Bestien fauchend aus ihren Verstecken.

Arbos musste kein Zeichen geben. Iradias, Heersen und Perdis sprinteten auf der Stelle los, die Hasardeure folgten ihnen.

Arbos spurtete vorneweg und wehrte Attacken der riesenhaften Waldluchse aus dem Unterholz mit Säbelhieben ab. Trotzdem erwischten ihn zwei Krallen, die sich durch die Lederrüstung schnitten und blutige Kratzer hinterließen. Die Kraft des Treffers brachte ihn aus dem Tritt, Iradias’ rasches Zupacken verhinderte, dass er stürzte.

Sie rannten den Pfad entlang und büßten die Vorhut ein, die zu langsam war, um den übergroßen Luchsen zu entkommen. Die Hasardeure wurden mit Nackenbissen getötet und nahmen das Gerücht der Mine mit in den Tod. Die Raubkatzen hielten sich nicht mit Fressen der Beute auf, sie wollten allen den Tod bringen.

Arbos keuchte und rannte. Vom Tross erklang das hohe Sirren der Electorum-Geschütze. Die unaufhörlichen Energieentladungen veränderten die Luft und hinterließen einen unbeschreibbaren Geschmack am Gaumen.

Sie erreichten die Wagen und die übrige Truppe, die sich in heftigen Gefechten mit den Kreaturen der Wildnis befanden. Rindergroße Luchse drangen auf die Menschen ein, aus den Bäumen und Zweigen sprangen affengleiche Wesen und droschen mit Ästen auf die Eindringliche ein. Zwei Waldbären warfen sich brüllend auf die verängstigten Ochsen und fügten ihnen mit Tatzenhieben schwere Wunden zu.

Aber die Hasardeure leisteten erbitterten Widerstand und verteidigten ihr Leben. Eisenwaffen klirrten und stachen zu, sodass das Blut der Bestien den Boden benetzte. Pistolas und Windbüchsen fauchten.

Über den Kämpfern standen Sysca und Nymaina auf den Karren, sie hatten beschichtete Schutzwesten und Kittel angelegt. Um die Köpfe trugen sie Lederhelme mit Glasvisieren, die Hände steckten in Isolationshandschuhen, mit denen sie die Geschütze bedienten.

Arbos sah Funken aus den mehrläufigen Waffen fliegen, bläuliche Blitze umspielten die Apparaturen, die Tod und Vernichtung aussandten. Auch die beiden Izozath-Frauen wurden von Koronen umhüllt, aber die Schutzkleidung verhinderte, dass sie Schaden nahmen.

Die Energie lud die Luft auf, während die Electorum-Geschosse stets mehrere Raubkatzen und Affenbestien durchschlugen und sogar noch den Wald dahinter in Fetzen rissen. Ein Stahlhagel, begleitet von Sirren und Funken sowie dem Geruch von heißem Eisen, ging auf die Feinde nieder, die zu Dutzenden starben. Es roch nach frischem Blut und Pflanzensäften, dicke Stämme wurden gefällt und das Dickicht gerodet.

Bei Deiwos! Damit könnte man ein Heer … Arbos blieb keine Zeit, die Machinas des Todes zu bewundern. Er musste sich unvermittelt seiner eigenen Haut erwehren, als eine grün und blau bemalte Frau neben ihm aus dem Dickicht sprang und einen Speer gegen ihn schwang. In einem Reflex schlug er mit dem Säbel zu, fälschte die Waffe ab, und die durchbrochene, schwarz-silberne Klinge fuhr knapp an seinem Gesicht vorbei.

Schon bekam er einen Tritt vor die Brust, der ihn gegen das Vorderrad des ersten Karrens warf. Während er noch um sein Gleichgewicht rang, hob die Gegnerin den Speer zum Stoß durch seinen Hals.

Arbos richtete die Pistola auf das Gesicht der Frau. Er zögerte, den Abzug zu betätigen – aus einem bestimmten Grund. Ich weiß, was du bist. »Ruf deine Kreaturen zurück! Oder wir töten euch alle.«

Unter der aufgebrachten Farbe zeigte sich auf dem Antlitz plötzliche Irritation. Sie hatte nicht damit gerechnet, als Anführerin erkannt zu werden. Ein raffiniert gemachtes Kleid aus Blättern und Efeuranken, in das Rüstungssegmente eingeflochten waren, lag schützend um ihren Leib. Auf dem Kopf saß eine Haube aus Silber und weißem Leder, zwei geschwungene Hörner mit Schneiden an den Enden saßen daran.

»Du bist eine Treyda, die Tochter eines Hochtreyds«, sagte Arbos rasch. »Ich erkenne es an deinem Schmuck.«

»Ich bin ein Teil jener Wildnis«, gab sie grollend zurück, »die ihr beraubt habt, ihr Narren! Gebt es heraus, oder wir werden bald alle vergehen.«

Das klang nach einem konkreten Vorwurf. Ein Überfall? Ein Diebstahl? »Wir waren es nicht.«

»Wohin ist der Räuber?«

»Ich weiß nicht, was …«

Als sich ihre Muskeln spannten, um mit dem Speer zuzustoßen, löste er die Pistola aus.

Die Kugel wurde von der komprimierten Luft beschleunigt und fuhr der Frau durch das bemalte Antlitz. Unterhalb des linken Auges trat sie ein und schlug ein Loch, das durch die Bemalung nicht auffiel. Dafür explodierte ihr Hinterkopf, die Kappe flog blutgetränkt ins Gebüsch. Ohne einen Laut brach die Treyda vor Arbos zusammen.

Daraufhin erschallte ein gemeinschaftliches Heulen und Brüllen aus sämtlichen Richtungen des Waldes, gefolgt von einem heiseren Kreischen, das jeden Lärm übertönte. Die Wildnis spürte den Tod der Anführerin und trauerte um sie. Die Menschen schauderten beim leidvoll-wütenden Klang. Schlagartig ließen die Bestien vom Tross ab und sprangen in die Deckung von Farn, Bäumen und Unterholz, wo die Electorum-Geschütze keine Schneisen geschaffen hatten.

Zurück blieben etliche tote Luchse, Waldaffen und die Bären, die um die Wagen und vor dem Verteidigungsring der Menschen übereinanderlagen.

»Nachladen«, rief Arbos schwitzend nach rechts und links. Er sah zu den Izozath hinauf. »Hört ihr? Nachladen. Es ist noch nicht vorbei.«

Sysca klappte das schwere Visier in die Höhe, unter dem ihr schweißnasses Gesicht zum Vorschein kam. »Verstanden.« Letzte schwache Blitze irrlichterten über die Läufe. Was genau sie tat, während sie Klappen und Abdeckungen öffnete, um merkwürdig behauene Steine mit angebrachten Drähten und Kästchen auszutauschen, wusste er nicht.

Die Männer und Frauen drückten mit eigens entwickelten Pumpen Luft in die Kolben der Windbüchsen und Pistolas, um sie dann mit Kugeln und Pfeilen zu laden.

»Du rechnest mit einer neuen Attacke?« Nymaina setzte ein Magazin seitlich in die Todesmachina ein. Auch sie nutzte die Gelegenheit und atmete frische Luft ohne den Gesichtsschutz. Sie ähnelte der Ingenia sehr, er konnte die beiden Izozath-Frauen kaum auseinanderhalten.

»Ja. Sie glauben, wir hätten ihnen was gestohlen.« Arbos schwang sich zu ihr auf den zweiten Wagen, um sich einen Überblick zu verschaffen. »Sie hatten eine Treyda dabei. Sie forderte die Rückgabe.«

»Eine was?«, rief Iradias. Auch er hatte seine Waffe bereit gemacht.

»Eine Treyda«, schaltete sich Perdis ein. »So nennen sich frevelhafte Menschen, die der Wildnis Treue schworen und dafür unheilige Kräfte von der Finsternis bekamen.«

Arbos blickte sich von seiner erhöhten Position um. »Deiwos der Kriegerische, bleib bei uns«, flüsterte er beeindruckt.

Zu Hunderten lagen die kleinen und großen Kreaturen rund um die Wagen, erlegt von den Electorum-Geschützen der Izozath. Teils waren sie von den Geschossen zerteilt worden, teils in Fetzen gehauen wie das Grün. Das Unterholz war gelichtet, dünne Stämme waren einfach zersägt und gefällt worden. Die vernichtende Wirkung reichte mehr als dreihundert Schritt weit, ohne von der Durchschlagskraft eingebüßt zu haben. Die Bestien würden es schwer haben, erneut unbemerkt an die Wagen heranzukommen. Es gab so gut wie keine Deckung.

Ihre Hasardeurtruppe hatte durch den Angriff mehr als zwei Dutzend Männer und Frauen verloren. Heersen fehlt. »Wo ist der Siwenloither?«, rief er. »Hat jemand …«

»Hier«, kam es unter dem Wagen hervor. »Ich suchte Deckung, und … ich hatte von da ein gutes Schussfeld für meine Pistola.«

Arbos war beruhigt, auch wenn er wusste, dass sich der ältere Mann aus Angst verkrochen hatte. »Bleib da«, gab er Anweisung. »Sie kommen wieder.«

Sysca und Nymaina klappten ihre Visiere herunter und drückten auf Knöpfen an den Machinas herum, dann schoben sie kleine Regler an den Bedienelementen nach vorn und packten die Griffe. Leises Summen erklang. Die Kraft des Electorums ließ Arbos’ Härchen aufgeladen in die Höhe stehen.

»Es wäre besser, wenn du runtergehst«, sagte Nymaina durch ihren Sichtschutz. »Ohne Schutzkleidung wird es dich grillen.«

Ein einsames, leidendes Heulen schallte durch den Wald, und das Rascheln setzte ein zweites Mal ein. Die Bestien rückten vor.

Arbos sprang auf den Boden und lud ein frisches Magazin in seine Pistola. »Perdis?«

»Ja.«

»Sag Thýguda, dass wir sie benötigen.« Er packte den Säbel fester. »Bis zum Ende unserer Mission.«

***