Kapitel I

Nankān, im Süden des Kaiserreichs Uthalosa, Rittergut Kaltensee, Spätsommer

Dumpf rauschten die Dreschflegel in rascher, strikter Folge auf die Halme, die ausgebreitet in der Sonne auf Segeltuch lagen, und schlugen die kostbaren, sattgelben Blauroggenkörner aus den Ähren. Die schwitzenden Männer in einfachen Hemden und Hosen führten die Werkzeuge im Takt des heiteren Liedes, das die Musikanten in der nahen Scheune spielten.

»Das ist die beste Getreideausbeute, die wir je hatten. Das Fest morgen wird rauschend. Jede Magd und jeder Knecht und sogar die Tagelöhner bekommen den doppelten Lohn.« Danèstara Adima Decessa von Tiamin, etwas mehr als sechzig Gemeinjahre alt und gekleidet in ein luftiges, helles Gewand, verfolgte das Tun ihrer Untergebenen vom Rücken ihres Fuchswallachs aus, der ruhig neben einem Gespann mit prall gefüllten Kornsäcken stand.

Die Mittagsluft roch nach Spreu und Strohstaub, Mauersegler schossen in gewagten Manövern über den blauen Himmel und jagten Insekten.

Aufrecht saß Danèstra im Sattel, eine Hand locker auf den Oberschenkel gelegt. Auf ihren geflochtenen langen Silberhaaren saß ein breitkrempiger Strohhut, der sie vor den Strahlen des Himmelsgestirns schützte. Mit stahlblauen Augen und Freude auf den Zügen verfolgte sie das rege Treiben nahe dem Gehöft, das ihr der Kaiser geschenkt hatte. Vordergründig wegen der großen Verdienste.

»Ich sehe das ebenso, Mutter«, sagte ihr Sohn Mabian vom Wagen aus. Man sah ihm seine sechzehn Gemeinjahre nicht an; die meisten schätzten ihn auf gerade einmal vierzehn, der Bart wuchs spärlich und einzelhaarweise. Er kletterte flink über die Säcke, auf denen das Monogramm ihrer Familie prangte, und hielt eine Kladde sowie einen Griffel in der Rechten. Ihm oblag die Kontrolle der Ernte, was er seit seinem zehnten Geburtstag gewissenhafter als jeder sonst auf dem Gut tat.

Danèstra war stolz auf ihn. »Was ist bislang eingefahren, Lieblingssohn?«

Mabian grinste. »Da ich dein einziger Sohn bin, ist das ein schwaches Kompliment.«

»Besser als Sohn oder Nesthäkchen«, gab sie lächelnd zurück, und die vielen feinen Fältchen schlossen sich zu tieferen zusammen. »Deine drei Schwestern würden mir zustimmen.«

Mabian, der ebenfalls einen großen Hut auf den schwarzen Haaren trug, setzte sich auf einen Sack wie auf einen Thron und schlug das Buch auf. Leise murmelnd rechnete er. »Das macht mit Blauroggen, Goldgerste, Erdweizen und Hafer gut zwanzigtausend Doppelzentner. Dann kommen im Herbst noch mal viertausend Doppelzentner Erdäpfel dazu, wenn uns keine Käfer oder Krautkrankheit dazwischenkommen.« Er sah zufrieden von seinen penibel geführten Notizen in der Erntekladde auf. »Die Apfelbäume werden uns fassweise Viez bescheren. Den Most und Birnenwein nicht mit eingerechnet. Und unsere Reben. Die Keller werden nicht ausreichen, die Kisten, Säcke und Fässer zu lagern.«

»Ich lasse umgehend welche ausheben. Nichts soll verschwendet werden, was die Natur und Deiwos der Fruchtbare uns gaben. Das bedeutet ein weiteres rauschendes Fest für die Helfer. Es muss auch solche Gemeinjahre geben. Deiwos sei Lob und Dank.« Danèstra entdeckte etwas, das sich in gemächlicher Geschwindigkeit die breite Straße zwischen den abgeernteten Feldern auf sie zubewegte und eine Staubfahne hinter sich herschleppte, die vom leichten Wind in die Höhe getrieben wurde. Sie zog das Fernglas aus der Hüfthalterung und setzte es vor die Augen.

»Irgendwas Ungewöhnliches?« Mabian folgte ihren Blicken und schirmte die Hand gegen die Helligkeit des Taggestirns ab. »Räuber! Zu den Waffen!« Einen Herzschlag darauf lachte er über seinen eigenen Scherz. Niemand in Uthalosa und dem angrenzenden Reich wagte es, sich gegen das legendäre Rittergut zu wenden und damit den Zorn seiner Herrin auf sich zu ziehen, mochten die Aussichten auf fette Beute noch so hoch sein. »Ich weiß, es ist der Versorgungstross für den Kaiser, Mutter.«

Danèstra nickte kaum merklich. »Er ist größer als sonst. Ich zähle elf Gespanne, die nach Khamado hinaufwollen.« Sie schwenkte das Glas die Straße entlang, die steil ansteigend ins Gebirge und in engen Serpentinen zum schmalen Höhenpass führte. Seitdem ein Großteil von Uthalosa erobert worden war, befand sich der Herrscher in der sicheren Enklave, mehr als sechs Feldmeilen über dem Erdboden in seiner Residenz, wo ihn die Mörder aus Elayion nicht erreichten. Zum einen bildete die dünne Luft einen natürlichen Schutz gegen jene, die die Höhe nicht gewohnt waren, zum anderen lebten in dem Gebiet über zweitausend Schritt die mysteriösen Spheng, die niemanden passieren ließen. Außer den Kaiser und seine Getreuen.

Über den Gebirgsrücken, der wie ein sechs Feldmeilen senkrecht aufragender Grat durch das feindliche Elayion führte, und den Pass wurde Khamado mit Vorräten versorgt und am Leben gehalten.

»Sie sind zeitig dran. Und schwer beladen.« Danèstra steckte das Fernglas weg. »Ist dir etwas zu Ohren gekommen, was erklärt, warum sie die Versorgung vorziehen?«

»Nein, Mutter.« Mabian schwang sich auf den Kutschbock und ergriff die Zügel, mit denen die beiden Ochsen dirigiert wurden. »Denkst du, es hat mit dem Wald zu tun?«

»Hätten wir nicht längst erfahren, wenn er vorrücken würde?«

»Der Kaiser wird bessere Augen und Ohren im Irrsal haben als wir. Denen entgeht gewiss nichts, was sich an der Westgrenze tut.«

Danèstra fühlte leichte Sorge in sich aufsteigen. »Wie lange hatten wir Ruhe? Ich vergesse es stets.«

»Weil du alt bist, Mutter«, erwiderte Mabian frech.

»Sagt der Jungspund, den ich im Wettlauf abhänge«, gab sie gelassen zurück. »Ohne Pferd.«

»Verzeih meine Frotzelei. Ich konnte nicht widerstehen.« Mabian sah zu den dahinschießenden Mauerseglern. »Seit ich auf der Welt bin, rührte sich die Wildnis nicht und hat das Irrsal seine Ruhe.«

»Stimmt. Mindestens seit deiner Geburt. Ich sollte es mir leicht merken können.« Danèstra stieß die Luft aus. »Na gut. Nehmen wir an, sie sind einfach nur früher dran, weil die Menschen in Khamado mehr als üblich gegessen haben und nun weinend vor ihren leeren Tellern sitzen.«

Mabian löste die Bremse des Wagens. »Die Scheune ist bereits voll mit Säcken. Wohin soll ich den Blauroggen bringen? Zum Gut?«

»Einstweilen. Wir stellen in zwei Tagen mehrere Gespanne mit Getreide zusammen und bringen es auf den Großmarkt nach Burgstein. Wir verkaufen es an die Geldsäcke aus Orillon. Das bringt uns mehr Münzen.« Danèstra wendete den Fuchswallach und ritt langsam auf die Scheune und die schuftenden Männer zu. »Behalte genug Weizen zurück, um ihn den Arbeiterinnen und Arbeitern zu schenken. Damit sollten sie genug für den Winter haben.«

»Ja, Mutter.« Mabian ließ die Zügel knallen, und die Ochsen stapften los. »Bis später.«

Danèstra näherte sich den Dreschern, die wuchtig zuschlugen, sodass die blauen Körner auf die Plane sprangen. Dann sah sie wieder zu dem Tross nach Khamado, der die dicken Mauern des Hofes passiert hatte und sich die erste Steigung hinaufkämpfte.

Das Rittergut Kaltensee mit dem klaren Gewässer, das dem Gehöft seinen Namen gab, lag genau am engen Zugang, der zum Pass und Berggrat führte. Das Geschenk des Kaisers, um das sich mitunter düstere Geschichten rankten, war ihr mit Bedacht und Berechnung gemacht worden. Danèstra und ihre Kinder dienten als Schutz gegen Elayion. Niemand legte sich mit dem Geschlecht derer von Tiamin an. Nicht einmal das fanatische Priesterpaar im Nachbarreich.

»Die Herrin!«, erklang der Ruf, als Danèstra auf drei Schritt heran war.

Die Arbeiten wurden sogleich unterbrochen. Die Knechte und Tagelöhner zogen die Kappen ab, die Mägde machten einen tiefen Knicks. Die Musikanten in der Scheune hatten nichts mitbekommen und spielten weiterhin auf.

Danèstra lächelte ihnen zu, aufrecht im Sattel, als wäre sie gerade zwanzig. Ihre Ausstrahlung übertraf die eines jeden, ihr Auftritt wirkte stets königlich. Das erzeugte Ehrfurcht, ganz gleich, ob man ihr zum ersten oder wiederholten Male begegnete.

»Ihr habt bislang gut gedroschen und gesiebt«, sprach sie laut. »Wenn die letzten Wagen die gebundenen Ähren abgeladen haben und das Tagwerk getan ist, darf, nein, muss gefeiert werden. Morgen wird gegessen und getrunken, was die Mägen halten und die Köpfe vertragen. Wer mich dabei unter den Tisch trinkt, dem zahle ich ein Goldstück.« Die Männer und Frauen lachten leise. »Vernehmt: Ihr bekommt nach der Sommerernte den doppelten Lohn und Getreide für einen Winter«, verkündete sie und freute sich über das ungläubige Staunen in den verschwitzten Gesichtern. »Denn was wären meine Familie und ich ohne euch, die starken und fleißigen Hände? Unser Land würde verkommen. Daher ist es nur rechtens, dass ich euch mit Geschenken bedenke. Nun drescht bis zum Abendbrot und geht morgen zeitig ans Werk. Denn am Abend soll gefeiert werden.«

Danèstra wendete den Wallach und ließ ihn antraben, um nach Kaltensee zurückzukehren.

Hinter ihr erklangen die Hochrufe der Menschen, die ihr Glück nicht fassen konnten. Wo andere ihre Leibeigenen und Tagelöhner knausrig bezahlten oder mit Prügel bedachten, gab es in Kaltensee beste Kost und Unterkunft und obendrein einen Verdienst, der in Uthalosa seinesgleichen suchte.

Danèstra ließ das Pferd in Galopp verfallen und flüsterte: »Thirío! Wettrennen.«

Wie aus dem Nichts schoss der kniehohe Rüde aus einer Mulde und hetzte mit freudigem Bellen neben dem Fuchswallach her. Mühelos hielt er die Geschwindigkeit des Pferdes. Die weißen Ornamente auf seinem schwarzen Fell bewegten sich über den kräftigen Muskeln, die blauen Augen leuchteten.

»Los, Thirío!«, spornte ihn Danèstra an. »Dieses Mal wirst du nicht gewinnen!«

Der Hund bellte auf und beschleunigte. Die Ohren legten sich an, und er schoss mit zwei Längen Vorsprung durch das offene Tor des Ritterguts.

Danèstra drosselte die Geschwindigkeit und trabte auf den belebten Hof. »Schon wieder gewonnen, Thirío. Guter Junge.«

»Und wie!« Mabian streichelte ihn, der Rüde wedelte mit dem Schwanz und hechelte vor Anstrengung. Ihr Sohn beaufsichtigte das Bedecken der Säcke mit einer Plane, damit die Körner bei Regen und Tau nicht feucht wurden. »Hat er jemals verloren, Mutter? Er ist ja fast so alt wie du.«

»Nein.« Sie hielt an und stieg aus dem Sattel. »Ich fürchte, das Pferd, das ihn schlägt, wird es niemals geben.« Die Schnelligkeit war nicht das einzig Ungewöhnliche an Thirío, aber außer ihr kannte keiner das Geheimnis des ergebenen Hundes. Seine äußere Gestalt täuschte alle anderen. Die Menschen setzten die Arbeit trotz ihrer Ankunft fort, sie hatten ihre Herrin schon früher am Tag begrüßt. Ein Knecht eilte heran und kümmerte sich um den Wallach.

Danèstra ging auf das Haupthaus zu, das zusammen mit den drei Nebengebäuden ein Quadrat mit Innenhof bildete. Das Rittergut besaß darüber hinaus einen Donjon, der als Ausguck diente oder im Fall einer Attacke die letzte Zuflucht darstellte. Sie legte großen Wert darauf, dass die Zinnen Tag und Nacht besetzt waren.

Aus der Schar der Mägde löste sich ein Mädchen von geschätzt vierzehn Gemeinjahren. Es ging schüchtern auf Danèstra zu und machte dabei unentwegt Knickse und beugte das Haupt. »Verzeiht, Herrin«, sagte sie unsicher. »Darf ich Euch ansprechen?«

Mabian kniete sich neben Thirío. »Du musst jetzt gut aufpassen«, sprach er zu ihm. »Wir werden bestens unterhalten, alter Junge.«

Danèstra ahnte, was folgte, als die Magd aus ihrer Umhängetasche bedruckte Blätter in einem Einband aus Karton nahm. Ihren Lippen entwich ein leidender Seufzer. »Mabian, erinnere mich, dass ich diesen Kerl doch umbringe.«

»Gewiss, Mutter«, gab ihr Sohn gut gelaunt zurück.

»Wie heißt der Schund dieses Mal?« Danèstra nahm das Büchlein entgegen. »Aha. Die Abenteuer von Danèstra, Band elf: Die Prüfungen des Kaisers.«

»Signiert Ihr es mir, Herrin?« Das Mädchen machte wieder einen Knicks. »Ihr seid mein Vorbild.«

Danèstra legte eine Hand auf den billigen Einband. »Kind. Nichts davon ist wahr. Dieser Kerl, Mahetian Tintenfain, dichtet mir Abenteuer an, die …« Sie blätterte das Büchlein durch. »Was? Das Fest der Lüste?« Sie starrte auf die schwülstigen Zeilen einer Liebesszene und fühlte, wie ihr Blut vor Wut schneller floss und ihr Gesicht rötete. »Nun ist’s genug! Bei Deiwos, dafür lasse ich ihn seine Tinte saufen und die Drucklettern fressen! Wie kann er …«

Mabian lachte schallend, und Thirío bellte zweimal; sein anschließendes Hecheln erinnerte an ein Grinsen.

»Herrin, verzeiht!«, rief die Magd erschrocken und trat den Rückzug an. »Ich wollte Euch nicht …«

»Du kannst nichts dafür, Kind.« Danèstra nahm den Griffel, den das Mädchen mitgebracht hatte. »Du bist Eraia, richtig?«

»Ja, Herrin.«

Danèstra schrieb den Namen auf die erste Seite, gefolgt von guten Wünschen und ihrem Monogramm. »Wenn ich dein Vorbild bin, vergiss, was darin steht. Und morgen erzähle ich dir bei unserem Fest gerne, was ich wirklich erlebte.« Sie klappte das Buch zu.

»Danke, Herrin.« Sie verneigte sich. »Danke vielmals!« Schnell entfernte sie sich und kehrte zur Gruppe der kichernden Mägde zurück.

Danèstra schnaubte und sah zu ihrem Hund. »Thirío, du elender Verräter.« Langsam trottete der schwarz-weiß befellte Rüde zu ihr, hechelte dabei, als lachte er sie aus. »Ja, ja. Kein Braten für dich.« Sie zeigte auf ihren Sohn. »Und für dich auch nicht.«

»Ich? Ich habe nichts getan!«

»Dieser vermaledeite Tintenfain und seine gemieteten Schreiberlinge! Deiwos, erschlage jeden Einzelnen von ihnen!«, sandte sie ein Stoßgebet zum klaren Himmel. »Er verdient bergeweise Münzen mit gedruckten Lügen, die er in ganz Nankān verkauft. Mit meinem Namen! Ich sollte ihn wahrlich vor den Richter zerren. Wegen Verleumdung.«

»Das Königreich Siwenloith ist weit weg. Er würde flüchten, sobald sich herumspricht, dass du kommst.« Mabian half den Knechten, das Segeltuch über den Säcken festzubinden. »Rege dich nicht auf. Es steigert deinen Ruhm. Du bist eine Legende.«

»Mit dem Fest der Lüste«, murmelte Danèstra kopfschüttelnd und stapfte zum Haus. Thirío blieb neben ihr. »Ich glaube nicht, Sohn.«

»Lieblingssohn!«

»Nein, gerade nur Sohn. Das hast du verdient, weil du mich nicht gewarnt hast.« Sie stellte sich vor, dass sie über die schmierigen Hände des Druckmeisters schritt und bohrte die Absätze ihrer Schuhe tief in den Sand. Schlimmer konnte es kaum mehr werden.

Es sei denn, der Wald würde plötzlich wieder vordringen und das Irrsal verschlingen.

 

Unmittelbar nach Einbruch der Nacht wurde es ruhig auf Kaltensee. Danèstra saß in hellem Kerzenschein vor dem verspiegelten Ankleidetischchen in ihrem Gemach und genoss die einkehrende Stille.

Thirío lag zusammengerollt zu ihren Füßen und träumte, seine Pfoten zuckten, und er bellte leise im Schlummer. In der großen Voliere neben dem Fenster hockte ihr abgerichteter Finsterfalke, der jede ihrer Regungen mit gelben Augen verfolgte.

Die Tiere standen versorgt in den Stallungen. Knechte, Mägde und Tagelöhner schliefen in ihren Unterkünften, erschöpft von der schweren Arbeit auf den Feldern und beim Dreschen. Ein halbes Dutzend Wachen patrouillierte auf den Wehrgängen, zwei weitere hielten vom Turm Ausschau, was sich in der Ferne tat. Es ging um Abschreckung und ein Zeichen der Stärke, wie es der Familie von Tiamin angemessen war. Immerhin trug Danèstra den Adelsrang einer Großfürstin und war Erz-Königin von Uthalosa, auch wenn es sich dabei um einen Titel auf dem Papier handelte.

Ja, der Kaiser und seine Geschenke.

Sie hatte ihren Töchtern und deren Familien, die auf dem Rittergut lebten, eine gute Nacht gewünscht und traf ihre Vorbereitungen für den Schlaf.

Seit etlichen Gemeinjahren verlief das Ritual stets gleich. Ohne Ausnahme. Sogar unmittelbar nach der Geburt ihrer Töchter und des Sohnes hatte sie darauf nicht verzichtet – überwiegend aus Selbstschutz, nachdem es zum ersten Mal passiert war. Nach alter Tradition half ihr dabei das jüngste Kind, sobald es sich mit den Handgriffen vertraut gemacht hatte. So kam es Mabian seit seinem zehnten Lebensjahr zu, sie zu unterstützen, damit sie sich beruhigt zu Bett legen konnte.

Noch ließ er auf sich warten.

Danèstra vermutete, dass er über den Kladden mit den Ernteaufzeichnungen saß und nebenher Berechnungen für das Fest anstellte, wie viele Brote, Fleisch, Wein, Bier und derlei nötig waren, um alle satt und betrunken zu bekommen.

Sie bürstete ihre langen silbernen Haare, bevor sie die Strähnen zusammenflocht und sie kunstvoll um den Kopf legte. Dabei betrachtete sie ihr bejahrtes Gesicht. »Einmal mehr«, sagte sie zu sich selbst. »Zum ungezählten Male.«

Dann erhob sich Danèstra und ging zur Kleiderpuppe, auf der das gefütterte Untergewand hing. Sie streifte es sich über und zog es zurecht; der wattierte Stoff saß eng an ihrem betagten, aber gesunden Körper. Abgesehen von äußerlichen Spuren des Leben, konnte er es mit dem einer jungen Magd aufnehmen.

Da sie keine Lust hatte, länger auf ihren Sohn zu warten, schlüpfte sie mit Anstrengung und kunstreichem Verbiegen selbst in das dünne Kettenhemd, das auf der Halterung daneben gewartet hatte.

Danèstra hatte bereits die ersten Riemen enger gezurrt und die Schnallen geschlossen, als es hastig klopfte und Mabian auf ihr Geheiß eintrat.

»Wo warst du, Sohn?«

»Verzeih, ich wurde vom Zeugmeister aufgehalten. Wegen des Festes.«

»Das dachte ich mir.« Sie wandte sich zu ihm um. »Ich habe schon angefangen. Mach die Riemen enger und danach …«

»Die Haube, ich weiß«, unterbrach er sie. »Mutter, ich tue das seit sechs Gemeinjahren.« Er nahm die Kapuze aus geflochtenen Kettenringen und legte sie ihr an. Routiniert setzte er danach den Harnisch, die Halsberge, die Oberarm- und -schenkelrüstungsschienen an. Auf jedem Teil prangte das Wappen und das Monogramm derer von Tiamin, gemacht und angepasst vom besten Waffenschmied auf Nankān. Die Rüstung behinderte weder beim Laufen noch beim Kämpfen, und die Legierung war leichter als Leder, doch beständig wie Stahl. »Denkst du, bei mir wird es auch passieren?«

»Wieso bei dir?«

»Weil meine Schwestern … weil es nicht bei ihnen geschieht. Ich … ich dachte, weil neben einer Frau vielleicht ein Mann aus unserer Familie …« Er biss sich auf die Unterlippe.

Danèstra fuhr ihm einmal mütterlich über den Schopf und zog danach die dünnen Lederhandschuhe an. »Ich weiß, dass du es dir wünschst.«

Mabian seufzte. »Es ist offensichtlich, nicht wahr?«

»Seit dem Tag, an dem du die Pflicht von deiner Schwester übernommen hast.« Danèstra prüfte ihre Beweglichkeit, drehte den Kopf. Dann ließ sie sich die Panzerhandschuhe reichen und stülpte sie über. Sie hatte schon öfter mit dem Gedanken gespielt, die Rüstung auf einen Brustharnisch zu reduzieren, aber man erwartete es, sie so zu sehen, wie man sie aus den Geschichten kannte. »Ich weiß nicht, ob Deiwos dich auserwählen wird.«

»Sicher, dass es Deiwos ist, der …«

»Wer sonst, Lieblingssohn?«, unterbrach sie ihn. »Aber ist es nicht gleich?« Danèstra öffnete und schloss die Finger, nickte zufrieden. »Es geschieht. Einerlei, wer oder was dahintersteckt.«

»Gedankenspiele sind wohl erlaubt, oder?« Mabian umrundete sie, während sie die Arme abspreizte, damit er die angelegte Rüstung inspizieren konnte. »Sollte es an meinem Vater liegen?« Er rüttelte und zerrte prüfend an den Metallteilen. Sie saßen perfekt. Wie jede Nacht.

»Ich weiß, was du eigentlich fragen willst.« Danèstra senkte die Arme und sah ihm in die Augen. »Ich werde dir nicht sagen, wer dein Vater ist. Es ist nur gerecht, da ich deinen Schwestern auch nicht offenlege, wer sie zeugte. Aber es waren stattliche, edle Männer. Wie es mir gebührt.« Sie lächelte. »Du gleichst ihm und hast seinen schnellen Verstand. Aber ein Abenteurer war er nicht, Mabian. Du musst keine Tradition wahren.«

»Doch du …«

Danèstra küsste ihn auf die Stirn. »Ich bin müde, Lieblingssohn. Disputieren wir darüber nach dem Erntefest. Einverstanden?« Schnell war das Waffengehänge mit dem kostbaren Schwert und den Dolchen angelegt, eine schmale Trinkflasche durfte nicht fehlen.

»Ja, Mutter.«

Sie begab sich zum Bett und setzte sich auf die Kante, schwang sich in voller Panzerung auf die bequeme Strohmatratze.

Danèstra war es gewohnt, in diesem stählernen Nachtgewand zu schlafen. Durch die perfekte Anpassung der Teile und das dämpfende wattierte Unterkleid war es einigermaßen bequem, sofern sich das Schwert nicht verklemmte. »Jetzt noch …«

»Ich weiß doch«, sagte er und klang unzufrieden. Ihm schmeckte es nicht, dass er sich gedulden musste.

Mabian ging zum Vogelkäfig und ließ den Finsterfalken auf seinen Unterarm springen, um ihm danach eine Haube über den Kopf zu streifen. Der Vogel begehrte nicht dagegen auf. »Guter Vélos«, lobte er ihn und setzte ihn in den kleineren Transportkäfig.

»Thirío«, rief Danèstra ihren Hund, der aufstand und sich sogleich gehorsam neben das Bett stellte. Auch er kannte das Ritual seit Dekaden.

Mabian befestigte das Tragegeschirr an Thiríos Rumpf und legte ihm das Halsband um. Eine leichte Kette führte zu einem Haken, der am Gürtel von Danèstras Rüstung arretiert wurde. Danach sicherte er als letzten abendlichen, hundertfach ausgeführten Handgriff Vélos’ Käfig am Geschirr des Hundes. Erst jetzt legte sich Thirío nieder.

»Danke. Lösche die Kerzen noch und dann geh. Schlaf gut, Lieblingssohn.«

»Was ist mit dem Helm, Mutter?«

Danèstra überlegte. »Ich lasse ihn weg.«

»Wir könnten ihn Thirío aufsetzen.« Mabian grinste und ging im Gemach umher, erstickte die Flämmchen mit einem bronzenen Löschhut. »Ihn würde das nicht stören.«

»Nein, das tue ich ihm nicht an.« Danèstra schloss die Lider. Sie war wirklich sehr müde. In den letzten Tagen hatte sie bei der harten Arbeit auf den Feldern geholfen, wie sie es gerne tat, um sich zu erden. Sich zu erinnern, wie sich das Leben der einfachen Menschen anfühlte. »Ich freue mich auf das Fest morgen«, murmelte sie eindämmernd.

»Das ganze Gehöft tut das, Mutter«, erwiderte Mabian leise, und seine Stimme erklang wie aus großer Entfernung. »Du bist eine wunderbare Lehnsherrin für die Menschen …«

Der Rest seiner Worte ging in ein unverständliches Flüstern über, das sie in den Schlummer begleitete. Die Tür zu ihrer Unterkunft schloss sich mit einem Klacken, und es wurde still.

Danèstra spürte ihren Herzschlag in der Brust, vernahm das Pochen in den Ohren und das Pulsieren in den Schläfen.

Der Takt verlangsamte sich, verlor an Geschwindigkeit – bis kein weiteres Klopfen mehr kam.

Ein heißes Brennen breitete sich in ihrer Brust aus, und Danèstras Sonnengeflecht glühte auf.

Die Hitze flutete ihren Körper, vor ihren geschlossenen Lidern wurde es rot. Sie sah die Adern durch die dünne Haut und presste vor Schmerz die Zähne fest zusammen.

All das kannte Danèstra.

Das Gefühl, ins Bodenlose zu stürzen, gesellte sich zur allgegenwärtigen Hitze, und sie rang keuchend nach Luft.

Unvermittelt sprang das Herz erneut an, es wummerte und raste in der Brust, dröhnte und krachte wie Hammerschläge in ihr. Sie schmeckte aufgewühlte Erde. Es roch nach Gras, und Tau benetzte ihr Gesicht.

Schlagartig endeten das Fallen, die Hitze und die Dunkelheit.

Danèstra öffnete die Augen, die Pupillen gewöhnten sich an das Licht. Allmählich drangen Geräusche in ihre Ohren, die dumpf und undeutlich hallten. Sie passten nicht recht zu den zuckenden Figuren, die in dem Waldstück und auf der Straße vor ihr umhersprangen und torkelten.

»Thirío. Bist du da?«

Ihr Hund stieß sie als Antwort mit der Schnauze an.

Danèstra kniff die Lider mehrmals zusammen, und das Bild klärte sich.

Sie kniete zwischen lichten Tannen und Farngestrüpp. Eine unbefestigte Straße schnitt sich durch den Forst, in dem ein wüstes Scharmützel tobte.

Danèstra löste den Falkenkäfig vom Hundegeschirr, befreite Vélos und nahm ihm die Haube ab, damit der Raubvogel sich orientieren konnte. Sie hakte Thiríos Kette aus und erhob sich behutsam.

»Da sind wir also, meine Getreuen«, sagte sie zu Falke und Hund. »Das Schicksal hat uns ein weiteres Mal entsandt, um jemandem beizustehen.« Danèstra blickte sich aufmerksam in dem Getümmel um und zog ihr Schwert. »Wer könnte das wohl sein?«

Nie wusste sie, zum wem sie geschickt worden war oder wo und in welchem Reich sie sich befand.

Einzig sicher war, dass sie Nankān nicht verlassen hatte. Sie mochte im Irrsal oder in einem der anderen Länder der Halbinsel stehen – sie würde es später herausfinden.

»Hey!«, schrie einer der Kämpfenden, die keinerlei Wappen auf den schäbigen, teils rostbesetzten Rüstungen trugen. »Wer bist du, Großmutter? Wo kommst du auf einmal her?« Er erstach seinen entwaffneten Gegner und wandte sich Danèstra zu, hob seinen tropfenförmigen Langschild und reckte das blutige Schwert gegen sie. »Ergib dich!«

Sie hob ihre eigene Klinge. »Deinesgleichen nicht.«

»Ho! Dann schneide ich deine Haut in …«, setzte der Krieger an und schlug dabei nach ihr.

Danèstra duckte sich unter dem Hieb weg und rammte ihre gepanzerte Schulter gegen den Schild.

Der kräftige Stoß warf den Gegner nach hinten um. Flink sprang sie auf seine metallbeschlagene Deckung, und die Kante zertrümmerte dem Mann die Nase. Mit einem Aufschrei versank er in Ohnmacht.

»Großmutter. Das habe ich noch nie gehört. Einfallsreicher Junge!« Danèstra verharrte auf dem Schild und ging auf ein Knie herab, spähte umher. »Zeig mir, weswegen du mich gerufen hast, Schicksal«, murmelte sie. Sie wusste aus Erfahrung, dass sie nicht lange warten musste, um den Grund zu erkennen.

In dem Durcheinander aus blutigem Hauen, Stechen und Sterben wurde eine junge Frau von einem Krieger mit Beil brutal zu Boden gestoßen. Als Mutter von vier Kindern erkannte Danèstra sogleich, dass es sich um eine Schwangere handelte, die weit über den siebten Mond hinaus war. Deutlich wölbte sich der Bauch unter dem einfachen, blutbespritzten Gewand und dem Mantel.

Danèstra spürte ein mitfühlendes Stechen im Herzen bei der Vorstellung, die junge Mutter könnte von der Schneide getroffen werden. Keinesfalls darf ihr und dem Kind ein Leid geschehen. »Sie! Sie ist der Grund unseres Hierseins.« Sie rannte los, Schwert und Dolch erhoben. »Thirío, achte auf mich!«

Der schwarz-weiß befellte Rüde bellte dunkler als beim Wettlauf auf dem Feld, und seine Gestalt änderte sich im Spurt. Er wuchs, sein Körper verbreiterte sich und stemmte sich auf die Hinterläufe; die wenigen weißen Flecken nahmen ein neues Muster an. Seine Schnauze bewehrte sich mit silbrig metallenen Zähnen, die beim ersten Zuschnappen einen gegnerischen Unterarm samt Rüstung durchbissen. Blut spritzte, Hand und Waffe fielen auf den Waldboden. Der Gegner wich kreischend zurück und hielt sich den Stumpf.

Die sehnige junge Frau hob flehend die Arme, Tränen schimmerten in den braunen Augen. Der Räuber hob unbarmherzig zum Schlag mit dem Beil aus, um ihr den Schädel zu spalten. Sie krümmte sich verzweifelt zusammen und schützte das ungeborene Leben in ihrem Leib.

»Du Feigling!« Danèstra erreichte die kauernde Schwangere und den überraschten Krieger. »Halt! Weg von ihr! Wie kannst du es wagen, einer werdenden Mutter etwas anzutun!«

Der Mann schlug zu.

***

Nankān, im Süden des Irrsals, südlich der Stadt Dornenfeste, Spätsommer

Quent Rabenhorst stemmte seine Füße abwechselnd in den weichen, schlammigen Boden und schob sich vorwärts, während sich das Joch des einachsigen Ziehwagens in Schultern und Nacken drückte. Die Lederpolsterung nutzte kaum etwas. Das Gewicht des Vehikels, das er seit Sonnenaufgang hinter sich her über den Waldweg zerrte, war einfach zu groß.

Das lag vor allem daran, dass außer den ganzen Vorräten, dem Zelt, den Pfannen und Töpfen sowie alchemistischen Behältnissen verschiedenster Größe sein nicht eben schlanker Herr Calostro schnarchend oben auf dem Gerümpel lag und sich kutschieren ließ.

Quent, knappe achtzehn Gemeinjahre alt, schlaksig und dürr wie eine junge Birke, blieb stehen und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Danach nahm er die Trinkflasche vom Gürtel und gönnte sich große Schlucke vom Rindentee, der belebende Wirkung hatte.

Die wärmende Gugel hatte er längst von den kurzen braunen Haaren gestreift, die grob gewobene Tunika war luftig wie die offenen Sandalen.

»Was ist, Räblein?«, fragte sein Herr verschlafen vom Ziehkarren herab. »Wir sind noch nicht da. Warum hältst du an?«

»Weil ich nicht verdursten will.« Quent ließ sich den Spitznamen seit acht Jahren gefallen. Damals hatte Calostro ihn als kleinen schmächtigen Jungen seinen verarmten Eltern als Sklaven abgekauft und ihn zu seinem Diener für alles gemacht. Inzwischen bekam Quent guten Lohn fürs Schleppen, Tragen, Waschen, für Botengänge und was ansonsten anfiel, der ihm die harten Worte seines Herrn erträglicher machten. Auch lernte er viel von dem Mann, nicht nur Lesen, Rechnen und Schreiben. »Ich arbeite, müsst Ihr wissen.«

Calostro lachte leise. Er war um die vierzig Gemeinjahre und hatte eine Halbglatze. Die wenigen grauen Haare hielt er kurz wie den gleichfarbigen Stoppelbart in seinem rundlichen Gesicht. Die einfache Leinenrobe hatte er vor dem Aufbruch rasch mit Fluchbannzeichen bemalt. »Tapfer, mein guter Diener.«

»Ich sehe es als neuerliche Prüfung von Thýguda.« Quent verschloss die Flasche und hängte sie zurück an den Gürtel. Danach richtete er das Joch und legte es sich bequemer auf die Schultern.

»Oje. Dieser lästige Glaube, den die Eindringlinge mitbrachten.«

»Es sind keine Eindringlinge, sondern die vertriebenen Menschen aus Yarkins untergegangenen Reichen.«

»Herrje, sie haben nicht friedlich um Hilfe gebeten, sondern sich weite Teile Nankāns unter den Nagel gerissen.« Magische Talismane baumelten an Calostros Handgelenken, beschriftete Holztäfelchen trug er wie eine Rüstung. Alles an ihm sah improvisiert und schief aus. Auch das war seit acht Gemeinjahren so. »Die würde nicht nur ich als Eindringlinge bezeichnen.«

Quent wusste, dass sein Herr diesbezüglich recht hatte. »Die Verzweiflung befahl es ihnen.«

»Oder ihre Gottheiten. Sagen manche. Und dass die vorrückende Wildnis ein Vorwand gewesen war.«

»Nein! Thýain und seine Gemahlin Thýguda hätten das niemals von ihren Gläubigen verlangt.«

»Dieses Hin und Her wegen des Glaubens geht mir doch gewaltig auf die Nerven. Die – nennen wir sie Zugezogenen – wollen missionieren. Aber uns, den Bewohnern der Altreiche, sind die neuen Götter gleich«, holte Calostro aus und legte sich gemütlicher hin. »Genau das sehen die Zugezogenen als Grund, weswegen der Wald vorrückt. Thýain und Thýguda verlangen mehr Aufmerksamkeit, um den Menschen beizustehen. Habe ich recht?«

»Ja.« Quent kannte die Dispute zwischen den Anhängern sehr gut.

»Da hast du’s. Und die Altreiche sehen es genau umgekehrt: Die Zugezogenen haben den vielgestaltigen Deiwos verärgert, und er will sie strafen. Daher brachte er das Unheil über den Kontinent, um seine Macht zu zeigen und Respekt zu erhalten.« Calostro lachte abschätzig. »Siehst du, welch Durcheinander das ist? Und wir Magier und Gelehrte sind jene, die gegen die Wildnis ziehen und versuchen, sie mit Zaubersprüchen aufzuhalten. Nicht die schlauen Priesterinnen und Priester. Von denen lässt sich keiner blicken. Die sitzen in ihren warmen Tempeln und lassen es sich gut gehen.«

Quent musste zu seinem Leidwesen erneut zustimmen. »Ich weiß. Eines Tages werde ich Priester sein. Von Thýguda. Um ihr Wort zu verbreiten und zu zeigen, dass sie und ihr Gemahl …«

»Ja, ja. Wieder nur Schwätzerei. Nun weiter«, unterbrach ihn Calostro. »Predige den Leichtgläubigen, aber verschone das gebildete Hirn eines Mannes der Wissenschaft und rechtschaffenen Magie der Dinge und Elemente.« Er blieb auf dem Wagen sitzen und trank gierig aus seiner Flasche, als hätte er beim Ziehen geholfen. Es roch nach vergorenem Saft. »Los, Räblein.«

»Es wäre leichter, wenn Ihr nebenhergehen würdet.«

»Für dich. Nicht für mich. Ich habe keine Lust zu laufen«, erwiderte der Zauberer, suchte den Himmelsweiser heraus und schwenkte ihn gegen die Wolken, blickte über die Markierungen und richtete ihn auf die Sonne aus, um im Anschluss an Rädchen und Rastern zu drehen. »Ich spare meine Kräfte.«

Mit einem Fluch warf sich Quent ins Joch und zog den zweirädrigen Wagen vorwärts.

»Frage doch deine Thýguda, wo sie steckte, als du den Unfall hattest und ich dich unter der gebrochenen Achse herausziehen musste«, erklang Calostros böser Kommentar. »Zeig ihr die Narbe auf deiner Stirn und frage sie, ob sie weiß, wer deinen gebrochenen Schädel heilte.«

»Herr, Ihr wisst: Ich bin Euch auf ewig dankbar.«

»Das wollte ich hören, Räblein. Zwar kaufte ich dich als Sklaven und zog dich groß wie einen Sohn …«

»Einen ungeliebten Sohn.« Quent stöhnte und lachte zugleich. »Da dank ich fein.«

»Nicht spöttisch werden, junger Mann. Du verdankst mir unendlich viel, nicht nur dein Leben«, wies ihn Calostro zurecht. »Dankbarkeit wäre angebracht.«

»Die bringe ich Euch doch entgegen.«

»Und das heißt: für immer in meinen Diensten.« Der Mann trank schmatzend vom hellen, gärenden Most und rülpste so laut, dass es zwischen den Stämmen widerhallte und einige Hasen erschrocken davonsprangen. »Nicht vergessen, Räblein.« Er schwenkte den Himmelsweiser suchend umher.

»Wie könnte ich?«, murmelte Quent und hielt an, weil er eine zugewachsene Kreuzung erreicht hatte. Die beschrifteten Markierungssteine waren von Lianen und Schlingpflanzen überwuchert. Der Druck der Ranken hatte den Basalt gesprengt. »Wohin?«

»Dummer Apparatus. Er will nicht, wie ich will.« Calostro schnippte gegen die Rädchen und kalibrierte sie erneut. »Das Breite ist die alte Straße der Nord-Süd-Achse, die gemeinsam von den Ländern erbaut wurde. Nun taugt sie in diesem Zustand kaum zum darauf Gehen.«

Quent erkannte nichts mehr von dem einst durchdachten, sechs Schritt breiten Weg, den die außer Kontrolle geratene Natur aufgebrochen und für schwere Wagen unpassierbar gemacht hatte. Der mit Steinen, Sand und Kies befestigte Untergrund, durch die Vermengung hart wie Granit, lag in Trümmern vor ihnen, überwuchert und bewachsen, teils gar mit tiefen Klüften. Calostro hatte es endlich geschafft, ihre Position zu bestimmen. »Wir sind richtig.«

»Was wollen wir hier?«, fragte Quent.

»Nachschauen.«

»Haben wir gemacht. Es gibt nichts. Kehren wir um.« Quent machte Anstalten, den Karren zu wenden. Für seinen Geschmack waren sie im magisch veränderten Wald weit genug vorangekommen. Er fürchtete sich vor Monstern und Bestien aus den Geschichten und wollte ihnen, bei allem Vertrauen in die Macht seines Herrn, nicht begegnen.

»Stehen bleiben, Pinsel der Einfalt!«, herrschte ihn der Zauberer an. »Von hier aus geht’s nach Norden, zwei Feldmeilen.«

Quent deutete auf die unpassierbar gewordene Straße. »Wie soll ich das bewerkstelligen? Ihr lasst mir Flügel wachsen, und ich hebe Euch samt Wagen an?«

»Du ziehst. Ich feuere dich an, während ich neben dir hergehe.« Calostro rutschte vom Ausrüstungsberg, dass die Pfannen und Kessel nur so klirrten, und landete auf dem kleinen Weg, auf dem sie gekommen waren. »Ich kann dir sagen, was wir tun: Ich habe einen Jäger befragt, wo er die Längsstreifenhörnchen herhatte. Und als ich ihm eine gute Summe bot, da verkaufte er mir die Fallen gleich mit.«

»Die Fallen, die natürlich noch an dem Ort sind, wo er sie aufstellte?«

»Gewiss.«

»Und das liegt nicht zufällig tiefer auf dem Stück Irrsal, das sich vollends im Besitz des Waldes befindet? Habt ihr die Ranken gesehen, welche die Wegweisersteine zermalmten? Das Dämonische ist längst hier.«

»Ich höre … Widerwillen.«

»Ihr hört weitaus mehr, Herr.« Quent warf das Joch ab. »Wir gehen geradewegs ins Reich der Finsternis wegen der Felle und des Fleischs von Nagetieren? Das kann nicht Euer Ernst sein! Ihr habt …«

»Räblein, diese Längsstreifenhörnchen sind nötig, um eine neue Formel auszuprobieren«, unterbrach ihn Calostro. »Meine Untersuchungen haben ergeben, dass diese Tiere der Wirkung der Wildnis widerstehen. Verstehst du, was das bedeutet?«

»Nein.«

»Sie leben in diesem magisch veränderten Dickicht, ohne den Verstand zu verlieren oder sich gegen ihre Natur zu verhalten.«

»Haben denn diese Nager Verstand?«

»Den haben sie. Ich untersuchte ihn. Am offenen Hirn.«

»Und ich meine mich zu erinnern, dass ich sie Euch zubereiten und aus den Fellen eine wärmende Mütze für den Winter machen musste«, erwiderte Quent und sah zur zerstörten Straßen, die von der Natur verschlungen worden war.

»Das war danach. Als sie bei meinen Untersuchungen gestorben waren. Schmackhafte kleine Tierchen. Vorher dienten sie einem höheren Zweck.« Calostro zeigte nach Norden. »Aus ihnen will ich die Essenz für ein Gegenmittel destillieren, das wir versprühen können. Es wird gegen den Bann helfen, der mit dem Wald einhergeht. Der die Natur unterworfen hat und ihr rätselhafte Kräfte verleiht.«

»Aus Nagern«, konstatierte Quent skeptisch. »Wie viele Tausende brauchen wir denn, Herr?«

»Aus Längsstreifenhörnchen«, korrigierte Calostro und machte eine scheuchende Bewegung. »Genug. Ich streite mich doch nicht mit meinem Diener! Hoch mit dem Joch und voran! Wenn in den Fallen Beute ist, will ich sie haben, bevor Füchse sie schnappen.«

Seufzend legte Quent die Zugvorrichtung an und packte die Deichsel, mit der er lenkte. »Der Fallensteller hat Euch gehörig übers Ohr gehauen«, verkündete er seine Meinung. »Er wagte sich nicht mehr in die verfluchten Wälder, und mit Euch fand er einen Esel, der ihm die verlorenen Fangeisen zahlte.«

»Wir werden sehen«, sagte der Zauberer. »Und falls nicht, werde ich der Retter von Nankān und Yarkin! Die Mächtigen werden mir aus Dankbarkeit Land und Reichtümer schenken.« Er tat so, als würde er Hof halten, winkte und lächelte. Die Talismane klapperten um ihn herum.

»Die feinen Herrschaften aus Orillon? Die werden gar nichts.« Quent bugsierte den Wagen über den holprigen Untergrund. »Doch! Sie werden Euch die Hand schütteln und bei der Gelegenheit zur Seite stoßen.«

»Aber vorher plündere ich heimlich die verlassenen großen Städte der untergegangenen Reiche. Es gibt in der Wildnis genug Reichtümer zu holen.« Calostro war von seinem Erfolg überzeugt. »Die Toten brauchen das Gold und Silber und die Juwelen nicht.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Und vor allem brauchen die Lebenden diesen veränderten Wald nicht. Deiwos, was hast du uns nur angetan?«

»Thýguda wird uns beschützen.« Quent keuchte, und seine Oberschenkel brannten von der Anstrengung.

Calostro nahm im Dahinschreiten blaue Fettfarbe aus der Umhängetasche und bemalte sich das Gesicht mit wirren Mustern, die wie seine Täfelchen und Talismane gegen die magische Wirkung des Waldes helfen sollten.

»Her mit deiner Visage.« Calostro beschmierte auch Quents Züge mit Symbolen. »So. Damit kann dich der Wald nicht beeinflussen. Du bist vollkommen sicher, mein Räblein.«

Quent zerrte den Karren mit viel Schwung über mehrere Wurzeln. »Wieso reicht die Wildnis schon so weit ins Irrsal? Bewegt sie sich vorwärts? Ich dachte, sie hätte vor Jahren innegehalten.« Die langen, dunkelbraunen Gewächse zogen sich nach dem Überfahren leise knisternd zurück. »Da! Habt Ihr das gesehen? Diese Dinger leben!«

»Pst«, machte Calostro. »Die Wildnis darf nicht wissen, dass wir sie durchschaut haben.« Er neigte den Kopf näher zu seinem Diener. »Einige Freunde und ich wissen es seit geraumer Zeit. Es wurde ein Dorf weiter nördlich verschlungen. Über Nacht. Erst kamen die wilden Tiere und fielen über die Menschen und das Vieh her, um sie zu fressen«, flüsterte er. »Wie ausgebildete Soldaten mit einem Angriffsplan, gezielt und geschwind. Danach bebte der Boden, und die Stämme wuchsen binnen weniger Herzschläge aus der Erde. Schon am nächsten Tag erhob sich an der gleichen Stelle finsterer Wald.«

»Woher wisst Ihr das?«, fragte Quent schaudernd und blieb unwillkürlich stehen. Auf seinen Armen bildete sich Gänsehaut.

»Weil einer meiner Freunde von dort stammt. Er ist der Einzige, der entkam.« Calostro zeigte auf die zerstörte Straße. »Weiter.«

»Dieser Unsinn über Streifenhörnchen … Den habt Ihr berichtet, um die Wildnis zu täuschen«, raunte er.

»Gut erkannt.«

»Weswegen sind wir wirklich hier?«

Die Antwort blieb ihm Calostro schuldig. Unter ihren Füßen sackte die Straße plötzlich weg, und sie stürzten samt Wagen und Ladung in die dunkle Tiefe. Umgeben vom Scheppern der Pfannen und Kessel, vom Krachen des Holzes und Bersten der Glasgefäße mit den Alchemikalien, ging es für die schreienden Männer abwärts.

***