D ie Schreie einige Zellen weiter waren kaum zu ertragen. Sie waren nicht schlimmer oder beängstigender als die Üblichen, die den Flur beschallten.
Eigentlich sollte ich mittlerweile daran gewohnt sein, sie zu hören, und trotzdem litt ich mit. Vielleicht spürte ich nur meinen eigenen Schmerz, weil ich ahnen konnte, was den anderen Frauen zustieß.
Dasselbe wie mir, seit ich mich dazu entschlossen hatte, meine Mutter zu suchen. Oder vielleicht auch schon viel früher.
Auf dem Bett sitzend horchte ich in mich hinein, als die Stille eintrat. Ich wippte nicht mehr mit den Knien an meiner Brust hin und her und richtete mich auf.
Endlich konnte ich mich umziehen. Denn wie jeden Tag bekam der Haus-Sadist Besuch und wir Frauen wurden den Gästen wie Stuten vorgestellt.
Sie begutachteten uns, nur um dann ihre widerwärtigen Fantasien an uns auszuleben.
Wie schön es doch wäre, wenn er uns einfach nur verkaufen würde. Denn dann könnte ich mich befreien. Aber ich war kein Gegenstand, der bezahlt werden musste. Ich war viel weniger.
Dennoch streifte ich die Kleidung ab und zog das Dessous an, das mir gebracht wurde, bevor ich dem Leiden der Fremden gegen meinen Willen hatte lauschen dürfen. Ich begriff leider zu schnell, dass jeder Kampf gegen diese Monster aussichtslos war. Je stärker ich gegen sie vorging, desto brutaler zeigten sie mir, wie wenig ich ausrichten konnte. Die vielen Blessuren, die ich auf der Haut trug, waren die Beweise dafür.
Kopfschüttelnd wandte ich den Blick von meinen lila verfärbten Gliedern ab, die auf einmal so gut zu meinen Haaren passten, und schlüpfte in das Negligé. Nachdem ich den Slip angezogen hatte, öffnete sich der Schlitz an der Tür und ich erstarrte. Grün-braune Augen betrachteten mich und ich fühlte mich, wie so oft, noch nackter, als ich es ohnehin schon war.
Ich war zu spät und vor Angst, was passieren würde, wenn sich die Tür nun öffnete, verkrampfte ich mich. Zu lange hatte ich meine Aufmerksamkeit der unglücklichen Fremden zugewandt, anstatt mich, wie befohlen, umzuziehen. Der Mann hinter der Tür verschwand und obwohl ich nicht flüchten konnte, bewegte ich mich rückwärts in die nächste Ecke und umschloss meine Arme.
Ich gehörte eigentlich immer zu den mutigen, den wilden Mädchen. Habe mich nie unterkriegen lassen. Aber dieser Ort machte aus jeder starken Frau eine ängstliche, zerbrechliche Hülle.
Die Tür wurde geöffnet und die ersten Tränen sammelten sich in meinen Augen. Doch da stand nicht einer von Campinos Männern. Oder doch? Erschrocken öffnete ich die Lippen. Er legte einen Finger an die seinen und verhinderte so, dass ich eine Frage stellte. Ich verstand nicht, was hier los war, als er mein Gefängnis betrat und mich von oben bis unten unter die Lupe nahm. Er wirkte auf einmal so groß und einschüchternd, nicht so wie in der Bar von Colt, als ich ihn das erste Mal gesehen hatte.
Genau vor mir stehend nahm er eine lange, lila Haarsträhne zwischen die Finger und lächelte mir vorsichtig zu. »Schön dich zu sehen, Mila.«
Ich wünschte, ich könnte das bestätigen, aber seine Anwesenheit schüchterte mich noch mehr ein. Er war doch Colts Mitarbeiter, also was machte er hier? War er einer der Besucher? Würde er mich auch zu diesen kranken Spielchen zwingen wie die anderen?
Mit jeder Sekunde, in der seine Augen mich durchbohrten, fühlte ich mich noch nackter.
»Du lebst ja noch.«
»Ich wünschte, es wäre nicht so«, spuckte ich ihm selbstbewusster entgegen, als ich war. Woraufhin er lächelte und mir damit zeigte, dass er meine Angst an meinen zitternden Fingern erkannte.
»Ich bringe dich hier raus.«
»Warum solltest du das tun?«
»Weil du hier nicht hingehörst.«
»Und die anderen Frauen schon?«
Da schmunzelte er und legte den Kopf schief. Ich traute ihm keineswegs. Denn ohne Grund würde er mir nicht zur Flucht verhelfen. Warum auch?
»Die Frauen interessieren mich nicht, Honey. Schenk mir einen Vertrauensvorschuss, ok? Ich wollte nie, dass du hier festsitzt. Erinnerst du dich daran, dass wir dir abgeraten haben, Campino aufzusuchen? Wir wussten, dass er dich nicht mehr hergeben würde. Du musst auch nicht mit mir kommen. Ich habe hier noch etwas zu erledigen. Ich bringe dich lediglich aus diesem Flur. Den Rest musst du selbst schaffen.«
Daraufhin konnte ich nur nicken. Er hatte recht. Bis auf Colt haben mich alle seine Leute, bis ich im Flieger saß, regelrecht angefleht, nicht zu diesem Irren zu gehen.
»Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
Auf einmal wurde mir kalt und ich sah meine Mutter vor meinen Augen. Als ich mir die Arme rieb, griff er nach mir und schloss mich in eine Umarmung, die sich nach einer viel zu langen Reise wie eine Heimkehr anfühlte. Seine warmen Hände glitten über meinen geschundenen Rücken und spendeten mir kaum Trost, weil meine Trauer einfach zu unermesslich war. Dennoch fühlte es sich gut an und ich seufzte zufrieden an seiner harten Brust.
»Wir müssen gehen, komm.« Auch wenn ich ihm nicht traute, ließ ich mich an einem Arm aus dem Raum ziehen und versuchte, mit seinen großen Schritten mitzuhalten. Überraschend blieb er einige Türen weiter abrupt stehen und ich lief genau in ihn hinein, was ihn nicht zu stören schien, als er durch den offenen Sichtschlitz an der Tür in den Raum sah.
»Oh, Mann«, flüsterte er vor sich hin und legte die Stirn an das Metall. Verwundert beobachtete ich, wie er die Frau auf der anderen Seite erkannte und die Fäuste ballte.
»Wer ist sie?«
»Jemand, der dir sehr ähnlich ist und auch nicht hierhergehört.«
»Dann lass sie raus!« Das Adrenalin schoss durch mich hindurch und ich zog an seinem Arm, aber er bewegte sich nicht. Seine Stirn blieb an der Tür und ich schüttelte energischer. Er packte meine Oberarme und sah mir tief in die Augen.
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
Er sah mich nur kurz an und nahm seinen Weg wieder auf, als er mich losließ. Gerade als ich nachsehen wollte, wie die Frau aussah, riss er mich mit sich.
»Mila, wir haben keine Zeit, komm.«
Eigentlich wollte ich ihm widersprechen, doch ich sah meine Chance und ließ mich von ihm den Weg in die Freiheit entlang ziehen. Am Ende blieb er stehen, weil der Flur sich in zwei Wege, die jeweils mit Treppen nach oben führten, teilte.
»So, Mila, ich muss hier lang und du gehst in die andere Richtung. Du musst die Treppe hoch, dann rechts bis zum Ende. Dann …«
»Ich weiß, ich kenne den Weg«, unterbrach ich ihn schnell.
»Ok.« Er nahm mich ein weiteres Mal in den Arm und flüstert mir ins Ohr: »Pass mit den Kameras auf.«
»Danke.«
»Du kannst dich bedanken, wenn ich dich in deiner neugewonnenen Freiheit gefunden habe.« Erschrocken, nicht wissend, wie er das gemeint haben könnte, löste ich mich von ihm und er lachte leise auf.
»Keine Sorge, Mila, ich will dir nichts Böses. Noch nicht.«
Was für ein Arsch. Doch davon ließ ich mich nicht unterkriegen und hob mutig eine Braue. Woraufhin er erst recht lachte und mich an sich zog.
»Du bist sicher, dass du den Weg kennst?«
»Ja, klar«, log ich. Denn mir wurden immer die Augen verbunden, wenn ich aus dem Verlies geholt wurde. Aber ich musste zurück. Schließlich durfte ich keinem etwas schuldig sein.
»Gut.« Mit einem Kuss auf meine Stirn löste er sich von mir und zwinkerte mir zu, bevor er sich umdrehte und die Treppe hinaufstieg. Ich wartete, bis er nicht mehr zu sehen war. Ehe die Zeit zu knapp wurde, weil sicher gleich die Frauen geholt werden sollten, rannte ich zurück. Leider riegelten an allen Türen Schlösser die Flucht ab. Ich konnte sie nicht befreien. Bis auf eine. Die wichtigste Tür, an der mein Retter eben stehengeblieben war.
Auf Zehenspitze lugte ich durch den Schlitz und eine heftige Erinnerung erschütterte mich, als ich die Frau auf dem Boden liegen sah und ihr Gesicht erkannte.