I ch hätte nie erwartet, das Kit zu den ehrgeizigen Frauen gehörte. Aber das war sie. Widerwillig und kampfeslustig stellte sie sich zunächst ihrer neuen Aufgabe. Kaum sollte sie auf das spezielle Laufband, das Dean hatte einbauen lassen, klettern, um nur mal zu ›testen, wie es sich anfühlt‹ ging es los. Immer wieder flog sie hin, stürzte fies und rappelte sich knurrend auf.
Sie gestand es sich nicht ein, aber sie litt.
Ich erkannte es in ihrem Gesicht, an ihrem Körper, der sich anspannte, nachdem sie ein weiteres Mal ungeschickt fiel, und an ihrer Stimme, die nur noch ein gequältes Knurren war. Die vielen Fremden, die für ihre Gesundheit da waren, hielten sie auf. Allerdings schimpfte sie nur bösartige Wörter und machte weiter. Sie ertrug ihre Schwäche nicht und ich ihr Leid nicht. Ihre Hände zitterten, ihre Rückenmuskulatur spannte sich immer wieder gefährlich an und ihre durch den Schmerz hervorgerufenen Tränen, die in ihren Augen schwammen, brannten sich in mein Inneres.
Ich hatte meine Schwester auf den ersten Blick in ihre Augen gemocht. Ich liebte ihr gefährliches Lächeln. Und nun konnte ich ihr Elend nicht mit ansehen, nicht hören und nicht weiter mitfühlen.
Als die Tränen in meinen Augen brannten, wandte ich mich ab und flüsterte zu Riley: »Ich kann das nicht mehr«, und verließ den Raum. Meine Beine wollten rennen, vor all dem davonlaufen, was sie nicht verdient hatte. Und ich rannte.
Ich lief den Flur entlang, ohne die halbnackten Frauen zu beachten. Weiter durch mehrere Räume, ohne zu wissen, wohin ich wollte. Und ich lief, weil mich nichts mehr stoppen konnte. An der Haustür angekommen riss ich sie auf, wollte weiter meinen unbekannten Weg fortsetzen.
An der ersten Stufe ließ ich mich jedoch fallen, zog die Beine an die Brust und weinte.
In den Ohren hallte der Schmerzschrei meiner taffen Schwester, der jede Nacht zu hören war. Egal, was sie auch schon in ihrem kriminellen Dasein angerichtet haben mochte, das hatte sie nicht verdient. Das hatte keiner. So oft wollte ich zu ihr gehen und sie einfach in die Arme nehmen. Sie halten, wenn der Schmerz sie umbrachte. Ich wusste von Calvin und Saltos, dass sie nie so gewesen war und Umarmungen hasste. Daher lag ich oft auf meinem Bett, lauschte, spürte und ertrug die Qualen ihres Kampfes um ihr Leben.
Jeder ihrer Laute war wie ein Peitschenhieb und ihr Versuch, sich das Leben zu nehmen, ein Schlag ins Gesicht.
»Hey.« An seiner Stimme erkannte ich Dean. »Geht es dir gut?« Er setzte sich neben mich und stupste mich mit der Schulter an.
»Klar, sieht man doch!«, brummte ich schluchzend an meine Knie gerichtet.
»Was ist los, Mila?«
»Siehst du denn nicht, wie sehr sie leidet?« Ich sehe auf und direkt in seine schwarzen Iriden. Sein Aussehen war schon nicht von dieser Welt, aber diese Augen … heftig …
»Doch. Es ist jedoch ein Kampf gegen sich selbst. Den kann sie nur alleine gewinnen oder verlieren.«
»Ich will das nicht mehr sehen oder hören. Ich ertrage das nicht.«
»Ich auch nicht.«
Dean drückte mich an sich und spendete mir ein kleines bisschen Trost, sodass die Tränen versiegten und ich nur noch leise seufzte.
»Das ist meine Schuld, Mila. Das hätte nie passieren dürfen«, flüsterte er und ich sah ihn lächelnd an.
»Nein, Dean. Dafür kann keiner etwas, nur ihr dummer Ex.«
»Du verstehst das nicht, Honey. Ihr Ex hätte sie nie bekommen, wenn ich nicht gewesen wäre.«
Das verstand ich nicht, weil er sie liebte. Glaubte ich zumindest.
»Erklärst du mir das?«
»Alles?«
»Ähm, ja?« Was denn sonst?
»Kit wollte mir nicht nach Chicago folgen. Dort, wo ich sie kennengelernt habe und wo sich meine aktuellen Geschäftsräume befinden. Und weil Kits Ruf durch mich ins Wanken geriet, habe ich es ausgenutzt und durch jemanden, der hier aus Detroit kommt und seit kurzem für uns arbeitet, dafür gesorgt, dass einige ihrer Männer sich gegen sie stellten. Davon wollten aber nicht alle für mich arbeiten und sind zu ihrem Ex übergelaufen. Weil diese Gefahr für Kit nicht ausreichte, um Detroit den Rücken zuzukehren, habe ich über Drew, Jeff mitteilen lassen, dass er Kit mit allen Mitteln zurück nach Chicago schaffen soll. Nur war es dafür zu früh, als er es tat. Dann kam noch dazu, dass ihr Ex mich gehackt hat. Ich habe Jeff mit meiner kleinen Drohung quasi direkt an ihren Ex ausgeliefert. Also hat Jeff zwar Kit überzeugen können, mitzukommen, aber nicht für mich, sondern für diesen Wichser. Zudem wusste er alles über Kit, weil ich sie vielleicht ein bisschen zu viel ausspioniert habe.«
Was für ein Eingeständnis. Schockiert sah ich ihn an.
Dieses Schabengesicht! Er alleine war schuld an Kits Leid.
Ich konnte nicht fassen, wie er das einer Frau antun konnte, die er allem Anschein nach liebte. Fuck off, er liebte sie nicht! Er täuschte es nur vor! Keine Ahnung, warum er das tat, aber war das wichtig? Sicher nicht. Er war nicht besser als mein Ex!
Mit der flachen Hand scheuerte ich ihm eine quer durchs Gesicht, stand auf und rannte zurück.
»Mila, warte!«, rief er mir hinterher, was mich nicht aufhielt. »Jenny weißt davon nichts!«
Gleich schon, Schabe! Als Ausgleich dafür würde er bluten und wenn ich es umsetzen musste, weil Kit dazu nicht in der Lage war. Jeden einzelnen Tag, an dem er lebte, würde er es bitter bereuen. Dafür würde ich sorgen.
Am Fitnessraum angekommen riss ich die Tür auf und Kit, die neben Calvin auf Krücken und der Prothese stand, sah mich verwundert an. Unmittelbar überschlugen sich meine Worte: »Die Schabe ist schuld!«
Sie hingegen lächelte mich an. »Wovon redest du?«
»Die Schabe, Colt! Er ist daran schuld!« Ich zeigte auf ihr Bein. »Er hat dafür gesorgt. Er hat deine Leute umgedreht und Jeff für seine Zwecke bedroht! Nur lief sein Plan schief und das Ungeziefer hat dich bekommen! Wegen ihm!«
»Ach, Mila.« Noch immer lächelt sie.
»Nein, es ist so!«, ich klang mittlerweile richtig verzweifelt. »Er hat dir das angetan!«
»Nein, Honey. Das war Masi.«
»Weil er dich durch die Schabe gekriegt hat!«
»Schabe?« Ahhh! Ihr Lächeln wurde noch breiter. Verstand sie denn nicht, was er getan hatte? Ich raufte mir die Haare und stöhnte.
»Mila, komm runter.« Sie setzte sich auf Calvins Bein und sah mich an, als wäre ich irre. »Setz dich, Honey. Dass er die Männer umgedreht hat, wurde mir schon lange vor der Entführung mitgeteilt.«
»Du weißt davon?«, sprach das Insekt hinter mir meine Gedanken laut aus.
»Ja, natürlich. Also, Mila, das, was mit mir passiert ist, hat mit der Schabe, wie du ihn nennst, nichts zu tun. Nur mit mir. Der frühere Mitarbeiter, den Riley erschossen hat, hat mir die Augen geöffnet. Wegen der Angst vor Colt und seiner Brutalität habe ich einen Krieg angezettelt, der für meine Leute nicht gut ausging. Trotzdem habe das Bett mit ihm geteilt. Verstehst du? Ich wollte ihn loswerden und gleichzeitig haben alle mitbekommen, dass ich Gefühle für ihn habe. Und sie auch noch zuließ. Die Männer haben mir den Rücken gekehrt, weil sie den Machtmissbrauch nicht nachvollziehen konnten. Außerdem ist er keine Schabe, Honey, sondern ein verdammt guter Stratege. Da er wusste, dass ich meine Leute an ihn und durch ihn verlor. Falls er es geschafft hätte, mich aus Detroit zu locken, hätte er fast freie Bahn gehabt, um alle Geschäfte zu übernehmen. Und durch den fehlenden Widerstand wäre es ihm auch tatsächlich gelungen. Natürlich nur, wenn Masi ihm nicht ihn die Quere gekommen wäre. Jetzt muss er quasi von vorne anfangen.«
Ich sah mit offenem Mund zu Dean, der Kit erschrocken ansah, als hätte sie ihm die ewig kalte Maske heruntergerissen.
»Woher kannst du das wissen?«, fragte er sie schließlich und ich fragte mich, warum sie dennoch so locker bei ihrem Boss auf dem Schoß saß und einen Arm um dessen Schultern geschlungen hielt. Sollte sie nicht ausflippen und einen Anfall bekommen, so wie Saltos es mir erzählt hatte? So ein typischer ›Nach-Blut-gierender-Kit-Anfall‹?
»Was meinst du, warum ich Trick zu mir geholt habe? Ich wusste es, bevor wir zu deinem Vater gefahren sind. Ich weiß, dass du mich nicht ausliefern wolltest. Nur ist es so gekommen und du hast es nicht aufgehalten, weil du dich nicht von ihm lösen konntest!«
»Was sagst du da? Natürlich konnte ich es!«
»Nein, Dean. Wenn es so wäre, hättest du ihn viel früher erledigt. Vielleicht schon vor Jahren. Aber du konntest es nicht.« Kit winkte ab und war dabei so entspannt. War sie denn wirklich nicht voller Rachsucht? Wo war das hin? Dann musste ich das übernehmen.
»Jenny«, hauchte Dean, was mich ankotzte. Was für ein Heuchler er war. Genau wie seine Ungezieferfreunde. Sie waren allesamt heiß, aber sie waren nur Insekten.
»Lass gut sein, Dean. Es ist vorbei.«
Da hob diese Schabe auch noch einen Mundwinkel. Fand der das etwa lustig? Ich nicht! Dieses Gefasel hörte ich mir nicht länger an, also drehte ich mich auf dem Absatz um und ging. Natürlich nicht, ohne die Tür hinter mir laut zuzuschlagen!