Auftakt

Kontinent Yarkin, Freie Grafschaft Molgand, nahe der Stadt Molgandskron im Nordwesten, vor langer Zeit in einem Spätsommer

Nahezu die ganze Stadt Molgandskron hatte die Mauern verlassen, um mit weiteren Hunderten Besuchern in einer munteren Prozession lachend, scherzend und singend hinter dem Karren mit dem Verurteilten herzuziehen. Es war ein Volksfest sondergleichen und eine Seltenheit obendrein.

Marktschreier mit Bauchläden umrundeten die Menschenmenge. Es wurden Süßwaren und Deftiges angeboten, manche hatten sich Bierfässchen auf den Rücken geschnallt und verkauften das Gebräu an die durstigen Kunden, die sich den Trunk in ihre Trinkbeutel oder Behältnisse schäumen ließen.

Die Hinrichtung eines Zauberers geschah nicht alle Tage auf Yarkin, schon gar nicht mit derlei Tamtam und Bohei, angefangen bei einer öffentlichen Anhörung und Gerichtssitzung über das Austreiben seiner magischen Kräfte bis hin zum Erscheinen von einem Dutzend Vertretern der Magischen Schulen des Kontinents. Sie wohnten dem Spektakel als Zeugen und als Aufpasser bei, falls der Verurteilte trotz der peinvollen Prozedur einen Rest seines Könnens behalten hatte und sich vor dem Tod rächen wollte.

»Sind wir bald da?« Die achtjährige Rouva hing am Rockzipfel ihrer Mutter und ging mit ihr am hinteren linken Rand der riesigen Wandergruppe, die sich durch den lichten Eichenwald bewegte. Die Straße reichte bei Weitem nicht aus, die vielen Menschen zu fassen.

»Aber gewiss.« Rouvinia nahm ihre Tochter auf den Arm und zeigte über die Köpfe hinweg zur kleinen Lichtung zwischen den Vier Hainen, wo sich der Galgenbaum befand. »Siehst du? Es sind keine hundert Schritt mehr.«

Rouva hielt Ausschau und sah die mächtige Eiche, in und um deren Stamm sich eine Birke, eine Trauerweide und eine Tanne gewunden hatten. Aufgrund dieser Besonderheit kam dem viererlei Baum die Aufgabe zu, als Hinrichtungsort zwischen den Wäldern zu dienen.

Die verrotteten Überreste von Delinquentinnen und Delinquenten hingen an Stricken und Ketten von den Ästen; andere wurden von Stahlkäfigen über den Tod hinaus gefangen gehalten, als fürchtete man deren Rückkehr als Wiedergänger.

»Gut. Ich bin nämlich müde.« Rouva war es gewohnt, bei Hinrichtungen zugegen zu sein, weil ihre Mutter großen Spaß daran hatte, wenn der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Von daher war das Mädchen mit dem Anblick von Gehenkten, Erschlagenen und Geköpften vertraut, zumal Rouvinia ihr Geld damit verdiente, den Hingerichteten Gliedmaßen abzuschneiden und sie anschließend als Glücksbringer zu verkaufen. Rouva musste in der Zeit Schmiere stehen, denn erlaubt war das Verstümmeln nicht. Sie fand es gruselig, aber nicht schlimm. Ihre Geschwister und sogar ihr Vater weigerten sich, dieses morbide Geschäft zu unterstützen, mit dem sie einen nicht unwesentlichen Teil des Lebensunterhalts bestritten. Als Tagelöhnerfamilie lebten sie von der Hand in den Mund.

»Was hast du denn den ganzen Tag gemacht, dass du jetzt müde bist?« Ihre Mutter küsste Rouva auf die Nasenspitze. »Sagte ich dir nicht, du sollst im Haus bleiben und deinen Brüdern beim Ausstanzen helfen? Du weißt, dass Schneider Riks die Knöpfe braucht.«

»Das war ich doch, Mamscha. Ich habe außerdem aufgeräumt und für die alte Grandina geputzt, danach war ich für den tattrigen Petreris im Stall und habe die Eier eingesammelt.« Rouva langte in die Tasche und präsentierte zwei Kupfermünzen. »Was kriege ich denn dafür?«

»Ist das dein Lohn?«

»Ja.«

»Nicht schlecht. Hilfst du mir nachher auch?«

Das Kind nickte.

»Wir werden uns sputen müssen, um was von dem Magier zu bekommen. Ein Zeh wäre gut. Ich habe aber schon drei, vier Glücksbringerhändler gesehen, die es auf den Leichnam abgesehen haben wie wir. Ich hoffe, der Henker hält sich an unsere Abmachung.«

»Darf ich danach in den Wald spielen gehen, Mamscha?«

»Nein. Dann wird es dunkel sein, und es kommen die Nebelwölfe und die Wasserfeen aus dem Auwald und fressen kleine Kinder wie dich«, sagte Rouvinia mit gesenkter Stimme und machte eine Fratze, dann knurrte sie und küsste den Hals ihrer Tochter so schnell hintereinander, dass es Rouva kitzelte und sie lachen musste.

»Mamscha! Hör auf, Mamscha! Ich mache mir sonst in die Hose!« Sie japste und zappelte, um den zärtlichen Attacken zu entkommen. »Lass mich runter!«

Rouvinia lachte und setzte ihre Tochter auf den Boden. »Wir werden wirklich keine Zeit haben. Ich weiß, wie gerne du in den Wäldern spielst, aber heute wird es nicht gehen. Ein anderes Mal.«

Rouva nickte artig. Auch wenn es ihre Mutter nicht billigte, wie viele Stunden sie in den Vier Hainen verbrachte, sie musste immer wieder ausbüxen und sich zwischen den Stämmen herumtreiben, um die schönsten Pilze, die prächtigsten Beeren, fettesten Frösche und schmackhaftesten Moose mit nach Hause zu bringen, die sie auf dem Markt verkauften. Das versöhnte Rouvinia mit dem unaufhörlichen Ungehorsam, zumal dies der einzige Makel ihrer Tochter war.

»So. Geschafft«, bemerkte Rouvinia. Sie waren mit der Menge bis an den Rand der Lichtung gelangt, die nicht alle Menschen aufnehmen konnte. Aus den vier Himmelsrichtungen wuchsen je ein Eichen-, Birken- und Tannenhain sowie ein Auwald aufeinander zu, und mitten auf der gemeinsamen Grenze erhob sich der Galgenbaum, dem man übernatürliche Kräfte zuschrieb.

Rouva glaubte fest daran. Wie sonst hätten die vier verschiedenen Arten sich verschränken, umwinden und zu etwas Neuem verbinden können?

Das Mädchen sah zu den Kronen der umstehenden Bäume hinauf, wo sich die Zuschauer drängten; unter der Last bogen sich die dicken Zweige, und Blätter fielen herab. Krachend ging ein großer Ast zusammen mit einem Dutzend Männern und Frauen zu Boden, das Geschrei der Gestürzten wurde vom Gelächter der Zuschauer abgelöst.

Dann erklang mehrmals eine Glocke, bis die Ansammlung leiser wurde und die Bauchladenverkäufer mit dem anpreisenden Gebrüll aufhörten.

»Bürgerinnen und Bürger von Molgandskron«, verkündete der Gerichtsdiener, den Rouva nicht sah, weil eine Wand aus Rücken ihr die Sicht raubte. »Werte Räte, werte Geheimräte und Kammerabgesandte, Ihr Hochwohlgeborenen Grafen von und zu Molgandskron«, ging die Begrüßung weiter, während sich der Lärmpegel mehr und mehr verringerte.

Rouva zupfte an Rouvinias Rock. »Mamscha, ich muss wirklich mal.«

»Dann geh und komm rasch wieder«, sagte ihre Mutter. »Präge dir die Kräheneiche zu meiner Linken ein, damit du mich wiederfindest. Und wenn nicht: Wir sehen uns nach der Hinrichtung bei dem Toten, verstanden?«

»Ist gut, Mamscha.« Rouva eilte los. Sie schob ihren dünnen Körper geschickt zwischen den eng stehenden Männern und Frauen hindurch, um die voll besetzte Lichtung zu verlassen. Manche Leute hatten sich kleine Trittleitern und Eimer mitgebracht, um sich daraufzustellen und besser sehen zu können.

Rouva musste nicht weit in den sumpfigen Auwald laufen, bis sie niemand mehr beim Verrichten ihrer Notdurft beobachten konnte. Die meisten Molgandskroner mieden diesen Teil der Vier Haine, da er ihnen am unheimlichsten von allen erschien.

Rouva hingegen war er der liebste.

Überall gab es verborgene Wasseradern, auf denen man Blattboote fahren lassen konnte, dann spuckten Sumpf und Moor gelegentlich kleine Geschenke aus, wie alte Knochen und Holzstücke, schwarz gefärbt und verbogen, aus denen man die absonderlichsten Schnitzarbeiten zu fertigen vermochte, die angeblich in Vollmondnächten sangen und tanzten.

Und nicht zu vergessen: der Nebel. Ein ganz besonderer Nebel.

Mal milchig, mal dicht wie Schneetreiben, mal schleierdurchsichtig verzauberte er die Umgebung. Aus Baumstümpfen machte er Fabelwesen, aus Farn die Krallen einer Bestie, die sich aus dem Moor zog, und aus Ranken dünne, tödliche Schlangen.

Rouva hatte geflunkert, was das Pinkeln anging. Sie verspürte einfach keinerlei Lust, der Hinrichtung beizuwohnen. Sie ging einige Schritte und atmete den Duft des Waldes ein, hörte das Blubbern im Wasser und das Rauschen des Schilfs. »Wie wunderschön du bist, mein Hain«, sagte sie und lehnte sich an den Stamm einer mächtigen Trauerweide. Die Natur war ihr wohlgesonnen, und anders als in jenen Teilen von Yarkin, die sich durch das Wirken dämonischer Mächte gewandelt hatten und von denen man ängstlich berichtete. Rouva fühlte sich hier vollkommen sicher.

Der Gerichtsdiener sprach noch immer, gelegentlich unterbrach ihn die Menge mit Beifall oder zustimmendem Rufen. Leise und wie aus großer Entfernung drang seine Stimme durch den Auwald. Er zählte auf, was der Verurteilte Schändliches getan und wie er sich verbotenerweise Geld durch Flüche angeeignet hatte. Keinem Zauberkundigen war es gestattet, seinen Mitmenschen ein Leid zuzufügen, abgesehen von Schurken und Verbrechern, derer man sich entledigen wollte.

Rouva hörte, wie der Gerichtsdiener den hundertsten nachgewiesenen Fall verlas, bei dem einer stillenden Frau die Milch in den Brüsten versiegte und ihr Neugeborenes elendig verhungern musste. »Aufgrund der Niedertracht soll der Verurteilte gehenkt werden wie ein gemeiner Verbrecher und nicht ehrenvoll hingerichtet wie ein Zauberer, der er einst gewesen war«, kam der Mann allmählich zum Ende.

Rouva hörte nicht weiter zu.

Sie hatte rätselhaft aufsteigenden Bodennebel entdeckt, aus dem sich die Konturen einer Frau erhoben, die das Mädchen zu sich winkte. Deswegen liebte Rouva den Auwald: Er wurde niemals langweilig.

Neugierig stieg sie über umgestürzte Bäume und zwängte sich durch die ausladenden Blätter des mannsgroßen Taufarns, der sich bei ihren flüchtigen Berührungen raschelnd zusammenrollte.

Der Bodennebel reichte ihr bis an die Hüfte und ließ den Untergrund verschwinden. Es schien ihr, als wäre sie in Wolken gefangen, die sich verflogen hatten.

Rouva kam der Nebelgestalt rasch näher. »Wer bist du?«, fragte sie unerschrocken.

Die Gespinstfrau legte einen Finger an die Lippen und vollführte eine Handbewegung.

Daraufhin erwuchsen drei weitere Gestalten aus dem wabernden Weiß, die sich rings um Rouva erhoben.

»Seid ihr Wasserfeen? Was möchtet ihr von mir?« Sie blieb ohne Furcht und studierte die Züge der Umstehenden.

»Oh, wir kennen dich, kleine Rouva«, sagte die Nebelfrau. »Du bist uns ans Herz gewachsen.«

»Du bist dem Wald ans Herz gewachsen«, fügte eine zweite Gestalt freundlich an. »Die Vier Haine mögen dich, weil du uns magst, Liebes.«

»Deswegen haben wir dich zu den besten Plätzen geführt, um dich Pilze, Beeren und derlei mehr finden zu lassen«, setzte eine dritte hinzu. »Nie hast du dem Wald Schaden zugefügt. Und du hast uns Lieder vorgesungen. So viele schöne Lieder, mein Kind.«

»Das vergessen wir dir nicht«, sprach die vierte.

Die Nebelfrau beugte sich nach vorn. »Wir sind die Vier Haine.« Die gespinstigen Finger streichelten Rouvas Gesicht, und es fühlte sich an wie eine Berührung von kühlem Dampf. »Und wir sind dir erschienen, um dir ein Angebot zu unterbreiten, liebe Rouva.«

»Verrecken sollt ihr!«, gellte die Stimme des Verurteilten durch den Auwald. »Ihr habt kein Recht, über mich zu urteilen! Ich werfe einen magischen Fluch über euch! Über euch alle, die ihr gekommen seid, um euch an meinem Tod zu ergötzen.«

Rouva erschrak. »Mamscha!« Sie wollte los, um nach ihrer Mutter zu sehen. Die Gespinstgestalten stellten sich ihr in den Weg. Der Farn rollte sich aus und wurde zu einer weichen, grünen Mauer, die Ranken schlangen sich zärtlich, aber fest um die Knöchel des Mädchens.

»Nein, meine Liebe«, sagte die Nebelfrau gütig. »Es ist zu spät. Die Menschen, die sich in den Vier Hainen befinden, sind dem Untergang geweiht.«

Rouva wollte den Farn beiseiteschieben, doch die Blätter hielten ihren Fingern stand. Die Ranken lagen wie Seile um ihre Knöchel und bannten sie. »Mamscha!«, schrie sie aus Leibeskräften. »Lauf! Der Zauberer wird dich sonst umbringen.« Dann sah sie die Nebelfrau an. »Kannst du sie retten? Bitte! Du musst sie retten!«

»Es tut uns leid«, erwiderte sie. »Alle werden sterben.«

Rouva schossen die Tränen in die Augen, heiße Tropfen rannen über die Wangen und fielen in den Nebel. »Mamscha!«, rief sie erneut und voller Verzweiflung. Sie riss ihr kleines Messer aus der Gürtelhalterung und schnitt die Ranken ab, rannte vorwärts und stach gegen die Farnblätter, die sich raschelnd zurückzogen. »Mamscha, lauf weg! Lauf!«

Der Nebel folgte ihr rechts und links zwischen den Stämmen, als hätte er Spaß an ihrem Wettlauf. Dann erklang ein Krachen und Knacken im Auwald. Unerwartet erhoben sich Bäume aus dem feuchten Untergrund und wuchsen binnen weniger Herzschläge vom Schössling zur fertigen Pflanze. Immer wieder musste Rouva den abrupten Hindernissen ausweichen. Nasse Erde regnete auf sie nieder und beeinträchtigte ihre Sicht, mehrmals stolperte sie und landete auf dem weichen, aufgewühlten Boden.

Keuchend erreichte Rouva das Ende des Dickichts und stürmte aus dem Unterholz auf den Rand der Lichtung, die sich deutlich geleert hatte. Sie strauchelte und fiel.

»Sagte ich es nicht? Da habt ihr meine Rache!«, rief der Verurteilte mit einem Strick um dem Hals über die Köpfe hinweg und lachte schallend vom Karren herab, auf dem er stand. Die Skelette und sterblichen Überreste am Galgenbaum pendelten im aufkommenden Wind und führten einen bizarren, makabren Tanz auf.

Die Menschen flohen derweil in Scharen aus Furcht vor dem Fluch des Verurteilten, um seiner schädlichen Magie zu entgehen. Die Bauchläden lagen achtlos umher, die Inhalte verstreut und teils zertrampelt; nach den Münzen bückte sich keiner. Die Wachen, die vom Grafen aufgestellt worden waren, wurden von der Flut an Leibern hinweggespült und drangen nicht zu dem Zauberer durch, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die Armbrüste, Windbüchsen und Pistolas hatten kein freies Schussfeld.

»Bleib, wo du bist, Liebes«, hörte Rouva die Nebelfrau warnend neben sich sagen. »Sonst wird es dein Tod sein.«

Aus dem Boden gruben sich vermoderte, deformierte Krieger, die schauderhaft anzuschauen waren, und schwangen ihre rostigen Schwerter wider die übrig gebliebenen Gardisten und Bewaffneten. Adlige und einfache Leute kämpften Seite an Seite gegen die gerüsteten Untoten, von denen mehr und mehr aus der Lichtungserde stiegen. Vier der Magier, die zum Schutz der Bewohner erschienen waren, lagen bereits tot auf dem Boden, von den anderen fehlte jede Spur.

»Das sind Alraunen-Krieger«, erklärte ein Gespinstmann. »Nichts wird sie aufhalten. Man kann sie in kleine Fetzen schlagen, und dennoch trachtet jedes Fitzelchen von ihnen danach, die Menschen zu töten.«

Rouva wollte trotzdem auf die Lichtung, sie musste nach ihrer Mamscha schauen! Doch erneut hatten sich Ranken um ihre Beine geschlungen und verhinderten ein Weiterkommen.

»Ihr wolltet mich tot sehen«, schrie der Verurteilte triumphierend vom Karren herab. »Ihr beschissenen Narren und Kleingeister! Da habt ihr euch mit dem Falschen angelegt!« Er zog seinen Kopf aus der Schlinge und rief weitere magische Silben, um das Unheil zu verschlimmern. »Ich bin der mächtigste Zauberer, den Yarkin gesehen hat! Ihr werdet allesamt sterben!«

»Könnt ihr ihn nicht aufhalten?«, flehte Rouva und suchte nach ihrer Mutter. Dann erkannte sie ihren regungslosen Leib neben der Kräheneiche. »Mamscha!«, schrie sie und grub die kleinen Hände in die Erde.

»Sie ist tot, Liebes. Man hat sie niedergetrampelt«, befand die Nebelfrau bedauernd. »Keiner nahm Rücksicht auf sie, als sie stürzte. Umgebracht von ihrer eigenen Art.«

Rouvas Blick wurde von fließenden Tränen verschleiert, sodass sie das Geschehen auf der Lichtung kaum mehr sah. Gestalten schlugen und hackten aufeinander ein, Männer schrien, Waffen und Rüstungen schepperten, Windbüchsen pfiffen ihre Kugeln umher. Einige fehlgezielte Geschosse prasselten ins Unterholz und trennten Blätter ab.

»Steh auf, Kleines«, vernahm Rouva die freundliche Stimme. »Steh auf und habe nun keine Angst mehr. Es wird dir nichts geschehen, solange wir bei dir sind.«

Sie erhob sich und wischte sich die Feuchtigkeit mit dem Ärmel vom Gesicht, schniefte und blickte sich um.

Die Alraunen-Krieger hatten jeden Feind abgeschlachtet. Der Graf und seine Familie, die Räte von Molgandskron, selbst die Gardisten lagen niedergestreckt rings um den Galgenbaum.

»Keiner der Menschen stand deiner Mamscha bei«, wisperte einer der Gespinstmänner und streichelte Rouva mit seinen kühlen Wolkenfingern. »Wir bestraften sie dafür. War das in deinem Sinn?«

Sie atmete scharf ein, als sie die Toten in den Bäumen rings um sich erkannte.

Ranken hatten sich um die Hälse von Männern und Frauen geschlungen. Wie falsch gewachsene Früchte baumelten sie zu Hunderten und Aberhunderten an den Ästen der Birken, Eichen, Tannen und den Weiden des Auwaldes. Einige zuckten noch im Todeskampf und versuchten mit aufgescheuerten, blutigen Händen die Schlingen um ihre Hälse zu lösen; woanders wurden Flüchtende von Ranken gepackt und in die Höhe gezogen, wo sie mit hochroten, violetten Köpfen hingen und die Zungen würgend herausstreckten, um irgendwie an Luft zu gelangen.

Rouva gönnte ihnen den Tod.

Jedem Einzelnen.

Weil sie nichts getan hatten, um ihre Mamscha zu retten, sondern sie niedergetrampelt hatten wie ein Insekt, einen hilflosen Käfer auf dem Rücken. Der Gespinstmann sprach die Wahrheit. Es hätte kaum Mühe gekostet, stehen zu bleiben und eine Hand auszustrecken und ihr aufzuhelfen, damit sie gemeinsam mit den Übrigen dem Fluch entkommen konnte.

Nun war ihre geliebte Mutter tot.

Innerlich vereiste Rouva. Sie hörte auf, vor Schrecken zu zittern. Es gab nur Wut und Hass auf die Bewohner aus Molgandskron. Mit jedem Hieb, den die Alraunen-Krieger gegen die niedergestreckten Verletzten führten, verbreiterte sich das Lächeln auf ihren Lippen.

»Bleib bei uns, du armes Liebes«, sprach die Nebelfrau. »Mit den niederträchtigen Menschen außerhalb des Waldes hast du nichts mehr zu schaffen. Fortan sei ein Teil der Vier Haine.«

Vor Rouvas staunenden Augen stapften magische Kreaturen auf die Lichtung. Tiere und tierähnliche Wesen streiften umher und suchten nach Überlebenden, um sie zu töten, während die zu Hunderten gehenkten Einwohner und Besucher Molgandskrons an natürlichen Seilen von den Bäumen baumelten.

»Du gehörst zu uns. Das gehörtest du schon immer, kleine Rouva.«

Nebel floss aus dem Auwald und bedeckte das Morden sowie die umherliegenden Leichen mit weißem Schleier. Weitere Stämme schossen aus der Erde und wuchsen in den Himmel. Die Wesen verschwanden in dem wuchernden Dickicht. Der Galgenbaum wurde umschlossen von neuen Bäumen; Farn und Gebüsch sprossen hervor und machten aus der Lichtung einen dichten Wald, der ohne das Wissen um das Geschehene harmlos wirkte.

»Ich ahnte es immer.« Rouva mochte den Anblick. Und sie mochte die Wesen, denen sie vertraute. Weder Angst noch Furcht bemächtigten sich ihrer. »Seit ich laufen und denken kann.«

Unvermittelt erklang ein lautes Rumpeln und Krachen, gefolgt von dem Tönen der Alarmglocke, die in der Stadt geschlagen wurde.

Rouva warf einen verwunderten Blick den Weg entlang nach Molgandskron. Dort stemmten sich Eichen, Birken, Nadelbäume und Trauerweiden aus dem Boden, sprengten die Mauern und die gepflasterten Straßen und Plätze. Eine Staub- und Rauchwolke hing über den unentwegt einstürzenden Dächern und Giebeln. Emporwachsende Baumkronen drückten die dicksten Wände und Balken beiseite. Das Rathaus und das Schloss des Grafen wurden von Ranken umschlungen, die sich strafften und zogen und nicht eher zur Ruhe kamen, bis die prächtigen Bauten einfielen.

»Nein!« Rouva verfolgte, wie der große Wachturm der Garde von gewaltigen Spinnenwesen erklommen wurde. Sie warfen die Schindeln vom Dach, spannen ihre Fäden und sprangen auf den Boden zurück. Stein um Stein wurde aus der Mauer gerissen, bis sich Risse bildeten und das letzte Bollwerk gegen die Vier Haine polternd verging.

»Meine Familie! Ihnen dürft …«

»Du bist nun eine Waise, Liebes. Lass uns deine Familie sein.«

»Eine Waise?« Sie drehte den Kopf und sah zu dem Verurteilten, der es geschafft hatte, die Fesseln zu lösen, und nun ungläubig über das Treiben starrte. »Aber seid ihr nicht durch den Zauberer heraufbeschworen? Seid ihr nicht Teil seines Fluches? Ihr werdet doch verschwinden, wenn er seine Magie nicht mehr wirkt, und ich bin wieder alleine.« Sie schluchzte auf. »Ohne Mamscha. Ohne …«

Ihr Hass war wie weggewischt, der Zorn auf die Menschen verraucht.

Rouva blickte zu den Trümmern ihrer Heimat, wo jene unter Steinen, Balken und Ziegeln erschlagen lagen, die nicht auf die Lichtung gekommen waren, um sich an der Hinrichtung zu ergötzen. Ihr Vater, die Geschwister, die alte Grandina, der tattrige Petreris, ihre Freunde und viele andere liebe Menschen, die stets ein gutes Wort oder eine Kleinigkeit als Geschenk für sie gehabt hatten.

»Ich … ich …« Rouva wich vor der Nebelfrau zurück, die ihr unvermittelt grausam und kalt erschien. »Ihr habt sie umgebracht.«

Die Gespinstgestalten blickten sie aus traurigen Gesichtern an, aber sie verteidigten sich nicht gegen den Vorwurf.

»Ihr Mörder!« Rouva ging weg von ihnen, stolperte durch den Nebel über die unsichtbaren Leichen und erreichte den Zauberer, der auf dem Karren kniete und Ausschau hielt, wohin er entkommen könnte. Er nagte an seinen Fingernägeln und hatte die triumphierende Großspurigkeit verloren.

»Du musst sie bannen!«, rief sie aufgewühlt. »Du hast sie gerufen! Du hast zugelassen, dass …« Rouva schrie vor Schreck auf, als neben ihr der alte Graf blutüberströmt aus den milchigen Schwaden auftauchte, den Dolch gezückt und die Augen vor Entsetzen aufgerissen.

»Du vermaledeiter Hexer!«, brüllte er und zog sich auf den Wagen zu dem Verurteilten. »Du wirst für deine neuerliche Tat büßen!«

»Ich war es nicht!«, rief der Zauberer und schleuderte die abgestreiften Eisenfesseln nach dem Grafen, um ihn zurückzutreiben. »Ich wollte Euch lediglich ängstigen und entkommen.«

Der Adlige wehrte die Schellen mühsam ab, sie fielen an Rouva vorbei auf den Boden. »Lüge! Wir hörten deine Flüche und Drohungen!«

»Das hier kann ich nicht gewesen sein«, beteuerte der Magier und riss ein Brett aus der Seitenverkleidung des Karrens, um sich gegen den Grafen zu verteidigen. »Meine Macht wurde mir genommen! Glaubt mir, ich habe mit dem Abschlachten nichts zu tun! Es war Theaterspielerei, mehr nicht! Ich habe keine Ahnung, woher diese Kreaturen stammen!«

Abrupt wogte der Nebel heran und brandete gegen das Gefährt. Meeresgischtgleich stiegen die Schwaden in die Höhe, um erneut die Frauengestalt zu formen.

»Er spricht die Wahrheit«, sagte sie und schwebte übergroß in der Luft.

Und plötzlich verstand Rouva. Die dämonische Macht, von der man auf Yarkin sprach, war unbemerkt bis zu ihr gelangt und hatte das friedliche Molgand gewandelt, zu einem Hort des Bösen gemacht.

Dornige Ranken wuchsen blitzschnell über die Bordwand und bohrten sich wie hakenbesetzte Pfeile durch die Rücken der Männer und traten aus der Brust wieder aus. Sie jagten mit einem Blutschwall aus den Mündern, die sich zum Schrei öffneten, und raubten ihnen die Stimme. Die Dornen fungierten wie Sägezähne, beförderten Knochenstücke und Fleischfetzen aus den Leibern.

Rouva schrie laut. Graf und Zauberer brachen tot auf dem Karren zusammen.

Im Wald wurde es still. Das Knarren und Knistern der wachsenden Natur erklang, gelegentlich huschten Schemen und Umrisse rechts und links vorüber, um zur gefallenen Stadt zu gelangen.

Die Nebelfrau wandte sich zu dem bebenden Mädchen. »Du musst dich nicht entscheiden, Liebes. Du gehörst zu uns. So ist es beschlossen«, verkündete sie freundlich. »Sei nicht traurig, kleine Waise. Du hast eine neue Familie erhalten.«

Rouva hatte es die Sprache verschlagen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und stand stocksteif vor der durchscheinenden Gestalt. Das Böse war heraufgezogen – und hatte gewonnen.

»Die Vier Haine gehören zu jener Macht, die sich nicht länger von den Menschen unterjochen lässt und Yarkin unterwerfen wird. Vollends unterwerfen wird. Eines Tages wirst du verstehen, Liebes.«

Die Leute, die von den Ästen hingen, wurden schlagartig von den Ranken freigegeben.

Es regnete Hunderte und wieder Hunderte Tote, die nach ihrem kurzen Sturz in der Nebelsee verschwanden. Das leise Rumpeln der unentwegt aufschlagenden Körper erschien Rouva endlos.

***