D er Mistkerl hatte sich ohne ein Wort einfach ins Bett gelegt, als hätte er mich nicht schon wieder dazu gezwungen, ihm einen zu blasen. Als hätte er nicht meinen beschädigten Ruf gegen mich benutzt.
Ich zog mir einen Slip an, ignorierte die Tatsache, dass er mir meinen kleinen Sieg genommen hatte, und verließ das Zimmer, um mir etwas zu trinken zu holen.
Wutentbrannt marschierte ich über den Flur, bis ich kurz verharrte und mich entschied, nach Jey zu sehen. Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf. Nicht nur, warum er mich stalkte, sondern auch, wie er es schaffte, dass meine Männer sich gegen mich wandten. Wie verdammt konnte er die richtigen Leute finden? Woher wusste er, wo er sie finden konnte? Und verdammt, wann hatte er das gemacht?
Wann???
Noch immer quälten mich die Worte meines Henkers: ›Erledige ihn, bevor er dich zerstört. Er hat ihnen ein Angebot gemacht.‹
Verflucht!
Zu viele meiner Mitarbeiter würden sich eher alle Finger abhacken lassen, als mir in den Rücken zu fallen. Erst recht, nachdem ich versucht hatte, meinem Ruf gerecht zu werden. Aber leider gab es auch Menschen in unseren Reihen, die so viel Schiss vor Colt hatten, dass sie eher ihre eigene Brut verkaufen würden, bevor sie ihm in die Hände fielen. Verständlich. Colt war ein Sadist. Ein unmenschlicher, brutaler Sadist!
SHIT!
Wie sollte ich da wieder rauskommen? Was hatte er vor?
Schon immer konnte ich die Tatsachen gut zusammenzählen, doch bei ihm fiel es mir zunehmend schwerer, hinter seinem Handeln zu steigen. Ich verstand es nicht. Was brachte es ihm, wenn meine Männer mich verrieten?
Er schien ein guter Stratege zu sein, denn sein ganzes Verhalten und seine Pläne passten einfach nicht zusammen. Wenn er mich tot sehen wollte, würde er es selbst erledigen, und vor allem direkt, und nicht dieses Schauspiel veranstalten. Egal, wie ich es auch drehte, wie sehr ich auch dachte, dass er mich benutzte, um Calvin zu töten, passte das alles nicht zusammen.
Das alles ergab keinen Sinn.
Ich sollte ihm gehören, ihm gehorchen, aber zugleich drehte er meine Leute um, sodass ich selbst in meiner Heimat in Gefahr war. Das alles war doch Bullshit!
Ich stand vor Jeys Tür und erstarrte mit der Hand an der Klinke, als mir ein Geistesblitz kam.
Chicago.
Ich konnte gar nicht mitzählen, wie oft er mich gebeten hatte, mit nach Chicago zu gehen. Ihn zu begleiteten und Detroit endgültig den Rücken zu kehren. Und wie oft er betont hatte, dass ich hier nicht sicher war, weil meine Jungs gegen mich handeln würden. Ha! Seinetwegen! Weil er dafür gesorgt hatte!
Aber warum wollte er mich in Chicago haben?
Was hatte er nur vor? Abgesehen davon, Detroit für sich zu beanspruchen. Aber wenn ich in Chicago bei ihm war, konnte er mich schlecht gegen Calvin benutzen. Schließlich wollte mein Boss ebenfalls, dass ich wieder zurück nach Chicago ging. Nur eben zu Jeff. Damit ich vor Masi in Sicherheit war.
Kopfschüttelnd drängte ich die Gedanken beiseite und betrat leise das Zimmer. Mein kleiner Engel schlief seelenruhig in seinem Bett und nur das Mondlicht erhellte den Raum. Hinter mir schloss ich die Tür und lehnte mich dagegen. War es verrückt, dass sich eine Wärme in mir ausbreitete, je länger ich dastand und diesen unschuldigen Jungen betrachtete? Wahrscheinlich. Es war mir aber egal.
Er hatte niemanden. Nur mich. Und diesen irren Sadisten.
Dieser kleine Junge ahnte nicht, in was für einer Welt er nun leben würde. Welche grausamen Erfahrungen hier auf ihn warteten. Kein Monster unter dem Bett, sondern genau vor ihm. Überall in dieser Villa liefen sie herum und er begegnete ihnen täglich. Jung und naiv, wie er mit seinen sieben Jahren nun mal war, ahnte er davon nichts. Umso wichtiger war es für mich, ihm den Weg zu zeigen. Ihn aus dieser Hölle zu schaffen und das Beste für ihn zu erreichen. Ich wollte, dass er ein schönes Leben hatte und ihn nicht in den Abgrund stürzen lassen, aus dem er nie mehr herausfinden würde. Für ihn musste ich mein Leben ändern und meinen Traum in die Tat umsetzen, bevor es zu spät war.
Lange betrachtete ich mein schlafendes Schicksal, deckte ihn zu und verließ das Zimmer leise, unbemerkt und mit einem besseren Gefühl.
Durch den kleinen Engel vergaß ich, was Dean mir schon wieder angetan hatte, und stieg die Treppen hinab in Richtung Küche, als Calvin mir entgegenkam.
Kaum stand ich ihm am Treppenabsatz gegenüber, prallte seine rechte Hand auf meine Wange, sodass mein Kopf zur Seite schlug.
Auch wenn es unvermittelt kam, hatte ich damit gerechnet. Nicht zu dem Zeitpunkt, aber sicher in Laufe des Abends oder des darauffolgenden. Denn ich hatte ihn nicht über meinen Plan, Detroit zu verlassen und die Jagd auf mich zu eröffnen, informiert.
»Was sollte das?«, zürnte er. Obwohl ich mir vor ihm keine Blöße geben wollte, rieb ich über meine Wange, um den brennenden Schmerz zu vertreiben, und lächelte ihn beschwichtigend an.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er mich jemals geschlagen hätte. Was das Ganze für mich amüsanter machte. Wütend wartete mein Boss auf eine Antwort, die ich ihm nicht geben würde.
»Wenn du schon so mutig bist, sogar mich zu verarschen, solltest du damit rechnen, dass ich dich zur Not auch in der Villa einsperre, um dich zu schützen!«
»Du meinst Hausarrest?«, antwortete ich belustigt, was seinen Zorn nicht schmälerte.
»Kitty!«
»Was denn? Ich kann doch wohl selbst entscheiden, wann ich verreise. Oder brauche ich eine Erlaubnis, Daddy zwei?« Sicherlich war eine Provokation meines Bosses nicht hilfreich, aber ich sah ihn selten so aufgelöst und mir gegenüber schon mal gar nicht. Viel zu oft behielt er die Fassung, außer jetzt gerade. Aus einem mir unerklärlichen Grund hätte ich am liebsten laut losgelacht. Zu Anfang nahm ich an, dass er explodieren würde. Doch mit jeder Sekunde, in der er in mein belustigtes Gesicht sah, verrauchte sein Zorn immer mehr, bis er schmunzelnd den Kopf schüttelte.
»Du bringst mich noch ins Grab.«
»Malcolm sagt immer, ich wäre wie ein Sargnagel«, erinnerte ich ihn feixend.
»Womit er recht hat!«
Augenverdrehend wollte ich an ihm vorbeihuschen, doch er stellte sich mir in den Weg.
»Kitty, wir müssen reden. Einige Geschäfte sind geplatzt und andere zurückgegangen. Wir müssen uns darum kümmern.« Mit ›wir‹ meinte er sicher mich.
»Seit wann? Und welche?«
»Seit Monaten. Es kam schleichend. Es wurde immer weniger bestellt.«
»Die Kokseinnahmen sind aber gleichgeblieben, oder etwa nicht?«
»Nein, Heroin.«
Die H-Geschäfte? Ich bezweifelte, dass ein Großteil der Junkies einfach clean geworden war. Junkies? Ha!
Schmunzelnd dachte ich kurz über Harry nach. Wenn er gewusst hätte, dass ich an der Quelle seiner heißgeliebten Droge saß, hätte er sicher nicht versucht, mich zu überfallen, sondern mich auf Knien angefleht, ihm etwas zu überlassen. Was ich sicher nicht getan hätte.
Da fiel mir gleich etwas anderes ein.
»Wusstest du eigentlich, dass D den lieben Rolan am Leben gelassen hat?«
»Ja, das ist mir zu Ohren gekommen. Wusstest du, dass die letzte Lieferung an ihn abgefangen wurde?«
Das hatte er erwähnt und mir in die Schuhe geschoben, also nickte ich in Richtung Treppe.
»Nein, außerdem sitzt Greg in der Küche. Ich habe bereits mit ihm darüber gesprochen. Sie haben damit nichts zu tun.«
Merkwürdig. Vor allem, weil sie die Geschäfte in Chicago nun kontrollierten. Es wäre logisch gewesen.
»Wurde die ganze Lieferung abgefangen?«, fragte ich nach.
»Nicht ganz. Nur das Heroin.«
Sehr interessant.
»Und du glaubst nicht, dass Greg dich belügt?«
Er schüttelte den Kopf und ergänzte: »Die Heroineinnahmen sind zu schnell runtergegangen. Das bedeutet …«
»Konkurrenz«, beendete ich seinen Satz nickend.
»Du weißt, was du zu tun hast?«
»Ja und ich lehne ab. D übernimmt die Plantagen und ich bin raus.«
Stirnrunzelnd legte er den Kopf schief und schien nicht zu verstehen, was ich ihm gerade mitteilte. Also sprach ich es aus: »Ich ziehe mich zurück.«
»Wie meinst du das?«
»Ich lege mein Amt nieder. Ich trete zurück. Verflucht, ich gehe in Rente! Wie deutlich soll ich dir denn noch zu verstehen geben, dass ich mich aus den Geschäften zurückziehe?«, wurde ich eindringlicher und verdrehte genervt die Augen.
»Warum?«
»Weil ich es muss. So geht das nicht weiter. Wenn du wirklich Hilfe brauchst, bin ich nach wie vor da. Aber für den Kleinkram haben wir Leute und ich baue mir was Eigenes, Legales auf.«
Verwirrt und schockiert sah er mich schweigend an. Gerade als ich mich wieder von ihm abwenden wollte, legte er mir eine Hand auf die Schulter und flüsterte liebevoll, wie ich es von ihm kannte: »Wegen des Jungen.« Es war keine Frage, dennoch nickte ich zur Bestätigung. Jey hatte es verdient, dass zumindest ein Mensch für ihn und seine Zukunft kämpfte. Väterlich lächelte mein Boss mich an.
»Das ist die beste Entscheidung, die du wahrscheinlich je getroffen hast«, lobte er mich anerkennend. Dafür war ich ihm dankbar. Nur zeigte es ihm nicht. Ganz im Gegenteil. Ich schob seine Hand genervt von mir, verdrehte die Augen und ging. Dabei war genau diese Antwort so wichtig für mich gewesen. Genau wie die Worte, die er mir noch hinterherrief:
»Ich bin stolz auf dich, Kitty!«
Darauf erwiderte ich nichts. Aber es erfüllte mich, zu wissen, dass sogar mein Boss hinter mir stand. Dass er mir sagte, wie stolz er war und dass meine Entscheidung richtig sei, war wirklich wichtig für mich. Auch wenn er es nicht wusste, ich brauchte seine Unterstützung. Und das Wissen, dass er sogar dann hinter mir stand, wenn ich mich von ihm abwandte, bekräftigte mich in meinem Entschluss. Und ohne seine Zustimmung wüsste ich auch nicht, ob ich es durchziehen könnte.
Nur würde er das nie erfahren.