Kit
A
n diesem einen Tag, als ich verschwand, als ich den Mann, den ich liebte, in eine Falle lockte und den kleinen Engel in Gefahr brachte, weil er mich in seine Fänge bekam. Mein Ex hatte es geschafft, mich zu überwältigen, und bevor ich Jey retten konnte, verbannte er mich in die Dunkelheit.
Meine geliebte Dunkelheit. Freund. Wegbegleiter. Rückzugsort. Sie verschlang mich.
Je mehr ich dagegen ankämpfte, desto dichter umhüllte sie mich, legte sich schwer auf mich nieder und drang in meinen Mund, um mich zu ersticken. Sie überflutete mich wie eine barbarische Welle
und ich ertrank. Ich ertrank, ohne eine Chance auf Rettung, und die Dunkelheit wurde zu meinem Todfeind. Meine einzige Zuflucht wandte sich gegen mich. Und allein fand ich nicht mehr zurück.
Doch weit entfernt spürte ich ihn. Er war hier, sah auf mich hinab und seine Wärme verdrängte die Kälte. Ehe ich mich versah, stand ich ihm gegenüber. Die Dunkelheit war vertrieben und ich blickte unvermittelt in seine blauen Augen, sah die Fürsorge, den Halt, weil er mich schon immer verstanden hatte. Auch ohne Worte. Er immer bei mir gewesen war, obwohl es nie einen Grund dafür gegeben hatte. Außer der bedingungslosen Freundschaft, die uns miteinander verband.
Mit einem Augenaufschlag war die ganze Dunkelheit von mir gewichen, weil er sie vertrieb. Das helle Licht wog mich in Sicherheit, weil er meinen Anker darstellte. Und so abscheulich die Welt auch war, so fand ich in ihr wiederum eine andere kleine Welt. Eine, die mir Schutz und Sicherheit bot. Die direkt vor meinen Augen lag. Die Gewissheit, dass das Blutvergießen jede noch so schlimme Pein und jedes grausame Szenario zum Guten wenden würde. Nur, weil er mir diese Geborgenheit gab.
Auf einmal waren wir nicht mehr allein und sein Lächeln traf durch mich hindurch. Ich drehte mich um und sah mich. Mein jüngeres Ich, das genervt mit den Augen rollte. Ich ließ meinen Blick schweifen, erkannte, dass wir im Flur meiner alten Highschool standen. Verwirrt hörte ich ihn sprechen.
»Was hast du wieder angestellt? Du müsstest doch im Unterricht sein.«
»Ach. Ich habe nur ein Messer an ihr vorbeigeworfen.« Ich winkte
ab. Es war der Tag, an dem die Lehrerin mich nervte und ich den Klassenraum verließ, um dann direkt in Jeff hineinzulaufen. Mein Pech. Ich schmunzelte leicht darüber, wie meine jüngere Version so abgebrüht vor meinem Freund stand und er schockiert die Augen aufriss. Dabei war es nicht das erste Mal.
»Ach, was denn, Jeff? Sie hat mich gefragt, ob ich mich nicht selbst verwirklichen möchte … tztz … Und ob ich keine Träume habe?!« Wieder winkte ich ab. Und mir wurde klar, dass ich damals gelogen hatte, weil ich es nicht besser wusste. Dass ich zwar damals Träume gehabt hatte, sie jedoch nicht verwirklichen konnte. Sie für kindisch hielt und vor allem für unerreichbar. Weil ich die war, die ich nun mal war. Weil allein der Gedanke daran reinste Verschwendung war. Ich war nie normal gewesen und könnte es nie sein. Dabei wollte ich genau das.
Die Stimmen auf dem Flur längst vergangener Zeit wirbelten um mich herum und ich konnte mich selbst nicht aufhalten, als die jüngere Kit Jeff belächelte und ging. Er kannte meinen sinnlosen Wunsch von einem Hauch Normalität.
Aber hier, in der Vergangenheit, hätte ich etwas ändern können. Die Zeit anhalten und mich selbst zur Wahrheit zwingen können. Schließlich war ich noch jung, hätte andere Wege einschlagen können – es hätte nicht so viel Blut fließen müssen, bis ich endlich verstand, dass ich jeder Zeit etwas zum Guten wenden konnte.
Ich rannte hinter meinem jüngeren Ich her, rief mir zu, zu warten. Die Angst, das Unvermeidliche nicht aufhalten zu können, machte meine Glieder schwerer. Ich erreichte mich nicht. Meine vergangene Version ging zur Tür hinaus zum nächsten Deal, der mich an jenem
Tag erwarten würde. Ich würde den Job erledigen. Wie jeden Auftrag, den ich von meinem Boss bekam. Nur mich selbst vergessen. Mit jedem weiteren Schritt in diese Richtung …
Dabei hatte ich den Traum, das alles hinter mir zulassen. Den ganzen kriminellen Scheiß einem anderen zu überlassen und ein neues Leben zu beginnen. Ich könnte es tun.
Jetzt … mit einem kleinen Jungen in meiner Obhut, der geschützt werden musste und unter diesen Voraussetzungen nicht in Sicherheit war. Ich wollte keine Kellnerin sein, sondern mein eigenes Ding machen. Etwas aufziehen, was mir Freude bereitete. Ja, ich hatte den Traum, Autos zu restaurieren, so wie ich einst meinen Camaro aufgebaut hatte. Ungeliebten und geliebten Fahrzeugen ein neues Leben einzuhauchen! Es war ein kindlicher Wunschtraum. Und blieb fest in mir verschlossen. Meine gegenwärtige Situation bestätigte es. Denn als ich meine Glieder wieder spürte und erkannte, dass ich gefesselt auf unbequemen Polstern lag, wusste ich, dass es mein erstes Ziel sein sollte, den Jungen und mich lebend aus dieser Geschichte zu schaffen.
Keine Ahnung, woher dieser Traum einer längst vergessenen Erinnerung herkam. Sie zeigte mir jedoch etwas Ausschlaggebendes. Denn ich wusste, wo ich enden würde, wenn das so weiterging. Selbst wenn ich lebendig aus dieser Scheiße herauskommen würde und Masi für seinen Versuch, mich erneut zu quälen und noch dazu meinen kleinen, unschuldigen Engel mithineinzuziehen, bestraft hätte, würde sich nichts ändern.
Denn ich war Kit.
Zudem zeigte mir das Bild meiner gefolterten Mitarbeiter meine
eigene Zukunft. Wenn Masi weg war, gab es noch Colt. Früher oder später würde dieser heiße Mistkerl mich kriegen, quälen, meinen Körper schänden und nur meine zerstörte, verkommende Hülle übriglassen.
Er durfte nicht mein Untergang werden. Nicht er. Sobald Colt wie geplant die Jagd auf mich eröffnen würde, nachdem ich Masi entkommen war, würde das ein Ende haben.
Alles.
Zumindest für meinen kleinen Engel musste ich versuchen, diesen ewigen Kreislauf aus Folter und Macht zu beenden. Mein Kopf schmiedete bereits einen Plan, alles zum Guten zu wenden. Mit der Gewissheit, dass irgendwo und wenn nur gerade in meiner Erinnerung, er bei mir war und mich erdete. Mein Anker, Jeff, mich immer festhielt, um mich nicht dem unkontrollierbaren Blutrausch hinzugeben, der alles mit sich reißen und nur Zerstörung zurücklassen würde. Mir dabei half, einen klaren Kopf zu bewahren, und meine Aufmerksamkeit sensibilisierte. Also atmete ich tief durch.
Und genau in diesem Moment fiel mir etwas Entscheidendes auf.
Ich roch ihn.
Ihn und seinen typischen Duft.