Teil 2
Als Anne das Bräustüberl verlassen hatte, bestellten Bauer Nagel, Fischer Hörwangl und Bootsführer Amend erst eine neue Runde Tegernseer und rückten dann noch ein Stückchen näher zusammen, als sie es sonst schon immer taten.
Nagel, der sich im Gespräch mit Anne eher zurückgehalten hatte, ergriff nun – beinahe im Flüsterton – das Wort: »Und was machen wir jetzt, wo uns sogar schon die Polizei verfolgt? Blasen mir die ganze Sache ab?«
»Ach wo!«, raunte Hörwangl und schob sein Bierglas etwas zur Seite, um sich noch näher zu den Stammtischbrüdern über den schweren, runden Tisch beugen zu können. »Die Frau wollt’ doch bloß wissen, ob mir wissen, warum sich der Ferdl um’bracht hat. Das hat doch nix mit dem Heuschreck zu tun!«
»Aber wir sind jetzt ja bloß noch zu dritt!«, gab Nagel zu bedenken. »Der Ferdl fehlt einfach.«
»Also, dass der Sauhund sich um’bracht hat, ist schon ein Ding!«, brach es jetzt laut aus dem Bootsführer Amend hervor.
»Für unseren Plan ist das ganz gleich«, sagte Hörwangl jetzt mit kämpferischer Stimme. »Die Sache steht doch! Was jetzt kommen muss, das ist der zweite Schlag. Der Kürschner, der Heuschreck, muss endgültig das Fürchten lernen!«
Mit »Kürschner« meinte Hörwangl den Milliardär Alfons Kürschner, der in Deutschland vor allem als Inhaber und Vorstandsvorsitzender der in München ansässigen Private LogicInvest Bank bekannt war. Kürschners Ruf als Unternehmer war tadellos. Das lag auch daran, dass sich der gebürtige Schwabe immer wieder als Mäzen hervorgetan hatte. Dennoch galt der Privatbankier als etwas schrullig, mied er doch – anders als viele andere Big Players der Bankiersszene – die Öffentlichkeit und verzichtete auch darauf, als Aufsichtsrat auf das Geschehen in anderen Großunternehmen Einfluss zu nehmen. Dass Kürschner einmal in der Klatschspalte eines Boulevardblatts auftauchen könnte, war praktisch undenkbar, die Welt der Paparazzi war nicht die seine, Interviews gab er nie. Der Traditionsunternehmer, der aus einem kleinen Wollverarbeitungsbetrieb, den er von seinem Vater geerbt hatte, einen großen Konzern gemacht hatte, konzentrierte sich ganz auf seine eigenen Geschäfte und war damit anscheinend auch gut und sicher ins neue Jahrtausend gefahren.
In Tegernsee wusste jeder, wer Kürschner war, was auch daran lag, dass er vor Jahrzehnten den Grundnerhof in Gmund – direkt an der Ortsgrenze zu Wiessee – gekauft hatte.
Der Grundnerhof war ein großzügiges Anwesen, das relativ nahe an der den See umschlängelnden Straße lag. Dort hatte, neben vielen anderen Persönlichkeiten, der berühmte Quantenphysiker und Nobelpreisträger Max Planck von 1885 an mehr als ein halbes Jahrhundert lang jedes Jahr seinen Urlaub verbracht. Der im Münchner Prominentenvorort Grünwald lebende Kürschner hatte das Haus in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts verhältnismäßig preiswert als Feriendomizil erworben und nach seinen Wünschen umbauen lassen. So sah das auf einer Anhöhe liegende Gebäude, das romantische Ausblicke auf die Gemeinden Gmund, St. Quirin und Tegernsee erlaubte, heute äußerlich beinahe noch aus wie der historische Grundnerhof zu Plancks Zeiten. Im Inneren allerdings hatte Kürschner an nichts gespart: Neben einem topmodernen Schwimmbad mit großzügigem Wellnessbereich hatte er auch jede Menge schwarzen Marmor aus der südchinesischen Provinz Guangxi verbaut und sich zudem Konferenzräume, Büros und mehrere luxuriös ausgestattete Gästesuiten einrichten lassen, die allerdings meist ungenutzt blieben, da der öffentlich respektierte Kürschner privat kaum Freunde hatte. Dass Kürschner regelmäßig mit seinem Privathubschrauber auf einer zu seinem Grund gehörenden Wiese landete, ohne dafür eine Genehmigung zu haben, wurde von den zuständigen Behörden gemäß dem tegernseerischen Lebensmotto vom »leben und leben lassen« geduldet, obwohl es immer wieder Anläufe engagierter Umweltschützer gab, die dem Flugbetrieb auf dem Grundnerhof einen Riegel vorschieben wollten. In den Achtzigerjahren war sogar einmal ein Trupp grüner Aktivisten, der über Nacht Kürschners Helikopterlandeplatz mit Spitzhacken in einen Kartoffelacker hatte verwandeln wollen, von ein paar Wiesseer Bauern, die die Aktion auf dem Nachhauseweg vom Wirtshaus bemerkt hatten, vertrieben worden. Kürschner weilte zu diesem Zeitpunkt gar nicht im Tal, aber die Wiesseer Bauern schlugen aus schlichter Dorfraison und ganz auf eigene Faust die etwas verhungert aussehenden »Körnerfresser« mit ihren schnell herbeigeholten Bulldogs in die Flucht. Hinterher hieß es, dass die Bauern nicht nur wegen der Traktoren eine gewisse Überlegenheit verspürt hätten, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sie vor der kriegerischen Aktion gegen die Jutetaschen-Barfußtänzer gemeinsam mehr als ein Fass Tegernseer zu sich genommen hatten. Wie viele Liter das Fass enthalten hatte, darüber kursierten die unterschiedlichsten Gerüchte. Fakt war, dass fortan niemand mehr etwas daran auszusetzen hatte, dass Kürschner mit seinem Hubschrauber landete, wann immer er wollte.
Die Solidarität mit dem Milliardär rührte daher, dass jeder wusste, dass Kürschner die Renovierung der Wiesseer Kirche finanziert, der Polizei ein repräsentatives Patrouillenboot gestiftet und die Entstehung des Olaf-Gulbransson-Museums gefördert hatte und er zudem regelmäßig allen Kindergärten am Tegernsee kräftige Finanzspritzen gab. Viele dieser Spenden liefen nicht über offizielle Konten, sondern unter der Hand. Wenn es darum ging, Leute gefügig zu machen, unterschied sich Kürschner nicht von Siemens oder anderen Großkonzernen. Ohne Schmiergeld keine großen Geschäfte, so in etwa lautete die Ansicht der meisten deutschen Topmanager, die an den wirklich großen Rädern der Wirtschaft drehten.
Auch Wastl Hörwangl, Klaus Amend, Pius Nagel und Ferdinand Fichtner hatten viele Jahre lang zu den Anhängern Kürschners gezählt – bis eben zu diesem einen Vorfall, weswegen sie nun im Tegernseer Bräustüberl ins Raunen geraten waren.
Anne war direkt vom Bräustüberl zum Kindergarten gejoggt und hatte ihre kranke Tochter abgeholt. Lisa sah blass aus. Ein Griff an ihre Stirn sagte Anne, dass das Mädchen tatsächlich Fieber hatte. Dass die Kindergärtnerin Anne Vorwürfe machte, weil sie so verantwortungslos gewesen war, ein krankes Kind in »ihre Einrichtung« zu schicken, war völlig unnötig. Anne plagte auch so schon ein gewaltig schlechtes Gewissen. Aber was hätte sie denn tun sollen? Bernhard hatte sie nun mal im Stich gelassen, und sie musste in diesem Mordfall weiterkommen. Musste sie? Ja, sie musste.
Als Anne Lisa durch die kleinen Sträßchen Tegernsees nach Hause trug, überlegte sie, ob sie nicht vielleicht einen Tick zu ehrgeizig in ihr neues Leben gestartet war. Anscheinend war es nur sie, die Zugereiste, die es umtrieb, dass Ferdinand Fichtner nicht eines natürlichen Todes gestorben sein könnte. Alle anderen – angefangen bei Annes Chef Nonnenmacher über Fichtners Ehefrau und Söhne bis hin zu seinen Stammtischbrüdern – schienen sich längst mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass Fichtner nicht mehr war und dass er freiwillig aus dem Leben geschieden war. Anne war sich bewusst, dass es auch eine Lebenskunst sein konnte, gewisse Dinge einfach als gegeben zu akzeptieren. Auch spürte sie, dass sie, wollte sie sich hier in dieser Landidylle wohlfühlen, ihr Tempo ein wenig würde zurückfahren müssen. Man lebte hier nach dem Motto »weniger ist mehr«. Außerdem hatte man hier offensichtlich während mehrerer Jahrhunderte entbehrungsreichen Lebens – die Zeit des Reichtums hatte für die Tegernseer erst und zunächst recht zaghaft Anfang des neunzehnten Jahrhunderts mit den Besuchen des bayerischen Königs begonnen – gelernt, sich auch mit unangenehmen Situationen abzufinden. Aber Anne war sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde, ihren Drang, Dinge zu bewegen und Missstände zu beseitigen, auf ein gesünderes Maß zurückzufahren. Natürlich, im Urlaub konnte sie sich schon etwas entspannen. Aber jetzt war das unmöglich, denn sie hatte ja eben erst eine neue Stelle angetreten; und noch roch alles, zumindest für sie, nach einem verdeckten Mord. Da musste sie doch handeln – schon aus ihrer Verantwortung als Polizistin heraus!
Zu Hause hatte sie Lisa gerade erst auf dem Wohnzimmersofa abgelegt, als das Telefon klingelte. Der Anruf, das sah sie auf dem Display, erreichte sie aus der Dienststelle. Anne hatte befürchtet, dass es schon wieder Sepp Kastner sei, doch es war Nonnenmacher, der sie mit befehlshaberischer Stimme dazu aufforderte, erst ihr Kind gesund zu pflegen und dann wieder den Dienst anzutreten. Er habe von seiner Frau, die mit der Leiterin des Kindergartens befreundet sei, gehört, dass Annes Tochter ja wohl ernstlich krank sei, und seine Frau habe ihn dazu aufgefordert, der Frau Loop zu sagen, dass sie nicht in den Dienst kommen solle, weil alles, was heute zu erledigen sei, auch vom Sepp und ihm erledigt werden könne. Und auch morgen sei noch ein Tag, also das meine jedenfalls seine Frau.
Anne dankte ihm, kam aber nach dem Auflegen gar nicht dazu, sich intensiver Gedanken darüber zu machen, wie es sein konnte, dass Lisas Krankheitsgeschichte bereits einmal um den halben See gewandert war, weil es erneut klingelte. Dieses Mal zeigte das Display »Nummer unbekannt«.
»Anne Loop?«, meldete sie sich, obwohl sich viele darüber lustig machten, dass sie immer auch ihren Vornamen nannte. Sie fand das nur höflich.
»Ja, hallo, ich bin’s«, sagte die Stimme, und Anne erkannte sofort, dass es ihr Freund war.
»Bernhard, wo bist du? Wie geht’s dir?«
»Ich bin in München.« Bernhard hatte wegen seiner Doktorarbeit noch ein Zimmer in einer WG im Glockenbachviertel. »Ich wollte dir nur mitteilen, dass kein Tumor in meinem Gehirn entdeckt wurde.«
»Na, siehst du, habe ich dir doch gesagt! Du solltest ruhig auch mal auf mich hören!«
»Ja, schon«, meinte Bernhard, »aber jetzt pass auf: Seit ich weiß, dass mit meinem Gehirn alles in Ordnung ist, fühlen sich die Zehen an meinem rechten Fuß so taub an. Und die Muskeln in meinem rechten Bein sind auch irgendwie blockiert. Meinst du, ich hatte vielleicht einen Bandscheibenvorfall? Das könnte schon sein, weil ich doch die schweren Kisten schleppen musste …« Anne verdrehte die Augen, schwieg aber, und Bernhard fuhr fort: »Das müsste man natürlich sofort operieren.«
»Bernhard, ich brauche dich hier!«, antwortete Anne so ruhig wie möglich, doch hatte sie das Gefühl, dass ihre Stimme ein bisschen zitterte. »Lisa hat eine schwere Grippe, ich habe sie trotzdem in den Kindergarten geschickt, aber da war sie nur kurz, weil mich die Leiterin angerufen hat und mir Vorwürfe gemacht hat. Jetzt ist sie bei mir, aber ich muss doch arbeiten. Bernhard, bitte komm wieder zu uns, dann kannst du auf Lisa aufpassen. Ich möchte nicht gleich am Anfang hier dauernd in der Arbeit fehlen.«
»Aber Anne, du weißt doch, dass ein nicht behandelter Bandscheibenvorfall zu einer Querschnittlähmung führen kann. Willst du mich vielleicht bald im Rollstuhl rumschieben?«
»Bernhard, du hast sicher keinen Bandscheibenvorfall. Bitte lass dich jetzt nicht untersuchen, das kostet doch alles nur wieder Geld! Ruf lieber Herrn Doktor Kaul an. Oder fahr zu ihm hin, wenn du sowieso schon in München bist.«
»Du nimmst mich überhaupt nicht ernst«, nölte Bernhard empört, während Lisa rief, dass sie Durst habe und ihr langweilig sei.
»Mist, fluchte Anne. »Bernhard, ich muss jetzt zu Lisa. Mach, was du meinst, aber bitte sag mir immer, wo du bist. Ich mache mir Sorgen. Du hast ja nicht mal dein Handy mitgenommen. Dass du einfach abgehauen bist, ohne zu sagen, wohin, das war nicht fair, ich mache mir wirklich Sorgen …«
»Ich will was trinken!«, schrie Lisa jetzt, und an der Tür klingelte es.
»Verdammt, jetzt läutet’s auch noch, also dann Bernhard, ich muss jetzt …«
Schnell rannte Anne zur Tür, vor der, mit einem Akkubohrer in der Hand, Herr Schimmler stand.
»Grüß Gott. Warten Sie, Herr Schimmler … nein, kommen Sie rein, ich muss Lisa schnell was zu trinken geben, sie ist krank …«
Anne ließ Schimmler stehen und eilte in die Küche, um Sekunden später mit einem Glas Leitungswasser zurückzuhetzen. Schimmler stand mittlerweile an der Schwelle zum Wohnzimmer und schaute etwas verdutzt. Anne musste sich an ihm vorbeidrücken, er roch nach altem Mann.
Als Lisa in großen Schlucken das Wasser trank, trat Herr Schimmler näher und erklärte Anne, dass er heute bei der »Tegernseer Zeitung« für sie so eine Rolle geholt habe, die koste ja nichts, und dass er sie eben vorn an das Gartentor hingeschraubt habe, weil sonst werde die ja immer nass, die Zeitung.
Anne war so durcheinander, dass sie erst, als sie Stunden später zur Mülltonne hinausging, verstand, was Schimmler gemacht hatte.
Jetzt bedankte sie sich nur reflexartig und schaute besorgt auf Lisa. Schimmler machte keine Anstalten zu gehen, sondern betrachtete kritisch die Tür, die zur Terrasse hinausführte. Dann ging er hin, öffnete sie, schloss sie, öffnete sie.
»Die müsst’ man mal neu isolieren, das ist ja ein richtiges Glump, außerdem auch nicht sicher, und wenn ein Fräulein wie Sie hier so allein wohnt, wissen’s, hier in Tegernsee gibt’s schon auch so ein paar Hallodri …«, sagte er in einem Tonfall, dass Anne die Spucke wegblieb. Als sie eben darauf hinweisen wollte, dass sie ja nicht allein sei, sondern es schließlich Bernhard in ihrem Leben gebe, sagte Schimmler: »Ich hol’ schnell mein Werkzeug, dann mach’ ich das für Sie.«
Erneut war Anne zu langsam, um Schimmler in seinem Tatendrang zu bremsen, der wachsame Rentner war schon draußen.
Nachdem Anne die Stammtischbrüder im Tegernseer Bräustüberl zurückgelassen hatte, hatten diese nach einer weiteren Runde Hellem intensiv darüber nachgedacht, wie denn nun dieser zweite Schlag gegen den Heuschreck Kürschner aussehen könnte, nachdem der erste praktisch wirkungslos geblieben war, sah man einmal davon ab, dass der Ferdl sich per Aufhängen aus der Affäre, die man Leben nannte, gezogen hatte. Verschiedenes wurde ins Feld geführt, man erwog sogar eine Geiselnahme unter Einsatz von echten Schusswaffen und Sprengkörpern. Doch erschien dieser Weg den drei Oberländern zu brutal, jedenfalls für den Augenblick. Dass der Tegernseer von Haus aus zunächst einmal ein friedliebender Mensch war, der jedem anderen seine Ruhe lässt, wenn ihm nur auch die seine vergönnt blieb, darüber herrschte auch am Stammtisch Einigkeit.
Eine andere Variante sah vor, Kürschner zu entführen, mit einem langen Seil an einem Boot festzubinden und so lange über den See zu ziehen, bis er die gewünschten Zugeständnisse gemacht hätte. Sollte der alte Sauhund nicht klein beigeben, konnte man ihn an einer der tiefsten Stellen im Wasser aussetzen, dort, wo der See siebzig Meter tief war, und anschließend abwarten, bis der Bazi weich wurde. Diese Methode wurde vor allem von Bootsführer Amend favorisiert, jedoch von Bauer Nagel abgelehnt, der eher wasserscheu war – und das, obwohl seine Familie schon seit zwei Jahrhunderten am See ansässig war. Nach einigem Palaver kamen die drei zu dem Schluss, dass sie vielleicht auch mit milderen Mitteln den Kürschner zum Nachgeben zwingen könnten. Schließlich ging es bei ihm um Peanuts, wie man in seinen Kreisen vermutlich sagte, auch wenn diese Peanuts für andere existenzvernichtend sein konnten.
Das Gespräch mit Anne und das folgende Durchspielen verschiedener Strategien hatte die drei viel Zeit gekostet, weshalb sie sich bereits in der siebten Runde befanden – normalerweise trennte man sich schon nach dem fünften gemeinsamen Bier –, als dem Bootsführer Amend die Lösung einfiel.
»Ich hab’s!«, meinte er, nun schon mit etwas schwerer Zunge. »Wir stellen dem Heuschreck einfach das Wasser ab.«
Die beiden anderen starrten Amend an, als sei er verrückt geworden, wagten es aber nicht, diesen Vorschlag abzulehnen, weil ihnen nichts Besseres einfiel. Da von Hörwangl und Nagel nichts kam, nahm Amend noch einen tiefen Schluck und sagte: »Der Sauhund kommt doch immer aus München daher mit seinem Hubschrauber, manchmal sogar erst am späten Abend und ohne dass es wer weiß, vorher. Ja, was meint’s ihr, wie der schaut, wenn der dann duschen will, und da kommt nix? Mit so etwas rechnet ein Milliardär doch nicht, dass in seinem Haus kein Wasser mehr fließen könnt’!«
»Ja, aber wie sollen wir denn das Wasser vom Haus wegbekommen?«, fragte der Fischer Hörwangl, für den es schon aus beruflichen Gründen eine schreckliche Vorstellung war, ohne Wasser auskommen zu müssen.
»Mir drehen einfach den Haupthahn zu«, schlug Amend vor.
»Und dann ruft der einen von seinen Sklaven an, und der dreht den Hahn wieder auf, und fertig ist die Gaudi«, winkte Hörwangl ab. »Das ist kein rechtes Druckmittel zum Beeindrucken von so einem reichen Sauhund.«
»Da hat der Wastl recht«, stimmte Nagel zu. »Wir müssen ihm schon seine Hauptleitung manipulieren. Am besten an einer Stelle, die wo er oder seine Handlanger nachts nicht so einfach finden. Der soll schon mindestens eine Nacht ohne Wasser sein, der Heuschreck, der gscherde.«
»Da brauchen wir aber einen Fachmann«, befand Wastl Hörwangl, »einen Fachmann unseres Vertrauens.«
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die drei sich darüber einig waren, wen sie mit dieser äußerst diffizilen Aufgabe betrauen wollten.
Der Leiter der Polizeiinspektion Bad Wiessee, Kurt Nonnenmacher, wunderte sich dieser Tage immer mehr über sich selbst: Warum hatte er diesen saudummen Selbstmordfall nicht, wie es Vorschrift war, an die Kripo gemeldet? Dann wäre er diese ganzen Scherereien jetzt los. Ob er jetzt noch eine Meldung absetzen sollte? Wie aber würden die Kollegen von der Miesbacher Kripo reagieren? Zwar hatte er keine großen Ambitionen mehr, denn mit dem angesehenen Amt, das er als Polizeichef bekleidete, war er höchst zufrieden. Aber natürlich stärkte es nicht gerade den Zusammenhalt, mithin die gegenseitige Kollegialität und das Vertrauen, wenn ruchbar wurde, dass man hier am Tegernsee mutwillig die Dienstvorschriften umging und eigensinnige Extratouren fuhr. Die Akte Fichtner hatte er, seit die Neue wegen ihres kranken Kindes und des schwächlichen Lebensgefährten zu Hause geblieben war, auf seinem Tisch deponiert und immer wieder darin geblättert. Die Fotos waren schon sehr merkwürdig, da hatte die Loop recht. Hatte der Ferdl wirklich ein geheimes Sexleben geführt, bei dem die Hosenträger zwischen den Beinen eine Rolle spielten? Der Ferdl, der immer dabei war, wenn man ihn brauchte, ganz gleich, ob es bei der Feuerwehr, beim Trachtenverein oder beim Männerchor war? Konnte er, Nonnenmacher, es wagen, Ferdls Frau zu seinen, Ferdls, Sexdingen zu befragen? Zum Beispiel, ob ihr Mann bisweilen mit merkwürdigen erotischen Wünschen an sie herangetreten war? Nein, das konnte er unmöglich. Dass ein Mann, dazu noch ein Bekannter der Familie, einer Frau und Witwe eine solche Frage stellte, das war delikat, das war genau genommen undenkbar! Solche Ermittlungen sollte schon lieber die Loop übernehmen. Letztlich war sie ja auch schuld, dass man es jetzt mit einem Mord zu tun hatte. Allerdings sprach schon einiges dafür. Auch wenn Nonnenmacher es nicht einmal sich selbst eingestehen wollte: Die Sache mit dem Seil, die die Loop herausgefunden hatte, konnte man nicht so leicht übergehen. Dass der knauserige Fichtner sich ein neues Seil gekauft hatte, um sich daran aufzuhängen, wo er doch genügend Kälberstricke hatte, also das war wirklich abwegig. Man musste also annehmen, dass da ein Fremder Hand angelegt hatte. Aber wer? Wer konnte ein Interesse daran haben, den Fichtner umzubringen – und dann das Ganze auch noch als Selbstmord zu tarnen? Und warum der Hosenträger? Sacklzement!
In Nonnenmachers Sinnieren hinein platzte Sepp Kastner, der seinen Chef mit »Griaß di, Kurt« aus seinen Gedanken riss.
»Morgen«, antwortete Nonnenmacher grummelig. »Was gibt’s?«
»Ach nix«, sagte Kastner, druckste aber so merkwürdig herum, dass Nonnenmacher gleich klar war, dass Kastner etwas wollte.
»Ich merk’ doch, dass was ist«, setzte Nonnenmacher deshalb knurrig nach.
»Ja, also, ich dacht’ mir, du bist doch verheiratet.«
Nonnenmacher schaute ihn entsetzt an. »Ja? Und? Soll ich mich scheiden lassen?«
»Nein nein, im Gegenteil. Ich meine, wenn du verheiratet bist, dann hast du natürlich auch Erfahrung in so Dingen …«
»In was für Dingen?«
»Ja halt, was mich interessieren tät’: Wie hast du eigentlich deine Frau … wie soll ich sagen … rumgekriegt?«
Diese Frage, verbunden mit Kastners unsicher-dümmlichem Gesichtsausdruck, führte bei Nonnenmacher zu einem gewaltigen Heiterkeitsausbruch. Der Sepp war doch schon eine ganz besondere Nummer! War er also immer noch hinter dieser Tegernsee-Angelina her!
»Was lachst jetzt so?«, fragte Kastner noch verunsicherter.
»Dass du immer noch nicht kapiert hast, dass die Loop in festen Händen ist und außerdem für dich einfach zu schön, um wahr zu sein …«
Kastner schüttelte den Kopf: »Die braucht eine Stütze, da bin ich ganz sicher. Gerade jetzt: ’s Kind ist krank, der Freund stirbt wahrscheinlich bald, sie hat einen Mordfall am Hals … da braucht man auch einmal eine starke Schulter, an die man sich lehnen kann.«
»Und die hast du, die starke Schulter?«, tönte Nonnenmacher und bekam gleich noch einen Lachanfall. »Welche ist’s denn, wenn ich fragen darf, die rechte oder die linke, hahaha?« Dann besann er sich aber der Tatsache, dass er den Sepp Kastner als Kollegen und auch schon fast als Freund sehr schätzte, denn der Sepp war vielleicht keine Leuchte, dafür aber zuverlässig, ehrlich und fleißig. Es war also besser, ihm dabei zu helfen, das schlimmste Liebesunglück zu verhindern, anstatt ihn auszulachen und ins Verderben rennen zu lassen. Deshalb riss sich der Polizeichef zusammen, was ihm wahrhaft schwerfiel, und meinte: »Spaß beiseite, Sepp, was wolltest du mich fragen?«
»Na ja, wie du damals deine Frau zum ersten Mal … also, wie du es halt geschafft hast?«
»Was? Mit ihr in die Kisten zum springen oder was?«
»Nein nein«, wiegelte Kastner ab, »das doch nicht! Halt wie du zum ersten Mal mit ihr ausgegangen bist.«
Jetzt war es an Nonnenmacher, rot zu werden, denn diese ersten Schritte in der Beziehung zu seiner Frau hatte er im Mottenkasten der Erinnerung versenkt, waren diese doch seinerzeit auch nicht so richtig rund gelaufen.
»Hm«, hüstelte er deshalb, um dann zu schwindeln: »Das war ganz unspektakulär. Früher hat man ja noch gefensterlt, und so hab’ ich das dann halt auch gemacht.«
»Aber so alt bist du doch gar nicht, dass man da noch gefensterlt hätt’«, wandte Kastner ein.
»Ja, das stimmt schon, das war da eher schon so ein bisschen out.« Ganz bewusst verwendete Nonnenmacher »out«, dieses aus seiner Sicht topmoderne Wort.
»Und? Hat’s denn funktioniert?«, fragte Kastner neugierig.
»Joa, im Großen und Ganzen schon«, log Nonnenmacher. Er wollte das Gespräch jetzt abkürzen, um Kastner nicht erzählen zu müssen, wie es wirklich gewesen war, damals. »Das mit dem Fensterln hat ihr dann gefallen, und dann haben wir uns einmal zum Baden verabredet. Da ist dann der Rest passiert.«
»Baden?«, dachte Kastner kurz nach. »Das ist ein guter Einfall! Ich könnt’ ja mit der Anne Loop baden gehen, das ist gut, Kurt, das ist richtig gut!« Und schon war er wieder draußen.
Nonnenmacher schüttelte den Kopf und versuchte, die lästige Erinnerung an das Fensterln zu verdrängen; hatte er doch seinerzeit, auf einer wackeligen Leiter stehend, seine selbst verfassten Liebesgedichte versehentlich vor dem geöffneten Fenster von Helgas verwitweter Urgroßmutter vorgetragen; und war er doch dann, als die Urgroßmutter wegen all des unbeholfen gereimten Süßholzgeraspels hochroten Kopfes im Nachthemd ans Fenster getreten war, vor Schreck von der Leiter gefallen. Die Landung war in jeder Hinsicht schmerzhaft gewesen und hatte Nonnenmacher ein halbes Jahr Krankenhaus eingebracht. Immerhin hatte das Fensterln damals seinen Sinn erfüllt, denn seine Zukünftige hatte ihn im Krankenhaus besucht, und als Nonnenmacher wieder geheilt war, waren sie tatsächlich zusammen an eine geheime Badestelle gegangen, die sie noch immer gelegentlich nutzten, und einander nähergekommen. Aber das alles war Nonnenmacher erstens peinlich, und zweitens brauchte Kastner es nicht zu erfahren, denn dann wüsste es bald die halbe Inspektion.
Da die Anzahl vertrauenswürdiger Menschen in Tegernsee, die in dem Bereich »Gas, Wasser, Scheiße«, wie der Volksmund sagte, über den Ruf eines Fachmanns verfügten, begrenzt war, fiel die Wahl des Trios Hörwangl, Amend und Nagel sehr bald auf Sigi Großmann. Der Sanitärinstallateur schuldete Amend ohnehin noch einen Gefallen, denn der Bootsführer hatte eigens für Großmanns Hochzeit mit dem italienischen Fotomodell Rita Ciampolini vor zwei Jahren auf eigene Kappe und ohne Genehmigung seiner Vorgesetzten von der Bayerischen Seenschifffahrt das Schiff »Tegernsee« nachts um zwölf in Betrieb genommen, um die gesamte Hochzeitsgesellschaft zu einer Rundfahrt unter klarstem Sternenhimmel zu entführen. Ganz gleich, wohin die Hochzeitsgäste in dieser Nacht geschaut hatten, überall hatten sie die sanften Silhouetten der umliegenden Berggipfel gesehen. Kein Wunder, dass es viel waren, die den Sigi Großmann um diese einzigartige Vermählung beneideten – und das nicht nur wegen des »italienischen Superweibs« (wie man Rita Ciampolini am Tegernsee nun nannte), das Großmann erobert hatte.
Amend freilich hatte danach eine Menge Ärger bekommen – auch, weil er nicht ganz nüchtern am Steuerrad gestanden hatte, was man sogar vom Ufer aus an den Schlangenlinien des von ihm gelenkten Schiffes hatte erkennen können –, und es war sogar erwogen worden, ihm den Bootsführerschein zu entziehen. Doch weil er schon in der vierten Generation Bootsführer war und sich weder er noch sein Vater, sein Großvater oder Urgroßvater je im Dienst etwas hatten zuschulden kommen lassen, hatte man beschlossen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Amend hatte nicht einmal den Sprit ersetzen müssen. Offiziell wurde sein Vorgehen natürlich verurteilt, doch an den Stammtischen rund um den Tegernsee war man sich einig, dass der Amend schon »a Hund is« und letztlich jeder gerne dem Sanitärinstallateur Sigi Großmann diesen Gefallen getan hätte. Zum einen grenzte es schier an ein Wunder, dass ein normaler Tegernseer Bub diese rassige Rita aus Siena klargemacht hatte, die von ihren unübersehbaren körperlichen Vorzügen her gut und gerne auch mit einem Dieter Bohlen, einem Lothar Matthäus oder einem Boris Becker hätte durchbrennen können; zum anderen wollte man es nicht immer nur den zugereisten Großkopferten überlassen, spektakuläre Feste am Tegernsee zu feiern.
»Was die Reichen mit ihrem Geld können, können mir mit unserem bayerischen Menschenverstand und dem auf natürliche Weise gewachsenen Zusammenhalt schon lange!«, hatte sogar der sonst eher ruhige Nonnenmacher einmal, erhitzt vom Bier, im Rahmen eines der Gespräche über die Amend-Hochzeit am Stammtisch ausgerufen. Ein bisschen hatte er diesen Ausbruch hinterher bereut, denn natürlich freuten sich die Tegernseer grundsätzlich schon über die Urlauber am See, gerade auch über die Reichen, doch dass dann nur diese Schickimickis das Recht haben sollten, auf den Putz zu hauen, kam nicht infrage – was man aber auch nicht im Bräustüberl herumschreien musste. Aber ein kurzer Blick durch den rumorenden Gastraum sagte Nonnenmacher, dass sowieso keiner von den »Preißn«, wie man die Fremden hier nannte, ganz gleich, aus welchen Teilen Deutschlands nördlich der Donau sie kamen, etwas gehört oder verstanden hatte, dazu waren sie viel zu sehr mit ihren Schweinshax’n und Bierbratln, manche auch mit dem »Salat Vegetarisch« beschäftigt, der, wenn es nach Nonnenmacher ging, nicht auf der Speisekarte hätte stehen müssen, weil: Ein Mann ist ja kein Hase.
Der Amend hatte also beim Großmann noch etwas gut, und so war es ihm ein Leichtes, den Installateur zu einem konspirativen Treffen »wegen einer wichtigen Geheimsache« zu bitten. Die drei hatten es allerdings als sinnvoll erachtet, dieses Treffen nicht im Bräustüberl abzuhalten, denn Großmann gehörte nicht zu ihrem Stammtisch, und das hätte garantiert Gerede gegeben. Also hatte man vereinbart, sich an einem Ort fern des Trubels zu treffen, und zwar oben beim Riedersteinkircherl. Die kleine Kapelle lag noch hinter Galaun und dem gleichnamigen Gasthaus auf einer Höhe von über tausend Metern und wurde von Einheimischen nur zu besonderen Anlässen wie etwa Feiertagen aufgesucht. Da an diesem Tag auch noch die Bergsicht wegen regnerischen Wetters eingeschränkt und die Temperatur kühl war, bestand wenig Gefahr, dass jemand aus dem Tal mitbekommen würde, was der Hörwangl Wastl, der Amend Klaus und der Nagel Pius mit dem Großmann Sigi zu bereden hatten.
Anne war nun schon den dritten Tag nicht im Dienst. Immerhin kam Lisa allmählich wieder auf die Beine. Auch Bernhard hatte sich hin und wieder telefonisch gemeldet. Seine Befürchtungen, einen Gehirntumor zu haben, waren nicht wiedergekehrt, und der von ihm aufgesuchte Orthopäde hatte keine weiteren Symptome gefunden, die auf einen sofort zu operierenden Bandscheibenvorfall hindeuteten. Anne hatte auch bereits mit Bernhards Therapeuten Doktor Kaul gesprochen, doch dieser hatte sich geweigert, von sich aus mit Bernhard Kontakt aufzunehmen, weil, wie er sagte, der Impuls vom Kranken selbst ausgehen müsse. Ebenso ließ er keinen Zweifel daran, dass er glaube, Bernhard sei ernstlich psychisch krank. Er empfahl ihr, den Lebensgefährten so schnell wie möglich dazu zu bewegen, ihn aufzusuchen.
Anne stimmte ihm zu, doch hatte sie keine Ahnung, woher sie auch noch die Zeit nehmen sollte, Bernhard hinterherzurennen. Seit Lisas Geburt fühlte sie sich wie in einem Hamsterrad und wusste oft nicht, was sie zuerst tun sollte: Mit Lisa spielen, aufräumen, waschen oder einkaufen? Es war nicht leicht.
Als sie am Vorabend – Lisa schlief bereits – bei Bernhard in der WG anrief und einer seiner Mitbewohner ihr sagte, Bernhard sei eben mit der einzigen weiblichen WG-Genossin auf ein Bier gegangen, bekam Anne einen Heulkrampf. Das war nun wirklich zu viel! Der Umzug, der neue Job, der Fichtner-Mord, Lisas und Bernhards Krankheiten – und jetzt ging er mit einer aus der WG weg, anstatt hierherzukommen und ihr zur Seite zu stehen! Anne konnte nicht mehr.
Da klingelte es an der Tür.
»Bernhard?«, schoss es der Polizistin durch den Kopf, doch gleich darauf fiel ihr ein, dass er es nicht sein konnte, weil er laut Aussage seines Mitbewohners eben erst in München die Wohnung verlassen hatte. Also wahrscheinlich Herr Schimmler, der wieder etwas reparieren wollte. Auf den hatte Anne nun wirklich keinen Bock. So blieb sie einfach im Wohnzimmer sitzen, kuschelte sich in ihre Decke und verhielt sich still.
Kurz darauf hörte sie auf den Platten, die ums Haus herum zur Terrasse führten, vorsichtig tapsende Schritte. Draußen war es schon dunkel, der See lag still, ein leichter Wind wehte. Anne sah einen Schatten. Wer war das? Sie duckte sich ins Sofa hinein, damit der Schleichende, sollte er durch die Panoramascheibe schauen, sie nicht sehen konnte. Als sie draußen eine Silhouette erblickte, fiel ihr mit Erschrecken ein, dass sie die von Herrn Schimmler in einer dreistündigen Reparaturgroßaktion wieder instand gesetzte Terrassentür nicht verriegelt hatte. Der Unbekannte musste also lediglich gegen die Tür drücken, um diese zu öffnen. Anne überlegte, wo sie ihre Dienstwaffe hatte. Fehlanzeige. Die Heckler & Koch P7 mit ihrem 9u19-mm-Kaliber lag im Nachtkästchen im Schlafzimmer.
Der Mann im Freien schien an seinen Kleidern herumzufummeln. Vor Anne auf dem Tisch lag das Obstmesser, mit dem sie sich eben noch einen Apfel geschnitten hatte. Ihre Tränen waren mittlerweile getrocknet. Jetzt ging der Fremde zur Terrassentür und drückte sie vorsichtig auf. Demnach hatte er nicht gesehen, dass Anne sich im Wohnzimmer aufhielt. Als der Unbekannte den ersten Schritt ins Wohnzimmer tat, richtete Anne sich blitzschnell auf, riss das Obstmesser an sich, machte zwei Sätze zur Terrassentür, packte den Fremden mit dem einen Arm von hinten am Hals und hielt ihm mit der anderen Hand das Messer an die Kehle.
In dem Moment, in dem der Einbrecher einen gurgelnden Laut von sich gab, wurde Anne klar – komischerweise roch sie es –, dass der Eindringling Sepp Kastner war. Angeekelt stieß sie ihn von sich weg und schrie ihn an: »Bist du bescheuert? Was brichst du hier in mein Haus ein? Ich glaub’, du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank! Ich hätte dich fast umgebracht, du Idiot!«
Kastner stand noch unter Schock und stammelte nur wirres Zeug. Anne ließ sich auf das Sofa fallen, schüttelte den Kopf und meinte erneut: »Du Idiot!«
Kastner schaute sie, blass im Gesicht, an.
»Was willst du?«, fragte Anne aufgebracht.
»Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich wollte dich besuchen, aber dann hat niemand aufgemacht, obwohl Licht gebrannt hat. Da dachte ich, dir wäre etwas zugestoßen. Du hättest ja auch tot im Haus liegen können, oder? Hast du nicht gesagt, dass dein … ähm … Freund, dass der psychisch ein bisschen …« Kastner bewegte seine rechte Hand in einer Scheibenwischerbewegung vor dem Gesicht hin und her.
Anne konnte sich nicht mehr beherrschen. »Ich glaube, du bist nicht ganz dicht! Erst brichst du bei mir ein, dann sagst du mir, dass mein Freund ein Psycho ist …«, sie hielt kurz inne, »… Warum rufst du nicht vorher an, wenn du hier vorbeikommst, verdammte Scheiße?«
»Ich, ich … wollte dich überraschen, und geklingelt habe ich ja«, meinte Kastner hilflos, da er seinen Fehler einsah. »Schau hier, ich hab’ dir was mitgebracht.« Er gab ihr einen kleinen Anhänger. »Das ist der Seegeist vom Tegernsee, das hab’ ich noch vom letzten Advent. Der soll dich schützen.«
Anne schüttelte erneut entrüstet den Kopf.
»Hast du geweint?«, fragte Kastner.
»Nein!«, erwiderte sie unwillig. Natürlich hatte sie geweint. »Was willst du hier?«
»Ich wollt’ dich fragen, ob wir, also wenn’s jetzt dann bald ein bisserl wärmer wird, also da kenn’ ich eine Stelle, die Lisa kann natürlich auch mitkommen … aber …«
»Was jetzt also?«, blaffte Anne ihn an.
»Da kann man baden. Das wollt’ ich dir – euch – zeigen. Dass wir vielleicht einmal zusammen baden gehen könnten, hab’ ich mir gedacht.«
Anne schluckte. Der Sepp war zwar ein Depp, aber irgendwie auch lieb.
Etwas komisch hatte der Großmann Sigi das schon gefunden, dass er bis zum Riedersteinkircherl hinaufsteigen sollte wegen dieser Unterredung, aber der erste April war vorbei, es konnte sich also nicht um einen Scherz handeln, und dass auf den Amend Verlass war, wusste er nicht erst seit dessen selbstlosem Einsatz für seine, Großmanns, Hochzeit.
Die drei anderen saßen schon auf den Stufen vor der Kapelle, als Großmann – bekleidet mit der dunkelblauen Monteurskluft, denn er war ja offiziell im Dienst – den Kreuzweg heraufgekeucht kam.
»Ihr seid’s mir so Schneekönige«, schnaufte der solariumgebräunte Installateur, als er am Riedersteinkircherl ankam. Trotz Nieselwetter hatte er seine coole Sonnenbrille mit den dunklen Gläsern nicht abgenommen, und so glich er mit seinem gepflegten schwarzen Schnurrbart frappant dem Titelhelden der Fernsehserie »Magnum«. Großmann reichte den dreien nacheinander die Hand. »Das muss jetzt aber schon etwas Wichtiges sein, dass ihr mich da mitten in der Woche und während meiner Bereitschaft eine Bergtour machen lasst’s!«
»Es ist auch wichtig«, entgegnete Amend. »Es geht praktisch um unser aller Leben.«
»Um meines auch gleich noch?«, fragte Großmann, der das Ganze nicht so richtig ernst zu nehmen schien.
»Nein, aber um unseres«, meinte Amend ernst. »Eine Leiche haben wir ja schon.«
Sigi Großmann schaute Amend mit großen Augen an: »Habt’s einen um’bracht?« Aber dann besann er sich und fragte ein wenig gestelzt: »Habt’s etwa was mit dem Ferdl seinem Ableben zum tun?«
»Nicht direkt«, übernahm der Fischer Hörwangl das Wort. »Also wenn’s nach uns ging, dann wär’ der Ferdl noch mit dabei.«
»Bei was?«
»Bei unserer Heuschreckenjagd«, erklärte Hörwangl.
»Aha!«, sagte Großmann und nickte übertrieben. Er war sich nun doch nicht mehr so sicher, ob das Vertrauen, das er in Amend und seine Kameraden aus alter Verbundenheit heraus gehabt hatte, nicht vielleicht etwas blind gewesen war.
Doch Hörwangl ließ sich durch die nun misstrauisch gewordene Miene des Sanitärinstallateurs nicht ablenken, sondern fügte geheimnisvoll hinzu: »Wir sind nämlich die Tegernseer Kammerjäger. Man kennt uns noch nicht, aber man wird sich noch vor uns zum fürchten lernen.«
Jetzt war sich Großmann ziemlich sicher, dass die drei nicht mehr alle Fische im Weiher hatten, und sagte unwirsch: »Und wegen so einem Schmarren jagt’s ihr mich den Berg hier rauf? Wegen Heuschrecken? Wo gibt’s denn hier jetzt bitte Heuschrecken, und was hab’ ich damit am Hut?«
»Nicht so laut«, raunte der Bauer Pius Nagel und schob sich seinen Tegernseer Hut aus dem Gesicht. »Keine normalen Heuschrecken, sondern so welche wie aus der Tagesschau. Weißt schon, so Finanzheuschrecken. Auf die haben mir es abgesehen.«
»Ja, da seid’s ihr ja genau die Richtigen«, erwiderte der Sanitärexperte etwas verächtlich. »Wahrscheinlich wollt’s jetzt dem Ackermann und dem Zumwinkel an den Kragen.«
»Ja«, flüsterte Nagel, »nicht schlecht, nicht schlecht, du bist auf dem richtigen Weg, aber bitte nicht so laut. Man könnt’ uns hören.«
»Ich glaub’, ihr habt’s nicht mehr alle. Ich geh’.« Großmann drehte sich um und wollte wieder nach Galaun hinabsteigen, denn für solche Kindereien hatte er nun beileibe keine Zeit – die Arbeit, die anspruchsvolle Gattin, das Solarium.
»Halt, bleib da!«, rief Hörwangl im Aufspringen und bekam Großmann an der Schulter zu fassen. Der riss sich aber los und ging zügig ein paar Schritte weiter in Richtung Tal. Hörwangl eilte ihm hinterher und stellte sich ihm in den Weg, wobei er beinahe über eine Baumwurzel gestolpert wäre. »Jetzt bleib halt da! Um den Kürschner geht’s, den Sauhund!«
Fiel der Name Kürschner am Tegernsee, verfehlte das nie seine Wirkung, und so blieb auch Großmann stehen und fragte neugierig, was denn bitte mit dem Kürschner sei und warum Hörwangl diesen einen Sauhund nenne.
»Jetzt kommst erst einmal zurück, dann erklären wir’s dir«, erwiderte Hörwangl und schob Großmann zurück zu den Stufen der Riedersteinkapelle. Dort drückte er den Installateur auf den obersten Absatz nieder, zog einen Flachmann aus der gestrickten Joppe, schraubte ihn auf, nahm einen Schluck, gab das Fläschchen an die anderen weiter und holte zu einer umfassenden Erklärung aus: Der Milliardär Kürschner, der Heuschreck, der dreckige, habe nämlich im Prinzip nicht nur ihrer dreier Leben verpfuscht, sondern auch das des Fichtner Ferdl. Der habe sich nämlich nur dem Kürschner seinen Machenschaften wegen umgebracht. Großmann guckte zweifelnd, doch Hörwangl ließ sich jetzt nicht mehr verunsichern, der Zug rollte: Der Kürschner habe nämlich eine Bank. Und diese Bank habe einen Aktienfonds gegründet.
»Aufgelegt, heißt das«, warf Amend ein.
»Ja, halt gemacht hat er einen«, so Hörwangl. »Und der Josef Bichler, der für den sauhundigen Kürschner als Finanzberater, also als berufsmäßiger Lügner arbeitet, hat uns, also den Nagel Pius, den Amend Klaus, den Fichtner Ferdl und meine Wenigkeit in diesen ganz und gar niederträchtigen Betrugsfonds hineingeredet, was zur Folge hat, dass wir vier zusammen jetzt eine Million verloren haben.«
»Was?«, staunte Großmann. »Eine Million Euro?« Diese Zahl war auch für ihn, der in den Häusern der Reichen und Schönen des Tegernseer Tals ein und aus ging, groß, und er brauchte eine kurze Weile, um sich die vielen Nullen vorzustellen. Dann sagte er: »Ja, wo habt’s denn ihr so viel Geld her?«
»Na ja«, erklärte Hörwangl, »eine Million geteilt durch vier macht nach Adam Riese Zweihundertfünfzigtausend. Jeder von uns hat halt alles, was er gehabt hat, dem Bichler, also dem Kürschner, in den Rachen geworfen. Außerdem haben mir teilweise Wald verpfändet, Schulden aufs Haus aufgenommen und und und.« Beim letzten »und« pfefferte Hörwangl einen Tannenzapfen, den er, ohne es zu bemerken, schon die ganze Zeit in seiner Hand gewälzt hatte, gegen eine ein paar Meter entfernt stehende Fichte. Das Tal steckte in dichtem Nebel. Irgendwo im Wald knatterte eine Motorsäge, dann war das Krachen zu hören, als der Baum fiel.
»Aber wenn’s ein Betrug ist, dann könnt’s doch den Bichler und den Kürschner verklagen«, entgegnete Großmann, der schon einmal wegen einer geschäftlichen Schadensersatzsache vor dem Amtsgericht Miesbach eine Aussage gemacht hatte und sich daher auskannte.
»Einen Scheißdreck können wir«, fluchte Nagel. »Weil es offiziell nicht als Betrug gilt, was die Haderlumpen gemacht haben. Die sagen, dass die verreckte Finanzkrise daran schuld ist, wie der Fonds sich entwickelt hat.« Dabei sprach Nagel das »Fonds« nicht französisch aus, sondern so, wie man es schreibt.
»Vielleicht ist das ja auch so«, wandte Großmann ein.
»Gleich wie«, bügelte Nagel den Einwand nieder. »Der Kürschner hat mit seinem Scheißfonds unser Geld verkuhwedelt. Aber selber muss er noch eins haben, er ist ja schließlich Milliardär. Und deswegen wollen wir von ihm jetzt die Million zurück, persönlich!«
»Aber warum habt’s denn überhaupts mitgemacht bei dem Fonds?«
»Weil …«, Nagel dachte nach, suchte den Blick der anderen, zuckte die Schultern, schaute zu der Muttergottes mit dem blauen Umhang, die über die alte Holztür der Kapelle gemalt war, »… weil der Bichler g’sagt hat, dass sich das Geld in diesem Fonds unglaublich schnell vermehrt. Weil es für einen arbeitet, und nicht man für es. Und weil es die Reichen auch so machen. Da haben mir uns gedacht, was die Reichen können, können mir auch.«
Großmann schaute jetzt eher mitleidig drein.
Nagel fügte erklärend hinzu: »Du kennst doch die ganzen Bazi, die bei uns Urlaub machen – der Bichler hat g’sagt, dass die auch bloß so reich sind, weil’s das Geld für sich arbeiten lassen.« Er suchte, um Verständnis ringend, Großmanns Blick. »Also haben wir uns gedacht: Warum sollen jetzt bloß immer wir einfachen Leut’ arbeiten, wo’s das Geld doch allein tun könnt’.«
Anstatt zuzugeben, dass sich das Ganze für ihn ein bisschen dumm anhöre, nickte Großmann nur. Auch er hatte in der Finanzkrise Geld verloren, allerdings nicht in so lebensbedrohlichem Ausmaß wie die drei Bergkameraden, mit denen er an diesem schattigen Tag auf dem Riederstein zusammensaß.
»Und jetzt seid’s bankrott?«
»Ja«, gestand Hörwangl trocken ein. »Aber nicht mehr lange. Weil, wenn du uns hilfst, dann kriegen wir unser Geld zurück.«
»Und was sagt der Bichler, der wo euch den Mist verkauft hat? Warum holt’s euch nicht von dem das Geld zurück?«
»Den haben mir schon in die Zange genommen. Aber der sagt, dass man da nix machen kann, weil in dem Kleingedruckten von den Verträgen drinsteht, dass man alles, was man einsetzt, verlieren kann.«
»Und das soll erlaubt sein? Dass einem das Geld genommen wird und man nix tun kann? Ihr müsstet’s den doch haftbar machen können! Wenn ich jetzt zum Beispiel einem Kunden eine gelumpige Heizung einbau’, dann muss ich ja auch haften.«
»Ja, bei einer Heizung ist das ja klar, aber wir haben ja eben gerade keine Heizung ’kauft, sondern so einen Scheißfonds«, meinte Nagel, der sich immer wieder darüber ärgern musste, dass er nicht einfach auf sein Gefühl gehört hatte, das ihm zugeflüstert hatte, dass das nicht sein konnte, dass nur das Geld arbeitet und man selbst nicht.
»Der Bichler sagt«, erklärte jetzt Amend, »dass man da nix zurückverlangen kann. Er selber würd’s uns ja gern zurückgeben, aber er hat nix.«
»Aber«, fuhr nun Nagel fort, »immerhin hat der windige Hund uns verraten, dass die Bank, die wo unser Geld gestohlen hat, dem Kürschner gehört. Das haben mir ja überhaupt gar nicht gewusst. Und weil der Kürschner zufällig bei uns im Tal wohnt – also wenigstens manchmal, wenn er halt gerade eine Lust verspürt, mit seinem Heli einzuschweben –, sind mir dann auf unseren Plan gekommen …«
»Der wo da lautet«, fiel Hörwangl ihm ins Wort, »nicht vom Bichler holen mir uns unser Geld zurück, der ist nur ein Windbeutel, sondern vom Kürschner, dem Finanzverbrecher und hauptamtlichen Sauhund.«
Großmann nickte nachdenklich, dann fragte er: »Und was hab’ jetzt ich damit zum tun?«
»Du sollst den Kürschner umbringen«, meinte Hörwangl so bierernst, dass Großmanns Gesicht für einen Augenblick zusammenfiel wie ein aus Bierdeckeln aufgetürmtes Kartenhaus, wenn im Bräustüberl die Bedienung mit wehendem Dirndl und acht Krügen in den Händen vorbeirauscht. Doch gleich darauf platzte Hörwangl laut lachend los, und seine zwei Freunde, Bootsführer Amend und Bauer Nagel, stimmten ein. Doch Hörwangl fing sich schnell wieder, weil die Sache schließlich ernst war. Und während er dem Großmann den Flachmann reichte, stellte er klar: »Natürlich wollen mir den Kürschner nicht umbringen, auch wenn er’s verdient hätt’. Mir wollen nur sein Geld. Es geht um einen letzten Warnschuss. Damit er endlich die Million herausrückt und mir wieder so leben können wie vor dem Finanzdebakel. Mir sind ja keine Verbrecher. Mir wollen bloß unser Recht. Das ist alles.«
»Und was hab’ ich damit zu tun?«, fragte Großmann erneut, dem allmählich dämmerte, dass er die drei ernst nehmen musste. Ihrem ganzen Auftreten nach schienen sie dazu bereit, ziemlich weit zu gehen. Und er schien dabei eine nicht unbedeutende Rolle zu spielen. Weshalb sonst hätten sie ihn hier bei diesem Beerdigungswetter auf über tausendzweihundert Höhenmeter hochgehetzt? Es musste sich um eine Art Masterplan handeln. Großmann lächelte, dafür hatte er ein Faible.
»Wir wollen dem Kürschner das Wasser abstellen. Und deswegen bist du unser Mann.« Hörwangl lächelte dem Installateur zu. Damit ihn Großmann nicht wieder mit irgendwelchen Bedenken oder blöden Nachfragen aufhalten konnte, sprach er rasch weiter. »Wir haben nämlich beschlossen, dass wir die Schlinge um den Hals vom Kürschner langsam zuziehen – langsam, langsam, langsam, bis er kaum mehr atmen kann. Und dann – zack«, der Fischer fuhr mit der flachen Hand durch die Luft wie ein Karatekämpfer, »wird er seine Schuld einsehen.« Hörwangl warf einen prophetischen Blick zu den Baumwipfeln hinauf, er fühlte sich gerade bärenstark und unglaublich schlau.
»Jetzt fragst du dich, warum machen die Kammerjäger das nicht mit einem Knall, sondern langsam, langsam, langsam? Ganz einfach: Erstens, weil er’s sich dann vielleicht besser merkt, der Hund, dass man so nicht umgeht mit dem Geld von fremden Menschen, und zweitens, weil er dann Zeit hat, um die Million rüberzuschieben«, fiel Amend jetzt voller Überzeugung ein. »Wir haben ihn nämlich schon einmal dazu aufgefordert, uns die Million zurückzugeben. Aber der hat auf den Brief, den wo wir ihm an die Eingangstür von seinem Grundnerhof hingenagelt haben, bis heute nicht geantwortet.«
»Obwohl da auch Blut drauf war, echtes Blut!«, warf Nagel ein.
»Was für Blut?«, fragte Großmann nun leicht entsetzt.
»Ah, das war bloß Blut von einem Hahn, den wo ich zufällig grad’ geschlachtet hab’. Ich komm’ am Morgen zu den Hühnern ins Gehege, da rutsch’ ich aus, weil’s nass ist vom Regen, und es legt mich hin. Da springt mir plötzlich der Hahn ins Gesicht, Sakrament! Das hat das Sauviech schon einmal gemacht. Aber diesmal hat’s mir gereicht. Ich hab’ ihn gepackt, die Axt g’holt und sofort totgeschlagen. Einen Kopf kürzer.«
»Und das hat gerade gepasst, weil mir an dem Tag dem Kürschner eh den Brief haben in den Briefkasten schmeißen wollen. Da haben mir gedacht: Vielleicht nimmt er uns ernster, wenn mir ihm den Brief an die Tür hinnageln mit Blut und dem Kopf vom Hahn«, erläuterte nun wieder Hörwangl das weitere Vorgehen.
»War aber nicht so«, ergänzte Nagel und klang dabei etwas enttäuscht. »Wobei es um den Hahn nicht schad’ war, den hätt’ ich nicht einmal in einer Suppe essen wollen, den Malefitz.«
»Jedenfalls hat der Kürschner nicht reagiert auf den Brief«, fügte Hörwangl noch hinzu und zuckte ratlos mit den Schultern.
Großmann hatte die ganze Zeit über geduldig zugehört und wusste nicht, ob er lachen oder Angst haben sollte, so verrückt hörte sich die ganze Geschichte für ihn an. Dann wollte er wissen, was die drei denn in dem Brief geschrieben hätten.
»Ja nix Besonderes«, so Amend, »halt dass er uns eine Million schuldet und wir die schleunigst zurückbrauchen wegen unseren Familien. Wir haben ja nicht einmal unseren Frauen was erzählt von der Sache. Das muss der doch verstehen, auch wenn er ein Milliardär ist! Uns steht das Wasser bis zum Hals, Sacklzement!«
»Und wie soll er wissen, wem er das Geld zahlen soll?«, fragte Großmann ungläubig.
»Ja, das steht natürlich auch in dem Brief. Mir haben den natürlich unterschrieben, Bankverbindung, alles steht da drauf!«, sagte Amend kopfschüttelnd ob dieser blöden Frage.
»Der Kürschner weiß also, dass ihr etwas von ihm wollt?«
»Ja natürlich weiß er das!«, rief Amend. »Was hätt’s denn sonst für einen Sinn?«
»Ja, dann werdet’s bald die Polizei am Hals haben wegen Erpressung«, meinte Großmann.
»Ach wo«, winkte Amend ab, »das traut der sich nicht, schließlich hat der ja einen Ruf zu verlieren. Wenn öffentlich wird, dass der Kürschner ein Finanzbetrüger ist, dann ist aber was los im Lande Abraham, da kannst Gift drauf nehmen. Der Kürschner hält dicht!«
»Und jetzt soll ich …«, fing Großmann an, doch Amend unterbrach ihn: »Na, na, langsam, langsam, als Nächstes hat der Pius ihm eine Ladung Mist vor die Haustür gekippt.« Großmann kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Und Amend fuhr fort: »Und wieder keine Reaktion von dem Sauhund!«
»Ihr habt dem Kürschner Mist hingekippt?«
»Jawoll.« Die drei nickten nicht ohne Stolz.
»Wann habt’s denn das gemacht?«
»Natürlich als er nicht da war«, sagte Amend.
»Nachts«, setzte Nagel hinzu.
»Auch wieder in Verbindung mit einem Brief«, so Hörwangl. »In den haben wir hineingeschrieben, dass wir das nächste Mal keinen Mist mehr vor seiner Haustür abladen, sondern …«, Hörwangl machte eine Kunstpause, die ihre Wirkung nicht verfehlte, »… Dynamit.«
»Dynamit?«, fragte Großmann staunend.
»Dynamit«, bestätigten die drei im Chor.
»Aber …«, sagte Großmann.
»… wieder keine Reaktion vom Finanzheuschreck«, vollendete Hörwangl den Satz. »Aber wir lassen nicht locker, das ist sicher. Der kommt uns nicht aus. Dem bleiben wir so lange lästig, bis der seine Schuld begleicht.«
»Und für den nächsten Coup«, sagte nun Amend verschwörerisch, »brauchen wir eben dich als Fachmann für …«
»… Gas, Wasser, Scheiße«, vollendete Hörwangl den Satz.
Dann erklärten sie Großmann, dass er in einer der kommenden Freitag-auf-Samstag-Nächte – welche das sei, stehe ihm frei, wichtig sei nur, dass der Kürschner und seine Bediensteten sicher nicht im Grundnerhof anwesend seien – dem Heuschreck sein Anwesen komplett von der Wasserversorgung abschneiden müsse. Dann würde der Kürschner auch einmal erfahren, wie sich Entbehrung anfühle. Wenn der Plan perfekt klappe, dann würde der Kürschner am Samstag mit seinem Hubschrauber einfliegen und sich zum Beispiel duschen wollen, aber da gäbe es dann halt kein Wasser. Nicht einmal ein Glas Wasser zum Trinken würde er haben. Geschweige denn sein Geschäft in der Toilette hinunterspülen können. Erfahrungsgemäß seien Reiche, so Hörwangl – das wisse er von seiner Frau, die hin und wieder im Hotel Bayern putze –, bei so was wie Wasserentzug sehr empfindlich. Die Reichen würden dann oft ein ganz schönes Theater veranstalten, wenn’s mal ein paar Minuten kein Wasser gäbe. Was die drei ihrem unfreiwilligen Verbündeten, Sigi Großmann, nicht verrieten, war, dass das Wasserabstellen nur einen Teil des Bedrohungsszenarios darstellte, dem sich der Heuschreck Kürschner in dieser dritten Stufe stellen sollte. Natürlich hatten sie sich noch weitere drakonische Maßnahmen ausgedacht, um die Angelegenheit voranzutreiben. Schließlich hatten sie ein klares Ziel vor Augen.
Der Blick der Erzieherin war kritisch: Ob Anne denn wirklich sicher sei, dass Lisa schon wieder so gesund sei, dass sie in den Kindergarten gehen könne? Denn erstens sei es dem Kind ja wohl nicht zuzumuten, dass es vor sich hinleide, und zweitens sei es völlig unverantwortlich, wenn man sein Kind krank in die Einrichtung bringe und damit alle anderen Kinder anstecke. Klar, dass Annes schlechtes Gewissen, das sie ohnehin dauernd plagte, weil sie diesen Weg als alleinerziehende Mutter gewählt hatte, dadurch nicht kleiner wurde. Aber was sollte sie tun?
»Lisa ist wieder gesund«, sagte Anne mit möglichst fester Stimme. Die letzten Tage hatten sie geschlaucht. Bernhard war immer noch nicht zurückgekehrt von seinem Hypochondrietrip, und Anne war sich gar nicht so sicher, ob hinter seinem Münchenaufenthalt nicht noch etwas anderes steckte. »Aber sagen Sie, wäre es möglich, dass ich Lisa heute eine Viertelstunde später hole? Mein Freund ist zurzeit nicht da, und ich kann erst um eins von der Arbeit weg.«
»Tja, das ist schwierig«, antwortete die Erzieherin, »wir haben nicht umsonst unsere Öffnungszeiten, und unsere eigenen Kinder warten auch zu Hause auf uns.«
»Okay«, sagte Anne schnell, »ich krieg’ das schon irgendwie hin.« Sie gab Lisa noch schnell einen Kuss und radelte mit dem Mountainbike um den See. Endlich wieder arbeiten!
Kaum hatte sie in der Dienststelle ihre Jacke aufgehängt, stand Nonnenmacher in ihrem Zimmer und erkundigte sich auffällig vorsichtig nach ihrem Zustand.
»Alles in Ordnung«, sagte Anne knapp.
»Sind Sie sich ganz sicher?«, hakte Nonnenmacher nach.
»Ja«, antwortete Anne nachdrücklich.
Nonnenmacher zögerte kurz und fragte dann noch einmal: »Also, ich meine, ähm, also, sind Sie sich ganz sicher, dass bei Ihnen, äh, alles gut geht?«
»Ja, verdammt noch mal!«, fluchte Anne jetzt. »Was fragen Sie so blöd? Ist irgendwas?«
»Es ist nur«, rückte Nonnenmacher zögerlich heraus, »dass, also, ich habe gehört, dass Ihr Mann, also Freund, dass der abgehauen, also, hähm, nicht da ist …«
»Von wem haben Sie das gehört?«, fragte Anne vorwurfsvoll.
»Man kennt sich halt, man hört halt das eine oder andere, hier im Tal …«
»Hat der Seppi Ihnen was gesagt?«, bohrte Anne nach.
»Der Seppi? Nein, der nicht, wieso meinen Sie?«
Anne erzählte Nonnenmacher, dass Sepp Kastner sie besucht habe und sie ihn beinahe umgebracht hätte, weil sie dachte, er sei ein Einbrecher. Nonnenmacher runzelte die Stirn: »Aber dass Ihr Freund nicht da ist, das stimmt schon, oder?«
»Ja, aber das ist ganz normal, wissen Sie, er ist in München und recherchiert für seine Doktorarbeit.«
»So, so«, sagte Nonnenmacher. »Doktorarbeit, ganz normal.« Und nach einer Pause: »Wissen Sie, wir sind schon daran interessiert, dass unsere Mitarbeiter ein intaktes Privatleben haben, weil sonst können wir selber ja auch nicht gut arbeiten. Also: Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, wenn Sie einen Rat brauchen.«
Woher er wusste, dass Bernhard nicht da war, verriet Nonnenmacher aber nicht. Anne fühlte sich etwas unwohl. Schnell angelte sie ihr Handy aus der Jacke, ging damit auf die Damentoilette und rief die Nummer von Bernhards WG in München an. Eine verschlafene Stimme meldete sich mit: »Ja?«
»Hallo, hier ist Anne, ist Bernhard da?«
»Jaaa«, gähnte die Stimme.
»Kann ich ihn bitte sprechen?«
»Jaaa«, noch ein Gähnen, »einen Moment.«
Anne hörte ein Seufzen, Schritte, Klopfen, das Öffnen einer Tür, und dann: »Ja? Bernhard hier?«
»Bernhard!«, sagte Anne vorwurfsvoll. »Ich bin’s! Wann kommst du endlich wieder? Ich brauche dich hier!«
»Ach«, entgegnete Bernhard und hörte sich dabei wie benommen an, »ich wollte dich sowieso anrufen.«
»Bernhard, wie geht es dir?«
»Es geht.«
»Warum hörst du dich so komisch an?«
»Doktor Kaul hat mir ein Medikament gegeben.« Er gähnte.
»Du warst bei Doktor Kaul?«
»Ja.«
»Was ist das für ein Medikament?«
Er gähnte erneut. »Eines, das entsetzlich müüüde macht.«
»Bernhard, ich brauche dich! Ohne dich funktioniert das hier nicht. Ich muss arbeiten. Du musst dich nachmittags um Lisa kümmern. Wir haben eine Vereinbarung. Wie stellst du dir das vor?«
Bernhard gähnte wieder, sagte aber nichts.
»Du setzt dich jetzt sofort in den Zug und kommst her!«
Nachdem Anne zur Beendigung des Gesprächs die rote Taste gedrückt hatte, sagte sie laut zu sich selbst: »Was bildet der sich eigentlich ein? Wir haben schließlich eine Vereinbarung.«
In diesem Moment hörte sie, dass jemand im Raum vor der Toilettenkabine sein musste, und riss die Tür auf. Es war Sepp Kastner, der da stand. Sein Gesicht glühte tomatenrot.
»Was machst du bitte auf der Damentoilette?«, fuhr sie ihn an.
»Ach, ich, ich wollte nur schauen, ob da noch Papier im Papierbehälter ist«, stammelte er.
Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Also Anne, was ich dir sagen wollte: Also, wenn dein kranker Freund, also wenn der nicht kommen kann, also weil der zu schwach ist, dann ist das nicht schlimm.«
»Nicht schlimm«, wiederholte Anne.
»Ja«, fuhr Kastner fort, »weil ich hätte da eine Lösung für dein Problem.«
»Welches Problem?«
»Na ja, mit deiner Tochter halt.«
»Was ist mit meiner Tochter?«
»Dass sie jemand abholen muss vom Kindergarten.«
»Woher weißt du das?«
»Nun«, Kastner zuckte mit den Schultern, »ich war ja zufällig hier wegen dem Papier und habe gehört, dass die Lisa jemand abholen müsste. Also, die Lösung wäre, dass meine Mutter sie abholt. Ich kann sie gleich anrufen.«
Anne sah Sepp Kastner ungläubig an. Was ging in diesem Mann vor? Er schlich nachts über ihre Terrasse, er verfolgte sie bis in die Damentoilette, und jetzt bot er ihr auch noch an, dass seine Mutter Lisa abholen könne! Was sollte sie nur tun? War er in sie verliebt? Dann hatten sie ein handfestes Problem. Kastner kam für sie als Mann so was von überhaupt nicht infrage – aber sie brauchte tatsächlich Hilfe. Konnte sie es vertreten, sich von Kastner helfen zu lassen, obwohl sie ahnte, dass er sie vermutlich nur ins Bett oder sonst wohin kriegen wollte?
Sepp Kastner riss Anne aus ihren Gedanken. »Ich kann sie gleich anrufen.«
»Wen?«
»Ja meine Mutter halt«, sagte er etwas irritiert.
»Neinneinnein«, erwiderte Anne schnell. »Wir machen das anders: Wir machen früher Mittagspause und holen Lisa ab. Und dann kann sie uns nachmittags bei unseren Ermittlungen unterstützen.« Sepp Kastners verdutzten Gesichtsausdruck sah Anne nicht mehr, weil sie an ihm vorbei auf den Flur stürmte. Sepp blieb in der Damentoilette zurück.
Für einen erfahrenen Meister der Sanitärinstallation wie Sigi Großmann war es ein Leichtes, dem Milliardär Alfons Kürschner das Wasser abzustellen. Nicht einmal die Bitte der drei Kammerjäger Amend, Hörwangl und Nagel, den Grundnerhof wirklich nachhaltig von der Versorgung abzuklemmen, hatte Großmann in Verlegenheit gebracht.
Hörwangl hatte am Freitag bei einer Angestellten Kürschners, die hauptberuflich in der Konditorei Schwaiger arbeitete, unauffällig in Erfahrung gebracht, dass die Aktien siebzig zu dreißig standen, dass Kürschner am Samstag an den Tegernsee kommen werde, dass das Haus aber in der Nacht von Freitag auf Samstag leer stehe.
Daher hatten sich die Kammerjäger mit Großmann um drei Uhr morgens am Ortsschild von Bad Wiessee verabredet. Um möglichst wenig Aufsehen zu erregen, waren Amend, Hörwangl und Großmann sogar mit dem Fahrrad gekommen. Die Nacht war zudem Gott sei Dank etwas neblig. Großmann zeigte sich nur erstaunt, dass Pius Nagel bei dem Treffen fehlte. Auch spürte er, dass an der Begründung, Nagel sei von einer plötzlichen Durchfallkrankheit mit außergewöhnlicher Schubkraft heimgesucht worden, irgendetwas faul war. Aber der Bootsführer und der Fischer blieben bei ihrer Version, und so legten die drei ihre Fahrräder etwas abseits der Straße in die Wiese, um den Rest des Wegs zu Fuß zu bestreiten. Großmann hatte seinen, wie er ihn nannte, »kleinen Notfall-Werkzeugkoffer« mit dabei. Er ging davon aus, dass die abgespeckte Ausrüstung reichen würde.
Was das Quartett bei seiner Planung allerdings vergessen hatte, war, dass gerade in den samstäglichen frühen Morgenstunden ziemlich viele Autos von der Wiesseer Spielbank in Richtung Gmund unterwegs waren – sei es, um sich in einem nahe gelegenen Quartier oder gar in München von der Aufregung, oft auch vom Ärger des Glücksspiels zu erholen. Gerade als sie losgehen wollten, bremste ein schwarzer Audi und kam neben ihnen zu stehen. Aus dem Sportwagen drangen laute Bässe.
»So ein Scheißdreck, die Sissy mit ihrem Freund«, fluchte Hörwangl.
Das Beifahrerfenster wurde geöffnet, und durch den Lärm eines basslastigen Lieds drang die Stimme von Hörwangls Tochter an das Ohr der drei Verschwörer: »Ja Papa, was machst du denn da?«
»Mach du erst einmal den Krach aus!«, schrie Hörwangl unwirsch gegen den Anton aus Tirol an. Die Musik wurde leiser, und Hörwangl sah, dass hinten im Auto noch zwei junge Männer saßen, Sonnenbrillen tragend, was Hörwangl bei dem Nebel als höchst sinnvoll erachtete. Die zwei Brillen prosteten ihm mit Red-Bull-Dosen zu. Er fand, dass seine Tochter bei der Auswahl ihrer Liebhaber weniger auf die PS-Zahl der von ihnen gefahrenen Rennwagen als vielmehr auf Werte wie Ehrlichkeit und Verantwortungsgefühl achten sollte. Bei der Betrachtung der heutigen Jugendlichen gewann er jedoch zunehmend den Eindruck, dass es denen nur noch um sich selbst ging und sie nicht wussten, was »Verantwortung« bedeutete. Für Hörwangl hieß das etwa, dass man auch einmal bei einer Sache mitmachte, die nicht nur einem selbst einen Vorteil einbrachte, sondern letztlich auch dem Rest der Menschheit diente, so wie ebendieser spontane Plan der Tegernseer Stammtischverschwörer. Der Kürschner würde sich nach diesem Denkzettel nämlich zweimal überlegen, ob er noch einmal so einen Betrugsfonds auflegen würde, der ja nur ihn reich, alle anderen aber arm machte.
»Was machst du denn da?«, fragte Sissy erneut.
»Ach nix«, antwortete Hörwangl unsicher.
»Weiß die Mama, dass du nicht daheim bist?«
»Ja, natürlich«, log Hörwangl und spürte, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Wie sollte er diese heimliche Aktion nur seiner Frau erklären, falls sie ihn danach fragte?
»Du, Sissy«, sagte er deshalb möglichst ruhig. »Das ist eine Überraschung für die Mama, die wir da gerade organisieren. Jetzt fahr mal lieber weiter, ich erzähl’s dir dann.«
»Eine Überraschung?«, kiekste Sissy – Hörwangl war sich sicher, dass sie Drogen genommen oder zumindest irgend so ein scheißbuntes Mixgetränk getrunken hatte, wie es sich die Jugendlichen neuerdings immer hineinpfiffen. Ihr Freund und Fahrer spielte derweil am Lautstärkeregler herum, sodass der Anton aus Tirol mal lauter, mal leiser, mal mit mehr Bass, mal mit weniger aus dem Auto waberte.
Amend spähte nervös in Richtung Grundnerhof. Das hatte jetzt gerade noch gefehlt, dass dem Hörwangl seine Tochter hier mitten in der Nacht aufkreuzte! Da war schon was dran, dass dauernd in der Zeitung stand, dass die Leut’ ihre Kinder nicht mehr im Griff hatten.
»Also, jetzt fahrt’s zu!«, drängte Hörwangl. Und weil der Fahrer zwar nichts gehört, aber die wegwerfende Handbewegung gesehen hatte, fuhr er an.
Großmann, Amend und Hörwangl waren nur wenige Meter gegangen, da hörten sie ein Sirren, das schnell näher kam. Hals über Kopf sprangen sie in die zum See hin gelegene Wiese und warfen sich auf den Boden. Sekunden später kam in flottem Tempo ein Radfahrer vorbeigerauscht.
»Ohne Licht!« Hörwangl schüttelte den Kopf.
»Was da passieren kann!«, stimmte Amend zu.
»Sacklzement«, fluchte Großmann, hatte er sich doch aus lauter Eifer, nicht entdeckt zu werden, in eine der ersten Brennnesselkolonien des noch jungen Jahres geworfen. Seine Hände und die linke Gesichtshälfte brannten wie Feuer. Doch Amend und Hörwangl duldeten kein Gejammer, sie hatten heute noch Großes vor, und der Großmann würde seinen Teil der Arbeit ohnehin schnell erledigt haben und wieder nach Hause radeln können.
Aufmunternd sagte Hörwangl deshalb: »Du, da gibt’s ein Wellnesshotel in Gmund, da zahlen die Urlauber neunzig Euro dafür, dass sie eine Ladung Brennnesseln ins Gesicht bekommen. Und du bekommst das Anti-Aging jetzt durch uns sogar kostenlos! Was meinst du, wie das deine Gesichtshaut strafft! Da wird deine rassige Rita aber staunen. ›Deine Haute iste wie eine Popo von Baby!‹, wird sie sagen.«
»Jetzt red nicht so einen Krampf«, knurrte Großmann, spuckte in sein Taschentuch und legte es sich in der Hoffnung auf Kühlung an die glühende Wange. Schlecht gelaunt stapfte er neben den anderen her in Richtung Grundnerhof. Offensichtlich reichte es nicht, dass er seinen Kameraden bei ihren kriminellen Machenschaften half, nein, er musste sich auch noch beleidigen lassen. Und das mitten in der Nacht!
Wenig später lag das große Bauerngut vor ihnen. Vor hundertdreißig Jahren hatte hier der mit einer Körpergröße von 2,35 Meter größte Deutsche seiner Zeit gelebt: Der Riese vom Tegernsee hatte hundertfünfundfünfzig Kilogramm gewogen, war aber bereits in jungen Jahren gestorben. Alle am Tegernsee kannten die unglückliche Geschichte des Thomas Hasler, dessen Größenwachstum man sich damit erklärt hatte, dass er als Neunjähriger von einem Pferd gewaltig gegen den Kopf getreten worden war. Amend malte sich aus, wie es wäre, wenn plötzlich der Wiedergänger des monströsen Giganten vom Tegernsee sich vor ihm aufbaute und ihn in seine riesenhaften Pranken nahm. Schaudernd schüttelte er sich.
Auch das Anwesen sah nachts noch größer aus als bei Tag. Irgendwo klapperte ein Fensterladen. War es der Wind? Oder spielte der kleine Finger des Riesengeists mit dem Holzladen?
Hastig machten sich die drei ans Werk: Erst wuchteten sie mit einem Eisen den Kanaldeckel an der Straße hoch. Dann stieg Großmann mit einer Stirnlampe am Kopf die Leiter hinunter, und Hörwangl reichte ihm den Notfallkoffer hinterher. Jedes Mal, wenn ein Auto angefahren kam, versteckten sich Hörwangl und Amend bei dem kleinen Stall, in dem Kürschner einige Haflinger hielt. Beim dritten Auto wieherten die Pferde, weshalb Amend, nachdem er wieder zum Kanalloch hinübergewechselt war, zu Großmann hinunterrief: »Wie lange brauchst denn noch? Es ist hier ein Verkehr wie in München bei der Oktoberfesteröffnung! Nicht, dass wir noch entdeckt werden.«
»Ich hab’s gleich«, kam es zurück, »die Sau, die klemmt, aber ich hab’s gleich.«
Um 4.15 Uhr war dem Heuschreck Kürschner das Wasser abgestellt. Da würde er erst einmal draufkommen müssen, dass man ihm das Wasser schon im Kanal abgedreht hatte. Sicher würde er die Ursache der Trockenheit erst einmal bei sich im Haus suchen. Sollte er es ruhig mit der Angst bekommen, der Haderlump!
Als Großmann wieder oben war und den Kanaldeckel zugeschoben hatte, bot er den beiden anderen seine Taschenflasche an, doch die winkten zu seiner Überraschung ab.
Natürlich konnte Großmann nicht wissen, dass hiermit erst Teil eins des großen Plans erledigt war. Ihr Kompagnon, der Bauer Pius Nagel, hatte seine erfundene Darmgrippe längst auskuriert und stand mit Traktor samt angehängtem Milchfass bereits vor den Toren Wiessees. Der Kürschner würde schauen, schauen würde der!
Rund fünfzehn Stunden früher hatten Anne und Sepp Kastner Lisa im Kindergarten abgeholt und waren mit ihr zur Metzgerei Walch gefahren, wo Anne drei Leberkässemmeln kaufte.
Kastner, der währenddessen mit Lisa im Streifenwagen blieb, nutzte sofort die Chance, um mit Lisa ins Gespräch zu kommen. »Na, wie gefällt’s dir denn am Tegernsee?«
Keine Antwort. Lisa schaute zum Fenster hinaus, vor dem gerade eine Rotte grau bejackter Seniorinnen und Senioren in Gesundheitsschuhen vorbeitrabte. Vorneweg ein Mann mit einer etwas aus Zeit und Raum fallenden weißen Leinen-Schiebermütze und einer Fliege unter der rot-schwarzen Regenjacke.
»Magst du nicht mit mir reden?«, fasste Kastner freundlich nach. Schließlich musste vor allem auch die Beziehung zur Tochter stimmen, falls es mit der Angelina vom Tegernsee und ihm auf Dauer klappen sollte. Lisa schaute weiter und ohne Regung zum Fenster hinaus.
»Schau mal, da draußen, der Mann mit der Fliege, das ist der Herr Doktor Heißerer«, so Kastner mit seiner dümmsten Duzi-duzi-Stimme. »Der geht mit den Menschen spazieren und zeigt ihnen, wo hier einmal berühmte Menschen gewohnt haben, also berühmte Schriftsteller, glaube ich.«
Lisa regte sich noch immer nicht.
»Hast du auch ein Buch?«, wollte Kastner wissen.
»Nein, ein ganzes Regal voll«, antwortete Lisa patzig.
»Mei, so was«, spielte Kastner sehr schlecht den Beeindruckten, »auch so schöne Bücherl mit bunten Bilderln drinnen?«
»Nein, die ganzen Kinderbücher haben wir schon alle im Antiquariat im Internet verkauft«, entgegnete Lisa eiskalt und in reinstem Hochdeutsch. »Wir lesen jetzt nur noch Bücher ohne Bilder. Astrid Lindgren, Michael Ende, Otfried Preußler, so heißen meine Lieblingsschriftsteller. Aber auch von Salman Rushdie habe ich schon was gelesen.«
Kastner war baff. Konnte die Kleine etwa schon lesen oder was? Die kam doch erst in die Schule! Er beschloss, die Tochter seiner zukünftigen Ehefrau erst einmal in Ruhe zu lassen. Ganz offensichtlich würde ihm die Eroberung des Mädchens noch schwerer fallen als die seiner Mutter. Während Kastner diesen Gedanken nachhing, öffnete die Frau, die er so sehr begehrte, die Wagentür und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
»Essen wir hier im Auto?«, fragte Kastner.
»Hast du einen anderen Vorschlag?« Anne sah ihn interessiert an.
»Wir könnten uns an die Seestraße in Rottach-Egern setzen, da ist’s schön.«
»Ja gut, dann machen wir das doch.«
Ein paar Minuten später saßen sie auf einer Bank mit Seeblick, und Kastner schwärmte vom Pferdefestzug am Rosstag im August. Anne hörte nur halb zu, in Gedanken war sie bei Bernhard. Allmählich fühlte sie sich ganz schön von ihm hängen gelassen. Da konnte sie sich noch so oft sagen, dass Bernhard gerade wieder unter seiner Krankheit litt und er deshalb nicht der »wahre« Bernhard war, den sie liebte – ihre massive Enttäuschung ging davon auch nicht weg. Bernhards Verhalten erschütterte ihren Glauben daran, dass das Leben unter dem Strich etwas Gutes war, ein Grundvertrauen, das sie sich in den vergangenen Jahren erst mühevoll wieder hatte aufbauen müssen.
»Habt’s ihr eigentlich ein Dirndl?«, fragte Kastner jetzt.
»Nein«, antworteten Lisa und Anne beinahe gleichzeitig.
»Ihr tätet’s aber gut drin ausschauen, glaub’ ich.« Kastner sah Anne, die zwischen ihm und Lisa saß, mit Kennermiene an. »Weißt schon, dass deine Mutter die schönste Frau vom ganzen Tegernsee ist, oder?«
Lisa blickte ihre Mutter an und schnitt eine Grimasse, die Kastner nicht sehen konnte. Anne lächelte und meinte zu ihr: »Für dich bin ich einfach nur die Mama, oder?«
Ihre Tochter nickte. »Aber ich hätte gern ein Dirndl. Alle Mädchen im Kindergarten haben eins.«
»Ja, das wär’ doch was!«, stieg Kastner euphorisiert ein. »Als echte Tegernseerin braucht die Lisa natürlich ein Dirndl. Da gehen wir jetzt gleich zur Probst Fanny, die ist nämlich die Dirndlschneiderin hier. Und die macht dir dann ein fesches Gewand. Und deiner Mutter auch. Mei, da werdet’s ihr aber fesch aussehen.«
»Seppi, wir werden jetzt nicht zur Probst Fanny gehen. Wir sind nämlich gerade im Dienst und sollten schnellstens zusehen, dass wir den Mörder von Ferdinand Fichtner finden. Der Nonnenmacher hat heute schon wieder einen Anruf vom Bürgermeister bekommen.«
»Und, was wollt’ der Bürgermeister?«
»Er wollte wissen, ob etwas an dem Gerücht dran ist, dass wir in Sachen Fichtner einen Mord nicht mehr ausschließen.«
»Was die Leut’ alles reden …«, so Kastner sinnierend, bevor er fortfuhr: »Und was sollen wir da jetzt noch machen?«
»Wir schauen uns den Tatort noch einmal an.«
»Und die Lisa?«
»Die Lisa, die kommt einfach mit.«
Sie standen auf und liefen vorbei an den Bronzeskulpturen von Ludwig Thoma, Leo Slezak und Ludwig Ganghofer zurück zum Streifenwagen, den sie bei der Leo-Slezak-Straße abgestellt hatten. Auf dem Weg grüßte Sepp Kastner jeden dritten Passanten, auch diejenigen, die ihn nicht grüßen wollten, und die meisten schauten erstaunt auf seine Begleitung. Eine Frau in Tracht rief ihm sogar hinterher, wer denn die Schönheit mit Kind sei, die er da festgenommen habe, oder ob er nun unter die Familienväter gegangen sei. Kastner, der nicht besonders schlagfertig war, machte nur eine hilflose Handbewegung und wurde rot. Insgeheim genoss er es aber wie der Gockel in einem Stall voller Hühner, an der Seite der langhaarigen jungen Frau mit den vollen Lippen und ihrer ansehnlichen Tochter durch sein Revier zu stolzieren. Dass die Tochter ein Saufratz war, konnte man von außen ja nicht gleich erkennen.
Im Weitergehen erklärte er seinen beiden Begleiterinnen, voller Stolz über sein Wissen, dass es sich bei diesem Leo Slezak, an dessen Figur sie eben vorbeispaziert waren, um einen der bedeutendsten Operettenkünstler des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts gehandelt habe. Dies, obwohl Slezak eigentlich nur ein einfacher Gärtnerlehrling und Maschinenschlosser gewesen sei. Dann aber sei er als Statist entdeckt worden, und schon sei es losgegangen mit der großen Karriere, die ihn bis an die Berliner Hofoper, nach New York und sogar ins Filmgeschäft geführt habe. Wenn man sich diesen Lebenslauf so anschaue, meinte Kastner, dann sei es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass auch er, der er letztlich ja wie Slezak auch nur die Volksschule besucht habe, noch einmal von wem entdeckt würde. Das sei gerade am Tegernsee überhaupt nicht unwahrscheinlich. Schließlich würden hier eine Menge Filme gedreht. Vor einiger Zeit zum Beispiel einer mit dem Wepper Elmar und der Frau Hörbiger. Da habe er, Sepp, sich absichtlich immer wieder in der Nähe des Filmteams herumgetrieben, um entdeckt zu werden. Das hätte vielleicht sogar geklappt, wenn nicht plötzlich einer von den Statisten verschwunden wäre und man einen Polizeieinsatz habe machen müssen.
»Was meinst du mit ›verschwunden‹?«, fragte Anne.
»Der hat den Wepper Elmar als Indianer gedoubelt, und dabei ist er aus dem Kanu gefallen«, erklärte Sepp. »Da hätten’s mal lieber mich den Wepper Elmar spielen lassen. Ich fall’ nicht so leicht aus einem Kanu.«
»Aber du siehst auch nicht aus wie der Elmar Wepper«, wandte Anne ein.
»Dafür hätt’ ich mich schon älter machen lassen«, meinte Sepp großzügig.
»Und was ist dann passiert?«
»Ja, dann war der Mann halt tot«, so der Polizist. »Am nächsten Tag haben’s ihn aus vierzig Metern Tiefe rausgezogen. Nicht schön ausgeschaut hat der, das sag’ ich dir.«
Am Leeberg oben ragte der Baum, an dem der tote Fichtner gehangen hatte, so friedlich in den Himmel, als wäre nie etwas geschehen. Mittlerweile lag der Tod des Bauern fast zwei Wochen zurück. Die Erde um den Baum war vom Tauwetter aufgeweicht. Ob da ein professionelles Kripoteam noch Spuren würde sichern können? Wenn nur Nonnenmacher endlich seine Vorbehalte gegen Öffentlichkeit und die Kripokollegen aus Miesbach aufgeben würde – dann könnten sich die Profis den Tatort noch einmal genau ansehen. Anne ärgerte sich, dass sie sich bei Nonnenmacher in dieser Sache nicht durchgesetzt hatte. Schließlich war der Tatort bei den meisten Verbrechen der Schlüssel zur Aufklärung. Hoch konzentriert untersuchte Anne die Rinde des Todesbaums. Allerdings konnte sie nichts Auffälliges entdecken. Dann betrachtete sie den Boden um den Baum herum, vielleicht lag ja noch irgendwo ein Gegenstand, der einen Hinweis auf das Geschehen geben konnte. Aber da war nichts, nicht einmal eine Zigarettenkippe oder eine Stofffaser. Anne schüttelte enttäuscht den Kopf. Um nicht ganz umsonst da gewesen zu sein, spannte sie ein Absperrband, das sie aus dem Kofferraum des Streifenwagens geholt hatte, in einem Kreis von etwa fünfzehn Metern um die Bäume herum, die den Todesbaum umringten.
»Warum machst du das, Mama?«
»Weil hier jemand gestorben ist und wir noch herausfinden müssen, wie das genau passiert ist.«
»Wo ist jemand gestorben, Mama?«
»An diesem Baum.«
»Wie kann man an einem Baum sterben, Mama?«
»Das wissen wir auch nicht so genau«, wich Anne der Frage ihrer Tochter aus.
»War das ein Räuber?«, wollte Lisa nun wissen.
»Nein, das war kein Räuber, das war ein Bauer.«
»So einer mit Kühen?«
»Ja, so einer mit Kühen und Hühnern und so. Weißt du, das war der Mann von der Frau, die wir vor ein paar Tagen mit Bernhard auf ihrem Bauernhof besucht haben. In der Mühlgasse oben. Da bist du doch mit Bernhard in der nassen Wiese herumgehüpft. Weißt du noch?«
Lisa nickte. »Ja, ich weiß schon. War der Mann schon alt und ist deshalb gestorben … so wie Urgroßvater?«
»Nein, der war nur so mittelalt«, sagte Anne.
»Und warum ist er dann gestorben?«, bohrte Lisa nach.
»Weil er … wir … wissen es nicht genau.«
»Warum muss da die Polizei was untersuchen?«, fragte Lisa weiter. Und ob da normalerweise nicht nur der Arzt komme.
Langsam kam Anne ins Schwitzen. »Weil der Mann vielleicht gar nicht sterben wollte.«
»Also war es doch ein Räuber. Hat ihn ein Räuber geschossen mit seiner Pistole?«
»Erschossen«, verbesserte Anne ihre Tochter. »Nein, kein Räuber mit einer Pistole. Aber es kann sein, dass ein Böser ihm das Leben genommen hat. Vielleicht war er es aber auch selbst.«
»Wie kann man einem das Leben wegnehmen?«, wollte Lisa jetzt erstaunt wissen.
Sepp Kastner hatte das ganze Gespräch ungläubig mitverfolgt, jetzt sagte er ungeduldig: »Er hat sich halt vielleicht aufgehängt, Lisa, jetzt hör’ einmal auf mit dem Fragen!«
Lisa tat so, als wäre Sepp Kastner Luft, und sah ihre Mutter mit großen, neugierigen Augen an. »Wie kann man einem das Leben wegnehmen, wenn man ihn aufhängt, Mama?«
Kastner fand es unerhört, dass eine Fünfjährige die Frechheit besaß, ihn derart unverfroren zu ignorieren. Deshalb sagte er mit rauer Gruselstimme: »Indem man ihm die Schnur so um den Hals legt, dass er keine Luft mehr bekommt.« Dabei griff er mit beiden Händen um Lisas Hals. Lisa entwand sich ihm und fragte ernsthaft: »War das bei dem Mann so, Mama?«
»Vielleicht«, so Anne.
»Darf man das, Mama?«
»Eigentlich nicht, also …«, Anne zögerte, »… es ist so, dass eigentlich jeder Mensch alles tun darf, was er mag, nur darf er damit anderen Menschen nicht schaden. Aber … töten darf man sich eigentlich nicht.«
»Weil es wehtut?« Lisa schaute ihre Mutter fragend an.
»Nein, weil wir Menschen zum Leben da sind und nicht zum Totsein und weil wir alle ja auch von jemandem gemocht werden, der dann traurig ist, wenn ein Mensch stirbt.«
»Hat den Mann keiner gemocht?«
»Doch, ich glaube schon. Er hatte ja auch zwei Söhne und diese Frau, die wir vor Kurzem besucht haben.«
»Ich möchte, dass du immer, immer, immer lebst, Mama.«
»Ja, ich auch, Lisa.« Und zu Sepp Kastner sagte Anne: »Ich glaube, das mit der Absperrung reicht jetzt erst einmal. Lass uns den Rest besprechen, wenn Lisa kommende Woche wieder im Kindergarten ist. Ich glaube, das ist besser so.«
Kastner nickte.
Nonnenmacher staunte nicht schlecht, als er das Trio erblickte, das am Freitagnachmittag in der Polizeidienststelle aufkreuzte. Lisa hopste an Annes Hand durch den Eingangsbereich, hinterher trottete Kastner mit mürrischem Gesichtsausdruck. Anne und Kastner waren in Uniform, Lisa trug ein sommerliches Kleidchen mit Blumenmuster.
»Soso«, sagte der Polizeichef, denn etwas anderes, Passenderes, Konkreteres fiel ihm beim besten Willen nicht ein. Zu Kastner gewandt: »Was schaust so grantig, Seppi?«
»Ach nix«, murrte Kastner.
»Kauft dir unsere neue junge Kommissarin den Schneid ab?« Und von der Kleinen wollte er wissen: »Wie heißt du denn?«
»Lisa.«
Nonnenmacher hielt der Kleinen die Hand hin, aber die rückte ihre nicht heraus, sondern kuschelte sich schüchtern an ihre Mutter und mied seinen Blick.
»Wo kommt’s ihr mit dem Kind jetzt her?«, fragte Nonnenmacher nun.
»Wir waren noch einmal am Tatort«, erwiderte Anne.
»Ihr wisst’s schon, dass wir noch anderes hier zu tun haben, als wie am Leeberg oben spazieren gehen?«
Anne schwieg. Diese Situation kannte sie schon zur Genüge aus ihrer Münchner Zeit: Wenn man als Mutter sein Kind mit in die Arbeit nahm, gingen die Kollegen davon aus, dass man überhaupt nicht oder zumindest nicht richtig arbeite. Dabei hatte man gerade als Alleinerziehende oftmals gar keine andere Wahl, als das Kind mitzunehmen. Man konnte eine Fünfjährige ja schlecht allein zu Hause lassen. Dieses Thema nervte sie maßlos. Natürlich hätte sie Lisa in eine Ganztagsbetreuung geben können. Aber das wollte sie nicht. Anne vertrat immer noch den Standpunkt, dass Kinder am besten bei Mutter und Vater aufgehoben sind – oder eben bei deren Lebensgefährten, wenn sie denn da waren. Wäre sie selbst mehr unter der Obhut ihrer Eltern gestanden, wäre die größte Katastrophe ihres Lebens niemals geschehen. Dessen war sie sich heute sicher. Diese Verletzung, die ihr damals zugefügt worden war, spürte sie jeden Tag, jeden Moment. Aber natürlich war an der aktuellen Situation auch Bernhard schuld. Er hatte Verantwortung übernommen, und sie hatten eine Vereinbarung getroffen. Der ganze Umzugsplan aufs Land basierte auf dieser Abmachung: Bernhard musste präsent sein. Er war es, der nachmittags für Lisa zuständig war. Und da war ihr seine blöde Krankheit letztlich völlig egal. Sie nahm sich vor, Bernhard ein Ultimatum zu stellen. So konnte es nicht weitergehen.
»Mir sind da oben nicht spazieren gegangen, mir haben den Tatort gesichert«, meinte Kastner trotzig. »Mir werden in der Sache ja eh nur weiterkommen, wenn mir die Miesbacher herholen, dass die sich mal den Tatort anschauen.«
»Das werden wir sicher nicht tun«, antwortete Nonnenmacher bestimmt. »Die Miesbacher sollen bleiben, wo sie sind. Wir werden schon noch herausfinden, was passiert ist mit dem Ferdl. Aber auf unsere Art. Mit Ruhe und Gelassenheit.« Während er dies sagte, dachte er mit Grausen an die Betriebsamkeit der Miesbacher – oder, noch schlimmer: der Münchner – Beamten. Wenn die in der Nähe waren, dann wurde es immer gleich ungemütlich. Städter halt, nervös und neunmalklug.
Als Lisa und Anne später an das Gartentürchen ihres Hauses kamen, sahen sie schon, dass ein Mann im Garten stand. Es war nicht Bernhard, sondern Herr Schimmler. Anne hatte den Eindruck, dass es ihm überhaupt nicht unangenehm war, dass Anne ihn in ihrem, also einem für ihn an sich fremden Garten antraf. Vielmehr meinte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: »So, da sind Sie wieder zu Hause. Ich hab’ mich schon gewundert, dass die Lisa gar nicht aus dem Kindergarten kommt. Und wo ist denn der junge Herr von Rothbach? Der ist doch auch schon seit Tagen weg, nicht?«
»Dem geht es nicht gut, der ist im Krankenhaus.«
»So, was hat er denn?«, fragte Schimmler linkisch.
»Das ist etwas komplizierter«, versuchte Anne auszuweichen.
»Komplizierter?«, hakte er nach. »Etwas Seelisches?«
Sie konnte es nicht fassen. Woher wusste Schimmler das?
»Na ja, seine Mutter ist ja auch nicht ganz … und der Vater ist ja eher ein schwacher Mann, wenn man ihn kennt …« Nachdenklich schaute er in Richtung See.
»Was machen Sie eigentlich hier?«, fragte Anne, die diese Aussagen über Bernhards völlig normale Eltern – sein Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen und heute pensioniert – als regelrecht unverschämt empfand und beschlossen hatte, aus der Defensive zu kommen.
»Ach, ich … ich habe nur nach dem Rechten gesehen, gell. Wenn Sie so selten da sind, kann ja jederzeit etwas passieren, nicht wahr. Wir haben hier ja eine noble Wohnlage, Malerwinkel, etceterapepe, da kann schon wer auf dumme Gedanken kommen.«
Anne beschloss, ihn einfach stehen zu lassen, letztlich war es ja auch egal, ob er nun in ihrem Garten herumstand oder nicht. Doch als sie sich abwandte, sagte Schimmler: »Wir haben ja jetzt noch eine neue Nachbarin, gell.«
Anne zuckte mit den Schultern.
»Das ist eine!«, fuhr Schimmler fort.
Anne sah ihn abwartend an.
»Das müssen’s sich mal vorstellen: Gestern lag die den ganzen Nachmittag im Garten, dass man’s von der Straße her sehen konnte. Und jetzt raten’s mal, was die anhatte!«
Anne zuckte mit den Schultern.
»Einen Tanga!«
»Na und?«, so Anne.
»Ja nix ›na und‹, das ist eine richtig fette Pflunzen! Wie das aussah! Das müssen Sie sich einmal anschauen! Also, ich hab’ ja nicht hingeschaut, aber meine Frau hat es gesagt … Im Tanga lag die fette Pflunzen im Garten!«
Anne wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.
»Ich mein’, ich tät’ ja nix sagen, wenn eine Person wie Sie im Garten liegen tät’. Aber so eine fette Pflunzen! Unmöglich! Das ist ja … Umweltverschmutzung!«
Anne nahm Lisa an der Hand und sagte: »Komm, wir packen unsere Sachen und fahren nach München.«
»Nein, halt, jetzt warten Sie, ich bin noch nicht fertig«, bremste Schimmler sie aus: »Jetzt raten Sie mal, was die Pflunzen auf ihre Wäscheleine gehängt hat. Raten Sie!«
Wieder zuckte Anne ratlos die Schultern.
»Schlüpfer, BHs, Seidenstrümpfe, da hat man alles gesehen! Was meinen Sie, wie meine Frau da g’schaut hat!«
Anne ließ Schimmler einfach stehen. Dennoch hörte sie noch, wie er ihr hinterherrief: »Ja also, wenn Sie dann in München sind, schau ich hier nach dem Rechten, gell. Sind’s lange weg?«
Die Frage blieb unbeantwortet.
Da Lisa auf der Fahrt nach München eine CD anhörte und Anne diese längst auswendig konnte, hatte sie den Kopf frei, um über sich und Bernhard nachzudenken. Ganz bewusst hatte sie ihm ihren Besuch nicht angekündigt. Wenn er mit einer anderen im Bett liegen sollte, wäre es sowieso aus. Solche Spielchen waren mit ihr nicht zu machen. No way. Dann würde sie auch sofort aus dem Haus seiner Eltern ausziehen und sich wieder nach München versetzen lassen. Jetzt konnte sie noch die Notbremse ziehen. Lisa war noch nicht eingeschult, Anne musste sie nirgendwo herausreißen.
Klar war auch: Wenn keine andere Frau im Spiel war, sondern es wirklich nur um seine Krankheit ging, würde sie ihn nach Hause holen, jetzt sofort, ganz gleich, ob er behauptete, krank zu sein oder nicht. So konnte es nicht weitergehen. Seine irrationalen Ängste machten sie wahnsinnig. Gab es denn kein Medikament, mit dem man diesen hypochondrischen Schüben Einhalt gebieten konnte?
Die letzten Telefonate mit ihm hatten zudem ein tiefes Misstrauen in ihr geweckt: Was, wenn er ihr das alles nur vorspielte? Konnte er krank sein, wenn er gleichzeitig mit einer WG-Mitbewohnerin abends ausging? Warum ging er dann nicht mit ihr, Anne, aus? Warum ließ er sie so hängen? Sie brauchte ihn. Allein seine Anwesenheit entlastete sie bereits. War das so schwer zu begreifen?
Die Autofahrt war im Nu vorbei. Zudem hatte Anne Glück. Sie fand einen Parkplatz beinahe direkt vor dem Haus. Bernhard wohnte in einer Straße am Glockenbach-Spielplatz. Doch da es schon nach acht Uhr war, hatten alle Mütter ihre kleinen Kinder bereits in die viel zu kleinen Stadtwohnungen verräumt. Seit das Viertel einen in Deutschland einzigartigen Babyboom erlebte, gab es in diesem Teil der Stadt keine bezahlbaren Vierzimmerwohnungen mehr.
»Du kannst morgen rüber zum Spielen, Lisa«, tröstete Anne ihre Tochter, als sie ihren sehnsüchtigen Blick in Richtung Spielplatz bemerkte. Das war wohl wirklich eine der wenigen Sachen, die Lisa auf dem Land fehlte: ein großer Kinderspielplatz, auf dem sich alle Kinder des Viertels trafen. Im Tegernseer Tal hatte fast jede Familie einen eigenen Garten mit Rutsche, Sandkasten und Klettergerüst. Da war ein öffentlicher Treffpunkt zum Spielen überflüssig, jedenfalls für die Einheimischen.
Als Anne die drei Stockwerke hinauf zu Bernhards Wohnung stieg, spürte sie, wie ihr Herz immer schneller klopfte. Was, wenn eine andere in seinem Bett lag? Was, wenn eine andere nur bei ihm im Zimmer herumsaß? Wie würde sie sich verhalten? Ihre Phantasie lieferte ihr Szenarien in den verschiedensten Schrecklichkeitsabstufungen. Eigentlich wollte Anne das gar nicht, hier, jetzt, die Wahrheit. Hätte sie doch vorher anrufen sollen? Um ihm eine Chance zu geben, heil aus der Sache herauszukommen? Nein. Bernhard war erwachsen. Sie lebten eine reife Beziehung. Bernhard musste die Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Wenn er fremdging, musste er die Konsequenz ertragen. Aber womit begann Fremdgehen? Wenn jetzt nur eine Frau in seinem Zimmer säße und er behauptete, sie sei eine Kommilitonin aus dem Doktorandenseminar? Was sollte sie da sagen? Was sollte sie glauben?
Anne zitterte, als sie den Schlüssel ins Schloss schob. In der Wohnung roch es nach frisch gekochtem Essen – Anne tippte auf Tomatensoße mit frischen Kräutern, gekochte Nudeln glaubte sie auch zu riechen. In der Küche saß eine hübsche junge Frau, die sie nicht kannte. Ihre Schuhe mit den hohen Absätzen lagen neben dem Tisch. Ihre nackten Füße hatte sie auf einen anderen Stuhl gestellt. Anne konnte unter dem hochgerutschten Rock ihren Slip sehen.
»Hallo«, sagte Anne. »Ist Bernhard da?«
»Ich glaube, der ist in seinem Zimmer«, antwortete die Fremde.
Anne nahm all ihren Mut zusammen und riss, ohne anzuklopfen, die Tür auf. Lisa stand dicht hinter ihr, doch das merkte sie in diesem Augenblick gar nicht. Da saß er, Bernhard, blass, blond, ein bisschen zu wenig Haare für sein Alter, an seinem immer etwas zu klein wirkenden Schreibtisch. Die Schreibtischlampe war an, obwohl es draußen noch hell war. Rechts und links von ihm hohe Bücherstapel. Sein Bett war zerwühlt, aber niemand lag darin. Es lag auch keine Damenunterwäsche herum. Bernhard arbeitete.
»Anne!«, rief Bernhard. Anne glaubte in seiner Stimme, die besorgniserregend matt klang, einen Funken Freude zu hören. Bildete sie sich das ein? »Und Lisa, du auch …« Bernhards Stimme kam aus der Tiefe seines Körpers, als müsste er die Worte erst irgendwo ausgraben, als hätte er lange nichts gesprochen. Er hatte graue Ringe unter den Augen. Aber er war da. Anne fühlte, dass sich Tränen den Weg in ihre Augen bahnten. Bernhard stand auf und nahm sie in die Arme. An der Kraftlosigkeit seines Körpers spürte Anne, dass er traurig war. Es ging ihm nicht gut. Alle ihre Befürchtungen waren Hirngespinste gewesen. Das spürte sie nun ganz deutlich. Bernhard war schwach, und er war froh, dass sie da war. Die Frau in der Küche wartete auf einen anderen. Der hier war einfach nur krank, hilfsbedürftig. Wie hatte sie sich selbst derart ins Bockshorn jagen können?
»Wie geht es dir?«, fragte sie leise. Lisa stand etwas verloren im Raum herum, schämte sich, wie sie es immer tat, wenn Erwachsene sich umarmten. War das nicht komisch, zwei so große Menschen, die einander festhielten?
»Es geht«, antwortete Bernhard matt. »Ich bin ein bisschen einsam, weil ich mich so schlecht fühle, dass ich mich nicht traue …« Der Satz blieb im Nichts hängen.
»… unter die Leute zu gehen?«, vollendete Anne ihn vorsichtig. Bernhard nickte.
»Aber du arbeitest?«
»Ich versuche es. Die Promotion muss ja auch mal …«
Vom Flur her wehte der Geruch des frisch gekochten Essens ins Zimmer. Anne hörte eine Männerstimme, die Frau von vorhin lachte keckernd.
»Hast du etwas gegessen?«, erkundigte sich Anne.
»Nein, das ging nicht. Ich sollte nichts essen, ich habe vielleicht ein Magengeschwür. Ich will das erst untersuchen lassen.«
»Komm, Bernhard, wir gehen jetzt essen! Lisa und ich haben einen riesigen Schnitzelhunger. Wir gehen in den Rumpler.«
»Au ja«, rief Lisa begeistert. Bernhard musste lächeln. Anne zog seine Schuhe unter dem Bett hervor und hielt sie ihm hin.
»Komm mit. Wenn du schon nichts isst – wir Mädels brauchen was.«
Wenig später saßen Bernhard, Anne und Lisa in der benachbarten Augustiner-Gaststätte und waren so mit ihren Schnitzeln beschäftigt, dass sie die abenteuerliche Indoorbiergartendekoration gar nicht wahrnahmen. Auch Bernhard aß – trotz des von ihm vermuteten Magengeschwürs – mit erstaunlichem Appetit. Und das Bier schien ihm ebenfalls zu schmecken. Anne wusste einfach nicht, wie sie mit dieser mysteriösen Krankheit umgehen sollte.
Und sie wusste nicht, dass sich etwa zur selben Zeit vier Tegernseer für einen nächtlichen Einsatz gegen den Milliardär Kürschner wappneten. Ihre Hilfsmittel: ein Notfallwerkzeugkoffer und ein Traktor, ein Jauchefass, gefüllt mit Milch.
Nach dem Essen – Lisa schlief schon tief und fest – wollte Bernhard von ihr wissen, wie es im Fall Fichtner stehe. Anne erklärte ihm den Status quo: dass keine neuen Erkenntnisse vorlägen. Dass sie die zwischenzeitliche Theorie – Tod durch Strangulation mit sexuellen Motiven – für nicht mehr so wahrscheinlich halte. Als Bernhard wissen wollte, wieso, erzählte Anne ihm, dass sie noch einmal am Tatort gewesen seien und dass dieser Ort so rein gar nichts sexuell Stimulierendes verströme, sondern die reine Idylle sei. Aber wenn Fichtner zusätzlich noch ein Exhibitionist gewesen sei?, gab Bernhard zu bedenken. Anne zuckte die Schultern. Und wie sollte diese Sextheorie mit dem verschwundenen Geld in Zusammenhang stehen? Bernhard meinte, dass es durchaus denkbar wäre, dass Fichtner sowohl in einschlägige Bordelle gegangen sei als auch selbst mit seinen exhibitionistischen Phantasien experimentiert habe – in der Natur, vielleicht mit der Erwartung, dass eine Wanderin vorbeikommen und ihn so sehen würde. Der Variantenreichtum sexueller Abartigkeiten sei schließlich unerschöpflich. Anne zog eine Grimasse.
Fast den ganzen nächsten Tag verbrachte die wiedervereinte Familie auf dem Spielplatz. Für Anne fühlte es sich an, als wäre sie nie weg gewesen. Weil Lisa in einem fort spielte und Bernhard schweigend in die Sonne blinzelte, hatte sie Zeit zum Nachdenken: War der Umzug an den Tegernsee der unsinnige Versuch einer Lebensänderung, den sie besser unterlassen hätte? Würde Bernhard wieder normal werden? Hatten andere Leute auch solche Probleme? Hing die Hypochondrie mit ihr zusammen? Und dann die Arbeit: Würde es ihr gelingen, den Fichtner-Fall aufzuklären? Das neue Zuhause: War ihr Nachbar, Herr Schimmler, gerade wieder dabei, ihren Garten umzugestalten? Zwischendurch holte Anne für sich und Bernhard Latte macchiatos im Eltern-Kind-Café und Sandwiches im Bioladen. Sie spürte, wie gut es ihr tat, weg von der Polizeiarbeit, weg von Nonnenmacher und Kastner zu sein – und wenn es nur fünfzig Kilometer waren. Bernhard schien ihre Anwesenheit auch gutzutun, und Anne ärgerte sich gerade darüber, dass sie ihn nicht viel früher aus seinem seelischen Loch befreit hatte, als ihr Handy klingelte. Eine Nummer vom Tegernsee. Sofort fühlte Anne wieder das belastende Stressgefühl der vergangenen Tage.
»Ja?«
»Hallo Anne, hier ist der Seppi.«
»Ja? Und?« Anne konnte es nicht fassen! Konnte dieser Idiot sie nicht einmal am Wochenende in Ruhe lassen?
»Du, Anne, wo bist du denn? Mir haben dich schon gesucht.«
»Seppi, ich habe Wochenende.«
»Ja schon, aber …«
»Nichts aber, ich habe Wochenende, ich habe keinen Dienst, ich habe frei, ich will von euch nichts hören.« Anne war selbst von sich überrascht: Dass sie plötzlich so direkt ihre Ansprüche geltend machen konnte!
»Ja«, druckste Kastner herum, »aber es ist dringend.«
Ob er wieder fragen wolle, ob sie mit ihm baden gehe, entfuhr es Anne sarkastisch, was ihr einen entsetzten Blick Bernhards eintrug.
»Neinnein«, stieß Kastner hervor, »es ist etwas Schlimmes passiert. Und der Kurt will, dass du da bist. Wo bist du denn jetzt?« Er wirkte nervös.
»In München.« Anne hörte Nonnenmacher im Hintergrund schimpfen.
»Ach so, so weit weg!«, meinte Kastner, dann hörte Anne, wie er zu Nonnenmacher sagte: »Sie ist in München. Deshalb ist sie also nicht da. Was machen wir jetzt?« Kurz schwieg er, dann wieder zu Anne: »Ja, wann kommst du denn wieder?«
»Morgen. Was ist denn passiert?«
»Tja, also … der Kürschner ist tot.«
»Und wer ist der Kürschner?«, fragte Anne genervt.
»Das ist ein weltbekannter Milliardär. Der Chef meint, du musst kommen, weil sonst brennt der Himmel.«