Teil 4
Und auf einmal fühlte sich alles an wie Urlaub, dabei war es nur ein freier Nachmittag, den Nonnenmacher seinem Team als Ausgleich für die samstägliche Nachtschicht verordnet hatte. Es war T-Shirt-warm, der Wind zerzauste Annes glänzendes Haar, die Sonne schien ihr auf die vom Winter noch etwas blasse Haut, neben ihr auf dem Sonnendeck saß Lisa und gegenüber Bernhard. Das erste Mal, seit sie ins Tegernseer Tal gezogen waren, hatten sie sich alle drei gemeinsam Karten für eine Rundfahrt mit einem der Tegernseeschiffe gelöst. Am Steg vor dem Tegernseer Rathaus waren sie zugestiegen, und nun ließen sie sich einmal um den ganzen See schippern. Das Wasser schimmerte in den verschiedensten Schattierungen zwischen Grün und Blau, und Lisa hängte ihren Kopf begeistert über die Reling, um nach Fischen Ausschau zu halten.
Einmal mehr fiel Anne auf, wie groß ihre Tochter geworden war. Es war verrückt, wie schnell die Zeit verging, seit sie Lisa bekommen hatte. Und wie immer, wenn Anne in einem ruhigen Moment Lisa beobachtete, wurde ihr wieder bewusst, dass es nur noch ein schnell verstreichendes Jahrzehnt dauern würde, bis Lisa genauso alt war wie sie damals, als man sie an ihrer verwundbarsten Stelle verletzt hatte. Um sich abzulenken, versuchte Anne, an etwas anderes zu denken, und landete unwillkürlich bei dem Bild vom toten Milliardär im Swimmingpool, das sich wie ein Gemälde des Schreckens in ihrem Gehirn festgesetzt hatte. Ihr fiel auf, dass sie Bernhard noch gar nichts von ihrer Idee erzählt hatte – durch eine Analyse der DNA der Milch aus dem Pool auf deren Herkunftsbauernhof zu schließen –, und berichtete ihm davon.
»Bernhard, was meinst du, kann das nicht ein Weg sein, mit dem wir zum Ziel kommen könnten?«
Bernhard, heute frei von hypochondrischen Beschwerden, stieg gleich begeistert auf diese Methode der Spurenverfolgung ein, und beide sponnen mit kindlicher Begeisterung an Annes Plan herum. Lisa fand das – natürlich – doof. Und als Rottach-Egern hinter ihnen lag und sie Wiessee ansteuerten, hatte das Mädchen endgültig die Nase voll. »Immer müsst ihr über das Arbeiten reden! Ich mag, dass wir mal einen Tag lang nur wir sind, einfach so! Wir drei und sonst nichts und niemand.«
Anne und Bernhard lachten, Anne umarmte Lisa, die sich aber sofort wieder aus ihren Armen wand; und Anne und Bernhard beschlossen, sich später, wenn Lisa bereits im Bett liegen würde, noch einmal Gedanken über die Milchspur zu machen.
Als die drei nach ihrem Ausflug nach Hause kamen, stand ihr Nachbar Herr Schimmler in ihrem Garten und hantierte mit einer Gartenschere und einer Sprühflasche an den Büschen herum.
»Ach, da sind Sie ja«, grüßte Schimmler, Annes und Bernhards verdutzte Blicke ignorierend. »Hab’ mir schon gedacht, wo Sie denn sind an einem ganz normalen Wochentag, nicht wahr.«
Anne und Bernhard grüßten ihn kühl. Schimmler ließ sich bei der Arbeit nicht stören. »Das sind schon Sakramenter, diese Läuse, da schauen’s mal, alles verlaust. Immer da, wo Blüten kommen. Da muss man was tun, das kann man nicht mit ansehen.«
»Was sprühen Sie da drauf?«, fragte Anne vorsichtig.
»Ach, das ist nur so eine Mischung, Seife, Wasser. Das schadet niemandem etwas. Ich hab’ halt einmal kontrolliert, wie es um Ihre Pflanzen bestellt ist, und da ist mir das aufgefallen. Sie machen ja doch nix im Garten, nicht wahr. Sehen Sie das gar nicht?« Er erwartete offensichtlich keine Antwort, denn er sprach gleich weiter: »Ein Namensschild habe ich Ihnen auch hinmontiert, haben’s schon g’seh’n? Dieses g’schlamperte Papier mit dem Paketklebeband, das sieht doch nix gleich. Was sollen da die Leut’ denken, nicht wahr?«
Anne nickte schweigend. Dann ging sie mit Bernhard und Lisa ins Haus und sah ihren Freund ernst an. »Was sollen wir mit dem denn machen? Findest du das in Ordnung, dass der einfach so in unseren Garten hineinstiefelt und an unseren Pflanzen rummacht? Dass der uns eine Zeitungsrolle und ein Namensschild hinmontiert? Findest du das okay? Das ist immer noch unser Haus, oder?«
»Ach, der meint das doch nur gut«, beschwichtigte Bernhard sie. »Der hat sich halt schon immer um das Haus gekümmert. Der ist das so gewöhnt. Und meine Eltern waren immer froh, wenn sie wussten, dass auch während ihrer Abwesenheit alles in Ordnung ist.«
»Ich finde das total krass«, sagte Anne und schaute durchs Fenster nach draußen in den Garten, wo Schimmler noch immer in einer abgewetzten Lederhose arbeitete.
Als Lisa im Bett lag, setzten sich Anne und Bernhard an den Computer und gaben Suchbegriffe ein: Milchanalyse, Analyse Milchprobe, Milch-DNA. Hauptsächlich stießen sie dabei auf Seiten, die sich mit den Gefahren gentechnischer Manipulationen beschäftigten. Doch dann fanden sie die Homepage der MUVA Kempten, eines Labors, das sich offensichtlich auf die Analyse von Lebensmitteln spezialisiert hatte.
»Ich glaube, die machen genau das, was wir brauchen«, jubelte Anne. »Da rufen wir gleich morgen an.« Mit einem Mal fühlte sie sich richtig befreit. »Wenn mich nicht alles täuscht, kommen wir mit diesem Dreh der Lösung des Falls ein großes Stück näher. Komm, lass uns kuscheln.« Sie legte ihre Arme um Bernhard und küsste ihn hinters Ohr. »Du müsstest dich mal wieder rasieren«, kicherte sie leise. »Wie geht es deinem Bandscheibenvorfall, deinem Gehirntumor, deinem Ich-weiß-nicht-was? Lassen deine schweren Krankheiten noch ein wenig Sport zu?«
»Bitte keine Witze über meine Krankheit«, kam es von Bernhard zurück. »Ich bin froh, dass ich gerade stabil bin.« Er wollte zu einer ausführlicheren Erklärung ansetzen, doch Anne ließ ihn nicht weitersprechen, sondern versiegelte seine Lippen mit ihren. Kurz überlegte sie, ob Herr Schimmler womöglich noch im Garten werkelte und sie durch die Fensterscheiben sehen konnte, doch dann verlor sie sich in seiner Nähe.
Die Eingangstür des Kindergartens war kaum hinter ihr zugefallen, da zückte Anne ihr Handy und wählte die Telefonnummer der MUVA Kempten. Schnell hatte sie einen kompetent wirkenden Gesprächspartner am Apparat, der ihr allerdings eine ernüchternde Nachricht überbrachte: Natürlich könne man eine Milchprobe analysieren. Allerdings sei es unmöglich, von ihrer Zusammensetzung auf einen bestimmten Herkunftsbauernhof zu schließen.
Aber man müsse doch irgendwie den Weg der Milch zurückverfolgen können, beharrte Anne auf ihrer Idee.
»Die einzige Möglichkeit, die wir Ihnen anbieten können«, meinte der Experte, »ist ein Vergleich der von Ihnen gelieferten Probe mit mehreren anderen Referenzproben. Das geht natürlich.«
Annes Gesichtszüge hellten sich auf: »Das heißt, wenn ich Ihnen hundert Proben bringe, dann können Sie mir sagen, ob eine davon mit der Probe, die mich interessiert, übereinstimmt?«
»Ja, das geht. Allerdings wird das bei so vielen Proben ganz schön teuer. Und es kostet viel Zeit. Es wäre schon gut, wenn Sie sich auf zehn Vergleichsproben beschränken könnten.«
Anne überlegte kurz. »Okay, mache ich. Ich melde mich wieder bei Ihnen. Vielen Dank. Auf Wiederhören.«
Sie schwang sich aufs Fahrrad und radelte zum Grundnerhof, denn ihr war siedend heiß eingefallen, dass es sein konnte, dass überhaupt keine Milch mehr da war. Womöglich hatte Frau Gsell längst den Pool geputzt.
Weil klar war, dass sie durch den Umweg über den Grundnerhof zu spät zum Dienst kommen würde, rief sie noch schnell vom Mountainbike aus in der Dienststelle an. Nonnenmacher ging ans Telefon und reagierte etwas unwirsch. Ihm wäre es lieber, wenn Anne gleich in die Dienststelle käme und mit Sepp Kastner nach Kreuth fahren könne, um sich dort die Ampel an der Kreuzung Wiesseer Straße und Ringbergweg anzusehen. Man habe sie als zuständige Polizei dazu aufgefordert, eine Stellungnahme abzugeben. Viele Anwohner wünschten, dass dort eine Druckampel installiert würde.
»Das kann ich gerne machen«, antwortete Anne, vom Radfahren etwas außer Atem, »aber das können wir vielleicht eine Stunde später auch noch checken, oder?«
Nonnenmachers Entgegnung hörte sie nur noch halb, denn vor ihr hatte sich ein uniformierter Polizist mit Kelle aufgebaut. Anne musste anhalten. Sie kannte den Beamten nicht.
»So, dann machen wir mal ganz schnell das Handy aus«, verlangte der Beamte freundlich.
»Nein, das machen wir sicher nicht«, sagte Anne kess. »Was meinen Sie wohl, wen ich am Apparat habe?«
Der Beamte schaute verdutzt, fing sich dann aber und meinte: »Das ist mir eigentlich egal. Sie wissen schon, dass das Telefonieren auf dem Fahrrad verboten ist? Da gibt’s ein Bußgeld, fünfundzwanzig Euro.«
Aus ihrem Hörer vernahm Anne, wie Nonnenmacher laut und wütend zu erfahren wünschte, was denn da los sei. Sie reichte dem Beamten ihr Handy mit den Worten: »Ich glaube, das ist für Sie.«
Widerwillig nahm der Beamte das Handy. »Ja?« Nach einer kurzen Pause war zu hören: »Ach so, Kurt, ach so, jaja, ach so. Jaja. Ich dachte … ja, Servus.« Dann drückte er die Auflegetaste und sah Anne in die Augen. »Sie sind also die Neue. Schon viel von Ihnen gehört, kann ich nur sagen.« Sein Blick glitt von ihrem Gesicht über ihre Brüste und Beine, die wegen der sehr kurzen Hose, die Anne trug, noch länger aussahen als sonst, bis zu ihren Füßen, die in Joggingschuhen steckten. »Aber eigentlich gilt das mit dem Bußgeld auch für Polizeibeamte.«
»Aber das Telefonat diente den Ermittlungen in einem Mordfall«, erwiderte Anne mit gespieltem Ernst.
Wenig später stand sie vor dem Grundnerhof und stellte fest, dass das Haus verwaist war. Schnell rief sie Sepp Kastner an und ließ sich die Telefonnummer von Frau Gsell geben, die wenige Minuten später die Räder ihres Kleinwagens vor dem prächtigen Anwesen des verstorbenen Kürschner knirschend zum Stehen brachte.
Wie Anne befürchtet hatte, sah das Schwimmbad des Milliardärs aus, als hätten es Katzen leer geschleckt. Da war kein Tropfen Milch mehr, mit dem sich eine Analyse hätte vornehmen lassen. Anne war enttäuscht.
Auch noch eine Stunde später, als sie längst neben Sepp Kastner in Uniform im Streifenwagen saß, ärgerte sie sich über sich selbst und ihre Unerfahrenheit. Warum hatte sie nicht sofort eine Milchprobe genommen?
»Was ist denn heut los mit dir?«, wollte ihr Kollege wissen, während er den Wagen in Richtung Kreuth steuerte. Anne erzählte ihm von den Hindernissen auf ihrem Weg, über die Milch den Herkunftsbauernhof zu ermitteln. »Warum rufst du nicht den Nasswetter von der Kripo an und fragst, ob die dir eine Probe geben können?«
»Schönwetter«, verbesserte Anne ihn.
»Dann halt Schönwetter, aber die haben doch sicher eine Probe genommen, oder?«
»Da bin ich mir nicht so sicher, weil die ja schon am Tatort festgestellt haben, dass der Tod vermutlich durch einen Sturz eingetreten ist und mit der Milch nichts zu tun hat. Warum hätten die dann eine Milchprobe mitnehmen sollen?«
»Na ja, probieren kost’ ja nix«, meinte Kastner.
Und dann waren sie schon an der Ampel im Kreuther Ortsteil Weißach, und ihr Kollege regte sich darüber auf, um was für einen Scheiß man sich als Polizist kümmern müsse. Sie machten Fotos und Notizen und fuhren zurück zur Dienststelle. Dort verfasste Kastner einen Bericht über die Ampelsituation, und seine Kollegin setzte sich ans Telefon.
»Hallo, hier spricht Anne Loop von der Polizeiinspektion Bad Wiessee. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, ich war eine der Beamtinnen vor Ort, als Sie mit Ihrem Team die Spuren in dem Fall um den toten Milliardär am Tegernsee sicherten.«
»Na klar erinnere ich mich«, tönte Schönwetter. »Sie sind doch die Schönheit, die mit mir mal einen Kaffee trinken gehen wollte.«
Anne verzichtete darauf, ihren Kollegen darauf hinzuweisen, dass er es war, der mit ihr einen Kaffee trinken gehen wollte, obwohl sie diese Anmache oberblöd fand, aber schließlich wollte sie etwas von ihm. »Ich habe eine Frage zur Spurensicherung in diesem Fall.«
»Fragen Sie«, erwiderte Schönwetter großzügig.
Ob er zufällig von der Milch, in der die Leiche lag, auch eine Spur gesichert habe? Anne erläuterte, warum sie diese Frage stelle, und Schönwetter meinte anerkennend, dass diese Idee gar nicht schlecht sei. Dann dachte er kurz nach – Anne kam es ewig vor –, verneinte dann aber, wie sie schon befürchtet hatte. Den genauen Wortlaut nahm sie gar nicht mehr wahr. Alles um sie herum verschwamm. Spur vernichtet, Fall versemmelt. Aber Schönwetter beendete das Gespräch nicht – und plötzlich war Anne wieder präsent. Hatte Schönwetter eben gesagt, sie könne doch die Reinigungskräfte, die das Schwimmbad geputzt hätten, fragen, ob die nicht noch irgendwo einen Eimer oder einen Lappen hätten? Letztlich, so Schönwetter, glaube er, dass dem Labor ja gewiss eine winzige Menge der Milch genügen müsse, um eine Analyse vornehmen zu können. Schönwetter war erstaunt, wie schnell das Gespräch beendet wurde.
Anne rief sofort Frau Gsell an.
Kurz darauf konnte man die Polizistin dabei beobachten, wie sie einen Eimer und zwei Putzlappen in dem Streifenwagen verstaute, mit dem sie und Sepp Kastner noch einmal zum Grundnerhof gefahren waren. Zurück in der Inspektion packte sie beides in einen großen Karton. Sie wollte das Ganze per Express an das Labor in Kempten schicken. Gerade, als sie das Paket fertig gemacht hatte, betrat ihr Chef das Dienstzimmer.
»Jetzt tät’s mich schon einmal interessieren, was ihr da so heimlich ermittelt’s, ohne mir etwas davon zu sagen«, sagte er, wobei sein Tonfall und die aus seinem Bauch dringenden Geräusche darauf schließen ließen, dass er wieder Magenprobleme hatte.
»Wir verfolgen eine hochinteressante Spur«, antwortete Sepp Kastner mit wichtigem Blick.
»Die da wäre?«, wollte jetzt Nonnenmacher wissen.
Statt einer Antwort packte Sepp Kastner die Gelegenheit beim Schopfe, um einen lange geplanten und, wie er fand, genialen Witz zu machen. Flinker Hand zog er eine Schublade in seinem Schreibtisch auf, nahm etwas Orangefarbenes heraus und hielt Nonnenmacher grinsend eine Karotte hin. »Für Hasi, damit Hasi wieder guti Launi bekommt.«
Nonnenmacher fand das überhaupt nicht lustig, nahm die Karotte und pfefferte sie in den Abfalleimer. »Ich will eine Antwort! Was ist das für ein Paket?«
»Sexspielzeug«, entgegnete Kastner, merkte aber sofort, dass das erstens nicht witzig war und er zweitens den Bogen überspannt hatte. Deshalb erklärte er hastig Annes Vorgehen.
Nonnenmachers Blick wurde wieder freundlicher und die Geräusche in seinem Magen leiser. Das nahm auch Sepp Kastner wahr, und gerne hätte er noch einen Spruch wie »Der Magen lebt« von sich gegeben, doch angesichts der nicht ganz buddhistischen Stimmungslage des Dienststellenleiters sah er davon ab.
»Und wer zahlt die Laborkosten?«, fragte dieser jetzt und sah Kastner dabei ernst an. Der schwieg betreten, denn das hatte er nicht bedacht. Weil auch Anne sich darüber nicht den Kopf zerbrochen hatte, verhielt sie sich still.
»Das kostet doch sicher einen Haufen Geld«, wetterte Nonnenmacher und schlug mit der flachen Hand auf das Fensterbrett. »So Laboruntersuchungen sind immer sauteuer.«
»Ich regle das«, sagte Anne schnell.
»Und wie wollen Sie das regeln?«, fragte Nonnenmacher böse zurück.
»Ich werde da schon einen Weg finden«, erwiderte sie und lächelte ihren Chef selbstsicher an, was aber nur so halb gelang. »Die sind da sehr nett in Kempten.« Notfalls, so dachte sie sich, konnte sie das Labor aus eigener Tasche bezahlen. Das war es ihr wert.
»Soso«, brummelte Nonnenmacher. »Aber da gibt’s dann noch ein Problem.«
Anne und Kastner suchten erstaunt seinen Blick. »Welche Vergleichsproben wollt ihr denen schicken?«
Diese Frage verfehlte ihre Wirkung nicht. Denn in der Begeisterung, den Tätern über den Milchprobenvergleich auf die Spur zu kommen, hatte Anne völlig vergessen, dass die ganze Lösung darauf basierte, dass sie dem Labor nicht nur die Probe aus dem Pool schickten, sondern auch noch ein Dutzend Vergleichsproben verschiedener Bauernhöfe, die infrage kamen. Und rund um den Tegernsee gab es weit mehr als ein Dutzend Landwirte.
»Auf diese Frage hätte ich sehr gerne noch eine Antwort, bevor hier teure Analysen in Auftrag gegeben werden. Gerade in diesen Zeiten müssen mir auch an den Steuerzahler denken. Da haben wir eine Verantwortung, dass wisst’s ihr ganz genau. Und außerdem …«, Nonnenmacher machte eine Kunstpause, in der auch sein Magen ausnahmsweise schwieg, »… habe ich noch einen Auftrag: Was mir nämlich in dem ganzen Millionärstheater vergessen haben, ist die Sache mit dem Hosenträger vom Ferdl. Ich habe mir das alles noch einmal von vorn bis hinten durch den Kopf gehen lassen und habe jetzt einen Auftrag zum vergeben: Sie, Frau Loop«, er sah Anne scharf an, »Sie werden noch einmal die Familie vernehmen und herausfinden, ob der Ferdl irgendwelche … äh … sexuellen Dinge gemacht hat, die wo sich außerhalb der Norm bewegen, wenn man das so sagen kann. Das werden Sie mir jetzt bitte schnellstmöglich herausfinden, weil eine Spur ist eine Spur, noch immer.«
Dann machte er auf dem Absatz kehrt, und das Letzte, was Anne und Kastner von ihrem Chef hörten, war sein johlender Magen. Was die beiden nicht wussten, war, dass Nonnenmacher zurück in seinem Zimmer entgegen seiner sonstigen Gewohnheit die Tür schloss und dann heimlich aus seinem Schreibtisch eine Tupperwarendose hervorzauberte, um anschließend mit einem kleinen hellblauen Plastiklöffel daraus gekochten Reis zu löffeln. Seine Frau hatte lange auf ihn eingeredet, um ihn zu dieser neuartigen Methode der Bekämpfung seiner Magenprobleme zu bewegen. Sie hatte davon in einer Frauenzeitschrift gelesen.
»Na, dann mal los«, sagte Anne, worauf sie lediglich einen verständnislosen Blick Kastners erntete.
»Wohin?«
»Na, zur Evi Fichtner, Vernehmung zu sexuellen Dingen, die wo sich außerhalb der Norm bewegen«, äffte Anne die gestelzte Formulierung des magenkranken Chefs nach.
Evi Fichtner sah besser aus als beim letzten Mal, als Anne bei ihr gewesen war. Die Frau wirkte jedoch wenig erfreut, als sie die beiden Polizisten – in Zivil – den schmalen Weg zu ihrem Haus heraufkommen sah. Sie trug Gartenhandschuhe und schien Unkraut zu jäten.
»Guten Tag, Frau Fichtner«, grüßte Anne und streckte der Bäuerin die Hand hin.
Diese antwortete mit einem »Grüß Gott« und bot ihr nur das Handgelenk. »Ich bring gerade den Garten in Ordnung«, merkte sie als Entschuldigung an, dass sie die Handschuhe nicht auszog. Auch Kastner bekam das starke Handgelenk der Bäuerin entgegengestreckt.
»Mein Kollege, Herr Kastner, auch aus Wiessee«, erklärte Anne mit Blick auf Sepp. »Wir hätten da noch ein paar Fragen zu Ihrem Mann.«
»Ja?«, fragte Evi Fichtner zweifelnd. »Können wir’s jetzt nicht bei dem Unglück belassen, das meine Familie dadurch hat? Muss man da noch mehr herumstochern?«
»Ja, schon«, meinte Anne, bevor sie in eindringlichem Ton fortfuhr: »Wir sehen nach wie vor kein rechtes Motiv für einen Freitod Ihres Mannes.« Die Bäuerin zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Doch Anne gab nicht auf. »Können wir reingehen?«
Wie beim letzten Mal lief im Haus leise Volksmusik. Wieder setzten sie sich in die Stube mit der Eckbank. Doch Anne spürte, dass im Vergleich zu ihrem vorigen Besuch etwas fehlte. Sie brauchte eine Weile, bis sie wusste, was verändert worden war. »Wo ist denn das Kruzifix, das Sie hier im Eck hängen hatten?«
»Ach ja, fällt Ihnen das auf, dass es weg ist?«, fragte die Bäuerin. Anne wartete auf eine Erklärung, doch da kam nichts. Vielmehr sagte die Frau des Toten: »Und, was wollen’s jetzt noch wissen?«
»Warum haben Sie das Kruzifix abgehängt, Frau Fichtner?« Anne blickte die Bäuerin fragend an.
»Ach, das hab’ ich nimmer anschau’n woll’n.«
»Warum nicht?«
»Weil’s mich an meinen Mann, an den Tod erinnert. Letztlich hat er sich ja auch geopfert.«
Anne sah Evi Fichtner irritiert an. »Wie meinen Sie das?«
»Na ja, letztlich hat er sich ja wohl wegen uns … ist er wegen uns«, die Bäuerin zögerte, ehe sie ein ihr passend erscheinendes Wort fand, »… gestorben. Wegen unserer finanziellen Probleme, wegen der Geschäfte, die wo er wohl gemacht hat.«
»Wissen Sie denn inzwischen, was er mit dem Geld gemacht hat, das er vom Konto abgehoben hat?«, erkundigte sich Anne vorsichtig.
»Nein, aber dass es für seine Geschäfte sei, hat er halt immer gesagt, nicht. Und die sind ja anscheinend nicht gut gegangen, sonst wär’ ja noch Geld da, und er hätt’ sich ja auch nicht aufhängen müssen.« Die Bäuerin klang jetzt etwas genervt, als müsste sie überflüssigerweise etwas völlig Verständliches erklären.
»Hatte Ihr Mann Feinde?«
»Wieso fragen Sie das?«, kam es überrascht zurück.
»Gab es irgendjemanden, mit dem sich Ihr Mann im Streit befand?«, überging Anne ihrerseits die Frage der Bäuerin.
»Meinen Sie, dass es gar kein Selbstmord war?«, wollte nun die Bäuerin wissen. »Oder warum fragen Sie das?«
»Frau Fichtner, hier stelle ich die Fragen: Hatte Ihr Mann Feinde? Denken Sie nach!«
Die Bäuerin erwiderte ohne Zögern: »Nein, der Ferdl war beliebt, da können Sie jeden im Ort fragen. Er hat ja auch viel ehrenamtlich gemacht.«
»Gut«, sagte Anne, um zu signalisieren, dass dieses Thema für sie nun vorerst abgeschlossen war. »Wir sind heute aber sowieso aus einem anderen Grund hier.«
Evi Fichtner sah sie interessiert an. Anne überlegte, wie sie sich diesem schwierigen Thema am unverfänglichsten nähern konnte, und entschloss sich dazu, erst einmal Sepp Kastner aus dem Raum zu schicken. Ein Gespräch über die sexuellen Vorlieben des erhängten Gatten ließ sich vielleicht doch besser ohne einen Mann am Tisch führen, eine Tatsache, die nicht nur fürs bayerische Oberland galt.
»Seppi, könntest du vielleicht kurz nach draußen gehen, ich glaube, ich habe im Auto mein Handy liegen gelassen.«
»Du kannst meins haben«, sagte Kastner und streckte Anne seines hin, das er sehr schnell aus der Hosentasche gefummelt hatte.
Anne verdrehte die Augen. »Nein, ich brauche meines, da habe ich eine Nummer gespeichert, die wichtig ist.«
»Von wem denn?«
»Sepp, geh jetzt bitte raus und hol mein Handy!«
Schnaufend stand Kastner auf, schob sich hinter der Eckbank raus und verließ kopfschüttelnd den Raum.
Anne wandte sich wieder Evi Fichtner zu. Sie hatte sich entschlossen, nicht um den heißen Brei herumzureden. Also fragte sie: »Frau Fichtner, wir müssen jetzt kurz ein heikles Thema bereden. Aber glauben Sie mir: Erstens ist dieses Gespräch absolut notwendig, um herauszufinden, warum Ihr Mann gestorben ist, und zweitens werde ich alles, aber auch wirklich alles, was Sie mir jetzt anvertrauen, höchst vertraulich behandeln.«
Jetzt blickte Evi Fichtner Anne völlig verängstigt an und meinte: »Letztes Mal haben Sie gesagt, dass mir nur ein Gespräch führen müssen. Und jetzt kommen Sie wieder mit was daher. Nimmt das denn kein Ende? Was wollen Sie denn jetzt noch wissen?«, stöhnte sie verzweifelt.
»Es ist so, dass uns an der Leiche Ihres Mannes eine Sache aufgefallen ist, die wir uns überhaupt nicht erklären können: Er hatte nämlich einen seiner Hosenträger durch den Schritt gezogen.«
»Aha«, sagte Evi Fichtner verständnislos. »Und was soll ich dazu sagen?«
»Nun, es gibt Menschen, das wissen Sie vielleicht, die empfinden sexuelle Erregung, wenn sie gewürgt werden. Dies kann auch ein Gewürgtwerden oder ein Sichwürgen in Verbindung mit eindeutig sexuellen Handlungen sein. Strangulation nennt man das.«
»Ja, und?« Die Bäuerin drohte die Fassung zu verlieren.
»Uns, also mich würde interessieren, Frau Fichtner«, Annes Stimme wurde noch leiser und vertraulicher, »ob Ihr Mann Ihnen gegenüber je irgendwelche sexuellen Wünsche geäußert hat, die Ihnen komisch vorkamen.«
»Ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, dass da bei uns schon lange nichts mehr war«, entgegnete Evi Fichtner verzweifelt.
»Und damals, vor Langem, hat er damals solche Wünsche geäußert? Hat er Ihnen irgendwelche Spiele vorgeschlagen? Hat er gesagt, Sie sollen sich verkleiden? Haben Sie für Ihre Liebesspiele vielleicht Peitschen oder Handschellen, Tücher oder Werkzeug verwendet?«
Die Augen der Bäuerin waren immer größer geworden, jetzt platzte es aus ihr heraus: »Handschellen, Peitschen oder Werkzeug! Ja meinen Sie denn, mir sind pervers, oder was? Das ist ja unerhört! Bloß weil mein Mann verzweifelt war, weil die Geschäfte schlecht gegangen sind, glauben Sie, dass mir hier eine perverse Familie sind, oder was?«
»Nein, nein«, beschwichtigte Anne, »es ist ja auch überhaupt nicht pervers, wenn man mit seinem Liebespartner Spiele macht. Es würde uns aber sehr helfen, wenn Sie zu diesem Thema etwas sagen könnten. Bitte missverstehen Sie mich nicht«, Sie holte kurz Luft, »aber es ist doch heute völlig normal, dass Paare im Bett allerlei miteinander ausprobieren.«
Anne hatte diesen Satz kaum ausgesprochen, da stand Sepp Kastner im Raum. Sein Kopf war wieder einmal rot, offensichtlich hatte Annes letzte Aussage seine Phantasie über die Maßen angeregt. Anne ärgerte sich, dass sie ihn überhaupt mitgenommen hatte.
Mit erstickter Stimme meinte er: »Dein Handy ist nicht im Auto, Anne, ich hab’ alles durchsucht.«
»Ist gut«, entgegnete Anne knapp. »Könntest du bitte wieder rausgehen? Wir führen gerade ein Frauengespräch.«
»Das hab’ ich mir schon gedacht«, sagte Kastner, hüstelte und verließ umgehend die Stube. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der seiner Lehrerin in den Ausschnitt geguckt hatte.
»Also«, Anne sah Evi Fichtner forschend an, »hat er Sie jemals um etwas gebeten, das Ihnen seltsam vorkam?«
»Nicht, dass ich wüsste …« Die Bäuerin überlegte noch einmal angestrengt, bevor sie fortfuhr. »Einmal, aber das ist sicher schon zwanzig Jahre her, da hat er mir ein Mieder mitgebracht, mit so Strümpfen und Strapsen. Das war fast alles dunkelrot, die Rüschen waren schwarz. Und ich sollte hochhackige Lackschuhe dazu anziehen, aber das war wirklich das einzige Mal.«
Die Witwe schämte sich, das spürte Anne deutlich und unterdrückte ein Schmunzeln. »So etwas meinte ich auch gar nicht, Frau Fichtner, das ist ja etwas ganz Normales …«
Ehe sie weitersprechen konnte, brach es aus Evi Fichtner erleichtert hervor: »Ja, meinen Sie, gell, da waren mir ja auch noch jung, da macht man so was halt.«
»Und das«, hakte Anne zögerlich nach, »das war, sagen wir jetzt einmal, das Ausgefallenste, was Ihr Mann an erotischen Wünschen an Sie herangetragen hat?«
»Ja, so kann man das sagen«, sagte sie, »das war das Ausgefallenste, also mit Abstand!«
»Dürfte ich denn mal sehen, wo Ihr Mann und Sie geschlafen haben?«
»Warum?«, fragte die Bäuerin, nun wieder verunsichert.
»Nur, um mir einen Eindruck zu verschaffen.«
»Gut«, meinte Evi Fichtner trocken und raffte sich auf. »Ich hab’ jetzt aber nicht eigens aufgeräumt und sauber gemacht.«
Dann führte sie Anne eine enge Holzstiege hinauf in den ersten Stock, von dessen Gang aus mehrere schlichte Türen in weitere Räume abgingen. Der obere Flur war niedriger als der untere, Anne konnte die über ihr hängende Decke förmlich spüren. Evi Fichtner öffnete die Tür zu einer kleinen Kammer, in der zwei Holzbetten standen, von dem nur eines gemacht war, auf dem anderen lag die unbezogene, grau-weiß gestreifte Matratze.
»Mir haben nicht mehr beieinander geschlafen«, erklärte die Bäuerin, »deswegen haben mir die Betten auseinandergestellt.«
»Und wo ist der Kleiderschrank Ihres Mannes?«
»Also einen eigenen hat er ja nie gehabt, mir haben uns halt den geteilt.« Sie deutete auf einen Bauernschrank, dessen Holz dieselbe hellbraune Färbung hatte wie die Türen und der Dielenboden.
»Darf ich mal einen Blick hineinwerfen?«, fragte Anne.
Evi Fichtner hob und senkte kurz die Schultern und zog erst die rechte Schranktür auf, entriegelte dann von innen die linke, sodass schließlich beide Flügel offen standen. Annes erster Eindruck war, dass der Schrank völlig überfüllt war. Doch bei genauerer Betrachtung erkannte sie, dass trotz der Menge an Kleidern eine penible Ordnung herrschte. Anne versuchte die hängenden Kleidungsstücke auseinanderzuschieben, um zu sehen, ob sich hinter ihnen etwas verbarg, doch der Hängeteil war so überfüllt, dass sich da nichts beiseiterücken ließ.
»Darf ich ein paar Kleider herausnehmen?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich mach’s schon«, sagte Evi Fichtner und nahm acht mit Frauenkleidern behängte Bügel, darunter zwei Dirndl, heraus. »Die meisten Kleider sind sowieso von mir. Der Ferdinand hat nicht viel gehabt … gebraucht. Die Winterkleider sind in einem Schrank in der Tenne.«
Jetzt konnte Anne das Innere des Schranks genauer einsehen, doch sie entdeckte nichts Ungewöhnliches. Dann griff sie mit ihrer linken Hand hinter die auf den Brettern liegenden Kleidungsstapel und erspürte hinter einem einen harten Gegenstand.
»Ich glaube, da ist was Schweres dahinter, könnten Sie das mal bitte herausholen?«
Die Polizistin trat zur Seite, und Evi Fichtner nahm die Pullover heraus, hinter denen eine alte Keksdose zum Vorschein kam. Während die Bäuerin sie herauszog, achtete Anne genau auf ihre Gesichtszüge. Doch Evi Fichtner schien den Behälter auch nicht zu kennen. Jedenfalls wirkte sie neugierig, was da zum Vorschein kommen würde. Sie stellte die Dose auf das Bett und setzte sich daneben. Anne setzte sich auf die andere Seite. Evi Fichtner öffnete die Blechkiste. Zuoberst lag ein großes blaues Löschpapier, das an den Rändern bereits vergilbt war. Die Bäuerin nahm es vorsichtig und hob es hoch. Darunter kam ein großformatiges Schwarzweißfoto zum Vorschein, auf dem eine junge Frau im Dirndl und mit ordentlich geflochtenen Zöpfen zu sehen war.
»Das bin ja ich!« Evi Fichtner wirkte sichtlich erstaunt. »Das kenne ich gar nicht.« Sie schaute noch eine Weile darauf und legte es dann beiseite, um sich den Briefen zu widmen, die unter dem Foto lagen. Teils waren sie in Sütterlinschrift verfasst. Evi Fichtner blätterte sie durch und sagte bei zweien: »Der ist von mir.« Anne sah, dass sich in den Augen der Bäuerin, die bislang so hart gewirkt hatte, Tränen sammelten. Beim untersten Brief stutzte die Witwe aber. Anne konnte von ihrem Platz aus nur erkennen, dass es sich um einen Brief handelte, auf dem die Empfängeradresse nicht in Sütterlin geschrieben war.
»Karin Goldhammer, Rosenheim«, las die Bäuerin leise vor. »Wer ist Karin Goldhammer aus Rosenheim?« Anne verhielt sich still. »Poststempel 1985, da war ich zum zweiten Mal schwanger«, bemerkte Evi Fichtner, zog das Blatt aus dem Kuvert und überflog schweigend das Geschriebene. Anne wartete. Die Gesichtzüge der Bäuerin verrieten nichts über den Inhalt des Briefs. Als sie fertig gelesen hatte, blickte die Bäuerin auf und sah Anne an, die daraufhin mit den Schultern zuckte. Die Bäuerin reichte ihr das Blatt. Es war einseitig beschrieben. Anne las:
Mein lieber Ferdinand,
ich habe mich sehr über Deinen Besuch bei uns in Rosenheim gefreut. Auch, wenn ich dauernd bedienen musste, war es doch auch schön, Dich zu sehen. Fesch hast Du ausgesehen. Gut, dass Dir der Kaffee geschmeckt hat und der Kuchen. Er war auch frisch an diesem Tag. Schön, dass Du jetzt noch ein Kind bekommst. Ich freue mich für Dich. Danke für die Geschenke. Die Strümpfe und das andere. Komm bald wieder zu mir, wenn nicht so viel los ist im Café. Ruf aber vorher an oder schick eine Karte.
Eine Umarmung,
Deine Karin
Anne blickte von dem Brief auf. »Können Sie damit etwas anfangen?«
Evi Fichtner schüttelte den Kopf. »Hat der eine Freundin g’habt? Strümpfe hat er ihr geschenkt!« Sie blickte auf das Blatt. »›Eine Umarmung, Deine Karin‹.« Dann schwieg sie. Anne hatte aber den Eindruck, dass es in der Bäuerin arbeitete.
»Kennen Sie jemanden in Rosenheim?«
»Ja schon, wir haben da Verwandtschaft, aber eigentlich keinen Kontakt.«
»Warum nicht?«
»Weil meine Schwiegermutter mit ihrer Familie gebrochen hat.«
Anne sah die Bäuerin fragend an, die daraufhin erklärte: »Na ja, ich weiß auch nicht genau, was da war, die hat sich halt nicht mit ihren Schwestern verstanden, und dann ist der Kontakt irgendwie abgebrochen. Ich weiß da nichts Genaues, weil, solange meine Schwiegermutter gelebt hat, hat man darüber nicht gesprochen, und als sie dann tot war, auch nicht. Aber der Brief hört sich doch nicht nach Verwandtschaft an – hört der sich für Sie nach Verwandtschaft an?«
Anne war sich nicht sicher. »Wir sollten auf jeden Fall versuchen, diese Karin ausfindig zu machen. Vielleicht war da auch in den vergangenen Jahren noch eine …«, sie zögerte, suchte nach einem unverfänglichen Wort, »… Kontakt. Was ist denn noch in der Dose?«
Die Bäuerin wandte sich wieder dem Blechbehältnis zu, in dem sich noch ein silbernes Feuerzeug, ein kleines altes Taschenmesser mit Hirschhorngriff, ein Ehering, einige Murmeln, ein Döschen mit Zähnen und anderer Kleinkram befanden. Als Evi Fichtner alles wieder einräumen wollte, fragte Anne, ob sie den Brief mitnehmen dürfe, um zu versuchen, diese Karin Goldhammer ausfindig zu machen. Die Witwe nickte und gab ihn ihr. Dann brach sie in Tränen aus. Anne hatte selten eine derart hart wirkende Frau weinen gesehen. Sie legte ihren Arm um Evi Fichtner. Ihr Körper fühlte sich knochig an. Ob Frau Loop meine, dass ihr Mann sie betrogen habe, schluchzte sie. Anne sagte, dass man darüber jetzt nicht spekulieren solle. Es könne ja auch sein, dass da gar nichts dahinterstecke.
»Aber dass er ihr Strümpfe geschenkt hat«, weinte die Bäuerin weiter, »Strümpfe, wie mir.«
»Kommen Sie«, versuchte Anne sie zu beruhigen, »lassen Sie uns weitersuchen. Wenn man weint, entsteht nichts Neues, nur wenn man handelt. Und Sie sind doch eine starke Frau, die sich noch immer allem gestellt hat.«
Es war offensichtlich, dass es der Bäuerin schwerfiel, sich zusammenzureißen, aber sie raffte sich auf und suchte, gemeinsam mit Anne, weiter nach Indizien, die den Tod ihres Mannes begründen konnten. Hinter den zusammengelegten Kleidern auf den anderen Regalbrettern fanden die beiden Frauen nichts mehr. Auch unter dem Bett und im Nachtkästchen tauchte nichts von Bedeutung auf.
»Hatte Ihr Mann denn auch ein Büro?«, fragte Anne. Die Bäuerin schaute sie entsetzt an. »Oder auch nur einen Schreibtisch?«
Evi Fichtner schüttelte den Kopf und sagte, dass alle schriftlichen Angelegenheiten von ihnen stets in der Stube erledigt würden, dort seien auch die Ordner mit den Papieren für die einzelnen Kühe, das Herdenbuch et cetera und der ganze andere Kram.
»Das sollten wir uns dann auch noch einmal ansehen«, meinte Anne und stand auf.
Als sie unten waren, holte sie ihren Kollegen wieder herein, der auf der Bank vor dem Haus gesessen hatte. Sie ignorierte seinen fragenden Blick und forderte ihn auf, sich die Ordner, die Evi Fichtner ihnen in der Stube zeigte, durchzusehen. Annes Intuition sagte ihr, dass sie das Wichtigste schon gefunden hatten. Dennoch fasste sie nach: »Hatte Ihr Mann sonst noch irgendwo Sachen? Was ist da in der Schublade?« Anne zeigte auf die Schublade im Tisch vor der Eckbank.
»Da sind lose Papiere drin, aber nichts, was ich nicht kenne, weil da bin ich auch immer am Arbeiten«, erklärte Evi Fichtner.
»Darf ich trotzdem kurz hineinschauen?«, wollte Anne wissen, woraufhin die Bäuerin die Schublade aufzog. Anne sah ein Sammelsurium aus Stiften, losen Blättern, Rechnungen, Notizzetteln, Briefumschlägen, eine Tube Klebstoff, eine Schere und einen Brieföffner.
»Da ist sicher nichts drin, was ich nicht weiß«, sagte die Bäuerin noch einmal.
Da Anne ihr glaubte, half sie Sepp Kastner nun beim Durchforsten der Ordner. Aber auch hier fand sich nichts Auffälliges, und so beschlossen sie, die Durchsuchung zu beenden und sich zu verabschieden.
Die beiden Polizisten ließen eine verstörte Evi Fichtner zurück. Als Anne im Auto saß und ihr zuwinkte, sah sie, dass die vermeintlich so gefühllose Frau wieder weinte. Dann zeigte Anne ihrem Kollegen den Brief und fragte ihn nach seiner Einschätzung: Ob da eine Frauengeschichte dahinterstecke? Ob das die Erklärung für die mysteriösen Geldabflüsse sei – und vielleicht auch für Fichtners Tod?
»Vielleicht hat der sich eine Bedienung geangelt«, meinte Kastner. »Aber so richtig verliebt war die doch nicht in den, oder?«
»Wieso meinst du?«, fragte Anne erstaunt.
»Weil sie ihn am Ende vom Brief bloß umarmt und weil sie sich darüber freut, dass er ein Kind von einer anderen bekommt … das würde die doch nicht tun, wenn sie ihn wirklich lieben tät’! Die wollt’ doch dann sicher, dass sie selber ein Kind von ihm bekommt, und nicht eine andere!« Kastner dachte kurz nach, weil ihn plötzlich die Befürchtung überfiel, dass das, was er gerade gesagt hatte, seine Chancen bei Anne nicht gerade steigern würde, und schob deshalb hinterher: »Was anderes ist es natürlich, wenn schon ein Kind da ist, das schon größer ist, also eines, das bereits früher gemacht worden ist. Da ist das eine völlig andere Situation, und ein neuer Partner kann sich über so ein Kind natürlich genauso freuen und es mit der Zeit quasi auch als sein eigenes sehen … wenn er sich anstrengt.«
Bereits während Kastner dies sagte, hatte Anne sich abgewandt, um auf den See hinunterzublicken, der still und wellenlos dalag, als hätte jemand die Welt im Tal für einen Augenblick angehalten. Dass Kastner immer alles auf sich beziehen musste! Und auch diese ganze Anbaggerei fand sie unerträglich.
»Und, habt’s was g’funden?«, rief ihnen Nonnenmacher auf dem Flur der Dienststelle entgegen, noch bevor sie ihr Zimmer betreten konnten.
»Ja, schon«, erwiderte Anne und erzählte ihm von dem Brief.
»Aber keine Sexspielsachen?«, hakte Nonnenmacher nach und wirkte dabei fast ein bisschen erleichtert.
»Na, nix«, antwortete Kastner. »Und ob das ein Brief von einer Geliebten ist, das muss sich auch noch erst herausstellen.«
»Ist doch prima«, meinte Nonnenmacher, wobei er kurz stutzte, was für ein komisches Wort er da verwendet hatte. »Prima« sagte man in Bayern genauso wenig wie »lecker«, »gut« war ein völlig ausreichendes Wort zur Bezeichnung herausragender Zustände, aber dass er jetzt schon so daherredete, hatte sicher mit der Kollegin zu tun. Dann sagte er noch: »Na dann mal los«, was im Nachhall irgendwie genauso seltsam klang und sogar Sepp Kastner irritierte.
»Was bist’n heut so gut drauf?«, fragte er den Chef erstaunt.
»Ich?«, begehrte Nonnenmacher auf, als fühle er sich ertappt. »Ich bin doch immer gut drauf.«
Sepp Kastner schwieg kurz, lauschte – von unten waren die gedämpften Gespräche aus dem Eingangsbereich zu hören –, dann rief er: »Aha! Verstehe! Dein Herr Magen schweigt. Da liegt der Hund begraben!«
Nonnenmacher schwieg und strich sich nur ein wenig verlegen mit der Hand über den Bart. Kastner bohrte frech nach: »Haben die Gelben Rüben doch gewirkt, ha?«
»Ess’ ich nicht, bin kein Hase«, erwiderte Nonnenmacher knapp und bestimmt. Dass die Reisdiät aus der Frauenzeitschrift ihm tatsächlich geholfen hatte, wollte er keinesfalls preisgeben. Kollegen mussten nicht alles wissen. Lieber wollte er zu den wirklich wichtigen Themen zurückkehren und fragte deshalb: »Was steht jetzt ermittlungstechnisch als Nächstes an?«
»Ich dachte mir«, sagte Anne, »dass wir jetzt auch noch die Stammtischbrüder zu der Strangulationsthematik vernehmen sollten. Schließlich haben die vermutlich mehr Zeit mit Fichtner verbracht als seine Frau. Und was ich immer so höre, tauschen sich Männerfreunde ja auch manchmal über sexuelle Themen aus.«
Darauf wollte Nonnenmacher nun nicht direkt antworten, deshalb meinte er nur: »Gut, warum nicht« und fasste insgeheim den Plan, bei dieser Sexvernehmung lieber nicht dabei zu sein, denn aus seiner Erfahrung war der Tegernseer Mann, von einem Tegernseer Stammtisch ganz zu schweigen, in Sexthemen eher nicht so gesprächig, bestenfalls zotig. Das konnte schon mal lustig sein, aber vermutlich eher nicht, wenn diese Loop mit dabei war. »Und diese Vernehmung wollen also Sie durchführen, Frau Loop?«, wollte er noch wissen, was aber natürlich nur rein rhetorisch gemeint war.
Anne nickte. »Gemeinsam mit Sepp. Es soll ja auch keine richtige Vernehmung werden … nennen wir es ein informelles Gespräch. Die drei sitzen vermutlich sowieso wieder im Bräustüberl.«
»Das Helle möge ihnen die Zunge lockern, aber nicht die Triebe«, merkte Nonnenmacher noch an und wandte sich rein alibimäßig seinem Computer zu. Mit dieser letzten Aussage konnte Anne allerdings überhaupt nichts anfangen. Manchmal redete ihr Chef einfach wirres Zeug.
Wie ein glänzender Magnet erstrahlte die ockerfarbene Fassade des Tegernseer Bräustüberls in der Frühlingssonne. Es war wieder ein sommerlich warmer Frühlingstag, und Anne Loop und Sepp Kastner erkannten bereits von Weitem, dass heute nicht nur die üblichen Stammgäste der Traditionswirtschaft gekommen waren, um ihren Durst und Hunger zu stillen: Die beiden Polizisten hatten die Bänke und Tische des unmittelbar an der Hauswand liegenden Biergartens noch nicht erreicht, als Anne von einem ziemlich betrunkenen Trupp junger Männer in gelben T-Shirts umringt wurde.
Zuerst dachte Anne, es handle sich um Bundeswehrausscheider, doch die lallenden Biernasen erklärten ihr euphorisch, dass es sich um den Junggesellenabschied vom Toni handle, und wie dabei üblich habe der Bräutigam eine Aufgabe zu lösen.
Anne wollte weitergehen, aber die Jungs ließen sie nicht durch. Stattdessen bekam sie zu hören, dass sie dem Toni helfen müsse. Anne blieb widerwillig stehen und erfuhr, dass er es schaffen müsse, mit achtundzwanzig Frauen fotografiert zu werden, die wie Filmstars aussähen, denn seine Zukünftige sei achtundzwanzig Jahre alt. Anne erschloss sich der Zusammenhang zwischen dem Alter der angehenden Ehefrau und der Anzahl der abzulichtenden Frauen nicht ganz, schon gar nicht der Querverweis zur Filmkultur; auch ärgerte sie, dass sie und Sepp sich aus Gründen der Tarnung dazu entschlossen hatten, diesen heiklen Ermittlungsauftrag ohne Uniform anzugehen, doch ehe sie noch fliehen konnte, erläuterte der Dickste der Mittzwanziger ihr mit generalstabsmäßiger Stimme, dass der Toni die Filmstarfrau natürlich auch busseln müsst, weil schließlich sei es ein Junggesellenabend, und der Toni sollt’ ja wenigstens heut noch eine Gaudi haben, wo er doch ab morgen quasi weg vom Fenster sei. Anne spielte kurz mit dem Gedanken, sich als des Deutschen nicht mächtige Holländerin auszugeben, doch diese Jungs waren bereits in einem derart desolaten Zustand, dass sie garantiert vor keiner Grenze haltgemacht hätten, geschweige denn vor einer Sprachbarriere.
»Wer von euch ist denn der Toni?«, fragte sie daher betont sachlich. Unter Johlen – die Männer riefen »Da To-ni knutscht die Angelina! Da To-ni knutscht die Angelina!« – öffnete sich die Mauer der besoffenen Männer, und Anne bekam einen völlig durchnässten Hänfling zu Gesicht. Das also war der Toni, der sich augenscheinlich gerade von einem Bad im doch noch recht frühlingsfrischen Tegernsee erholte. An einem seiner weißen, spärlich behaarten Beine hing an einer schmiedeeisernen Kette ein grober Holzklotz.
»Auf geht’s Toni, pack’s!«, schrie der Dicke und zückte seine Kamera, während die anderen ihre Bierkrüge erhoben und den Toten-Hosen-Song »Eisgekühlter Bommerlunder« anstimmten.
Anne Loop spürte die Andeutung eines Brechreizes. Wo, verflucht noch mal, war der Sepp? Der musste sich doch mit solchen Bräuchen auskennen. Musste sie da mitmachen? Diesen Toni küssen?
»Einen Moment«, rief Anne so bestimmt, dass die besoffenen Kerle bis auf einige herzhafte Rülpser verstummten. »Ich bin mit einem Kollegen da. Wir haben eine wichtige Sache zu erledigen. Kann ich erst mal fragen, ob eure Wünsche überhaupt in unseren Zeitplan passen?« Weil sich diese Bitte für die Gelbhemden logisch anhörte und Anne im Übrigen ein außergewöhnlich schönes Exemplar von Frau war, öffnete sich der Ring, und der Dicke stimmte den Ruf »An-ge-lina, die ist a Supabraut, An-ge-lina, die ist a Supabraut!« an.
Schnell fragte Anne, ohne dass es Toni und seine Freunde hören konnten, den gestresst aussehenden Sepp Kastner, was sie denn machen solle.
»Ich kann ja einschreiten«, meinte dieser übereifrig. »Soll ich mich als dein Mann ausgeben?«
Anne verdrehte die Augen, fällte eine Entscheidung, ging zum Bräutigam, forderte den Dicken auf, seine Kamera bereitzuhalten, berührte kurz Tonis Wange, die daraufhin noch röter erglühte als vorher, und verließ mit einem knappen »Ciao« die Szenerie.
Während sie mit Sepp Kastner im Schlepptau das Wirtshaus betrat, hörte sie noch, wie die Meute zur Melodie des Biene-Maja-Lieds »Es war ’ne sexy flotte Biene, die hieß Angelina, eine Stute zum Knutschen, Angeliiiina …« sang.
Im Bräustüberl war zum Glück wegen des schönen Wetters wenig los, lediglich ein Teil der rund zwanzig Stammtische und einige andere Tische waren belegt. Aber wie Anne erwartet hatte, saßen versammelt am einstigen Fichtner-Stammtisch der Bootsführer Klaus Amend, der Fischer Wastl Hörwangl und der Bauer Pius Nagel. Als die drei Anne und Sepp Kastner sahen, glaubte Anne zu hören, dass Hörwangl den anderen beiden noch etwas zuzischte, konnte aber wegen des bajuwarischen Geräuschpegels nicht verstehen, was es war. Als Anne an den Tisch trat, schaute keiner der drei sie direkt an, alle konzentrierten sich auf ihr Bierglas, als schwämme darin eine unbekannte Fischart.
»Guten Morgen, die Herren«, sprach Anne sie an.
»Grüß Gott«, kam es im Chor zurück. Die Blicke blieben allerdings gesenkt.
»Das ist mein Kollege Sepp Kastner«, stellte Anne ihren Kollegen vor. »Den kennen Sie, glaube ich, noch nicht.« Keine Antwort. »Gibt’s irgendein Problem?«
Die Männer schüttelten schweigend den Kopf. Anne erschloss sich das seltsame Gebaren der drei Stammtischbrüder in keinster Weise. Dies war aber auch nicht weiter verwunderlich, schließlich wusste sie nicht, dass Fichtners Freunde damit rechneten, hier und jetzt wegen Mordes am Milliardär Kürschner festgenommen zu werden. Dass Anne gekommen war, um mit ihnen über das geheime Sexleben von Ferdl Fichtner zu reden, ahnten die Alt-Tegernseer nicht. Sie dachten nur an die jahrelange Gefängnisstrafe, die sie nun erwartete.
»Dürfen wir uns setzen?«, fragte sie etwas genervt, weil die drei sich gar so ablehnend verhielten. Die Männer zuckten mit den Schultern, und Anne setzte sich. Auch Sepp Kastner nahm nach einem schüchternen »Grüß Gott« Platz.
»Wir sind gekommen, um mit Ihnen noch einmal über den Tod Ihres Freundes Ferdinand Fichtner zu sprechen«, begann Anne vorsichtig das Gespräch und war überrascht, weil die drei plötzlich wie ausgetauscht wirkten.
»Ach so, bloß dem Ferdl wegen sind Sie da?« Hörwangl schnaufte erleichtert. »Was wollen’s denn wissen?«
»Nun, heute geht es um etwas sehr Privates.«
»Ja, was denn?«, fragte Amend so verdächtig kooperativ, dass Anne ihn misstrauisch anblickte.
»Wollen Sie auch ein Helles?«, so Hörwangl, fast schon unterwürfig. Anne nickte. »Reserl, ein Helles für die Dame – und für den Herrn auch eines, das geht auf meinen Deckel.«
»Ich mag ein Spezi«, sagte Sepp Kastner, was aber übergangen wurde.
»Können Sie uns«, Anne fixierte die drei der Reihe nach, »etwas über die sexuellen Vorlieben Ihres Freundes Ferdinand Fichtner sagen, was wir nicht wissen?«
Der Satz schlug am Stammtisch ein wie ein Meteorit. Erneut hingen die eben noch so freien Blicke im Bierglas fest, Fischforschung.
»Würde mir jetzt vielleicht mal jemand antworten?«, fragte Anne ungeduldig, war doch das Theater mit Toni und den Junggesellen nicht spurlos an ihr vorübergegangen.
»Was …«, übernahm Hörwangl vorsichtig das Wort, »… an was hätten Sie denn da so gedacht?«
»Hat der Ferdinand Ihnen je davon erzählt, dass er mit seiner Frau schläft?«
Die drei rissen die Augen auf, Amend nahm sein Glas und trank es in einem Zug leer, Nagel klopfte sich hastig die halbe Schachtel Zigaretten aus dem Karton. Dass man im Bräustüberl wegen der neuen Gesetze nicht mehr rauchen durfte, hatte er völlig vergessen. So eine Frage hatten sie von einer Frau noch nie gestellt bekommen, und schon gar nicht von einer Polizistin, die aussah wie ein Filmstar.
Als wieder keine Antwort kam, flippte Anne aus. »Ja verdammte Scheiße, sprechen Sie denn an diesem Scheißstammtisch niemals über Sex oder was? Da sitzen Sie fast jeden Tag zusammen und reden nie darüber, wie es mit der Frau zu Hause klappt, oder wie? Das gibt’s doch gar nicht, das kann doch überhaupt nicht sein!«
Jetzt schauten die drei sie an, betreten, wie Schüler, die von ihrer Lehrerin aufgefordert worden waren, sich frei zu machen.
»Nein, ja, nein«, kam Hörwangls zögerliche Antwort, während sich Nagel eine Zigarette nahm und meinte: »Ich geh’ mal kurz eine rauchen.«
»Einen Scheiß tun Sie«, schrie Anne ihn an. »Sie bleiben jetzt sitzen, verdammt, das ist ein Verhör!«
Plötzlich waren alle Gespräche an den Tischen ringsum verstummt. Alle blickten zu der schönen Frau, die nun derart vulgäre Wörter verwendete. War das die echte Angelina Jolie? Konnte die Deutsch? Wurde hier ein Film gedreht, ohne dass man etwas gesagt hatte? Und schon wurde überall getuschelt.
Anne, die sich etwas beruhigt hatte, fuhr nun leiser fort: »Denken Sie nach, bitte, es geht um den Tod Ihres Freundes. Wir müssen erfahren, was Sie wissen.«
»Mir wissen nix«, ergriff nun, ein wenig trotzig, erstmals Nagel das Wort. »Über so was, da red’t man doch nicht.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Anne. »Sie kennen sich doch alle schon seit Ihrer Jugendzeit.«
»Kindheit«, korrigierte sie Nagel.
»Dann eben Kindheit«, berichtigte Anne genervt. »Haben Sie denn nie über Frauen geredet?«
»Über Frauen schon …«, warf Hörwangl ein, »… aber halt nicht über … das … also Dings … ja Sex halt.«
»Und was haben Sie über Frauen geredet?«, fragte Anne, mittlerweile richtig böse.
»Ja, welche halt schön sind und welche nicht«, erklärte Nagel.
»Welche fleißig sind und welche nicht, das Übliche halt«, fügte Amend hinzu.
»Und halt auch über Frauen, die wo in der Öffentlichkeit stehen«, ergänzte Hörwangl. »Solche wie die …«, er räusperte sich und brach ab. Im Hintergrund johlte der Junggesellenabschied, weil er eine Amy Winehouse gefunden zu haben glaubte. »Amy geht noch, Amy geht noch rein …«
Anne sah kurz zu dem anderen Opfer der Kampftrinker hinüber, schüttelte den Kopf und hakte nach: »Solche wie welche?«
»Na ja«, fuhr Hörwangl gehemmt fort, und Anne spürte, dass er es bereute, sich so weit vorgewagt zu haben, »ja also, halt zum Beispiel, also zum Beispiel die hähm …«
»Sie meinen halt so berühmte Frauen«, schaltete sich Sepp Kastner ungewohnt schnell ein, ihm war es unangenehm, wie offensiv Anne mit den Tegernseer Männern ein eindeutiges Männerthema besprechen wollte, das man mit einer Frau, insbesondere mit einer schönen Polizistin, schon aus Rücksichtnahme nicht besprach.
»Du verstehst das wohl, wie?«, ging Anne aggressiv auf ihn los. »Na, dann sag mir doch mal so eine berühmte Frau, über die unter euch Männern gesprochen wird!«
»Na ja«, druckste jetzt Kastner seinerseits herum, unsicher suchte er den Blick der drei Stammtischbrüder, mit denen er nun, ohne es zu wollen, unter einer Decke gelandet war, »ich nehme mal an, dass das halt zum Beispiel so Frauen sind wie die Freundinnen vom Boris Becker oder vom Dieter Bohlen, nicht?«, meinte er um Unterstützung heischend in Richtung der dreiköpfigen Verschwörertruppe.
Diese nickten heftig, und Hörwangl bestätigte erleichtert: »Zum Beispiel die, genau, vom Bohlen und vom Becker.«
»Zum Beispiel die Naddel«, sagte Amend nickend.
»Und die Babs«, fügte Nagel hinzu.
»Die Paris Hilton«, ergänzte Hörwangl.
»Die war aber nicht mit dem Becker zusammen«, wusste Nagel.
»Ich mein’ ja nur als Beispiel«, meinte Hörwangl.
»Aber wir reden auch über so intelligente wie die Pauli«, wagte sich jetzt auch Amend aus der Deckung.
»Ach, die Gabriele Pauli auch?« Anne zog die Augenbrauen hoch. »Ja, haben Sie sich da vielleicht auch über die Fotos unterhalten, die die Frau Pauli einmal machen ließ?«
»Ja klar. Da hat ja jeder drüber geredet, haha!« Hörwangl lachte verlegen.
»Das waren ja Fotos, auf denen die Frau Pauli Latexhandschuhe, eine rote Perücke und so was trug«, stieß Anne listig vor.
»Ja, ganz schön gewagt«, tönte Hörwangl, jetzt beinahe ein wenig entspannt.
»Das sind ja eigentlich Accessoires, wie sie von Prostituierten getragen werden, oder wie sehen Sie das?«, fragte sie nun etwas schärfer.
»Ja, nicht unbedingt, oder?«, meinte Hörwangl. »Die Frau Pauli ist ja keine vom horizontalen Gewerbe, oder? Die ist zwar g’spinnert, aber trotzdem noch ein intelligentes Weib.«
»Und ansehnlich«, fügte Nagel anerkennend hinzu.
»Haben Ihnen die Fotos gefallen?«, wollte sie nun wissen.
»Wen meinen Sie jetzt?«, fragte der Bauer.
»Ja, Sie zum Beispiel, Herr Nagel«, antwortete Anne.
»Joa«, druckste der herum, »nicht schlecht waren die, oder, was meint’s ihr?«, gab er die Frage weiter. »Gut gemacht, oder?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, bohrte Anne nach: »War der Herr Fichtner bei Ihrem Gespräch über die Latexfotos von der Frau Pauli auch dabei?«
»Höchstwahrscheinlich«, so Hörwangl.
»Ist Ihnen in Erinnerung, ob er da etwas Besonderes dazu gesagt hat?«
»Na, bloß das Übliche, denk’ ich«, tat Hörwangl die Frage ab.
»Das Übliche?«
»Ja halt, ob es gut ausschaut oder nicht«, erwiderte Hörwangl, jetzt seinerseits genervt. »Was soll denn diese saudumme Fragerei?«
»Wurde da an Ihrem Stammtisch auch einmal in Erwägung gezogen, dass einer von Ihnen mit der Frau Pauli …« Anne ließ den Satz offen.
Die drei und Kastner starrten sie an. »Schnaxelt?«, fragte Hörwangl nun und lachte gleichzeitig mit seinen Kumpanen los. »Das wär’ was, wenn du, Pius, mit der Pauli schnaxeln tätst, das wär’ was fürs Fernseh’n, da wärst ein echter Star, Pius, haha!«
Anne schüttelte den Kopf. Die Bedienung kam mit zwei Hellen und wollte sie den Polizisten hinstellen, aber Anne forderte sie auf, die Biere den drei Stammtischbrüdern zu servieren, legte sechs Euro auf den Tisch und stand auf. Mit Tegernseer Männern über Sex zu reden, war ganz offensichtlich ein Unterfangen, das man sich sparen konnte. »Morgen zerlegen wir den Grundnerhof«, sagte sie im Auto zu ihrem Kollegen. Es klang wie das drohende Knurren einer Raubkatze vor dem Sprung.
Doch als sie um kurz nach sechs nach Hause kam, fand sie einen Zettel an der Haustür:
Gehirntumor wieder aktiv. Musste weg.
Lisa bei Schimmler. Gruß B.
Anne konnte es nicht fassen. Ging das jetzt schon wieder los? Hatte Bernhard in den letzten Tagen nicht psychisch stabil gewirkt? Hatte er ihr nicht erzählt, wie er mit seiner Arbeit weiterkomme? Und nun wieder der ganze hypochondrische Quatsch! Und wie kam er dazu, Lisa bei den Schimmlers abzuladen, ausgerechnet bei denen! Während sie zu den Nachbarn lief, malte sie sich aus, was jetzt wieder passieren würde: Bernhard würde ein Elektroenzephalogramm anfertigen lassen. Die Untersuchung würde ohne Befund bleiben. Dann würde es Bernhard besser gehen, bis ihm einfiel, dass er Pfeiffer’sches Drüsenfieber oder Borreliose haben könnte oder Leukämie oder weiß der Teufel was.
Anne stand vor dem Haus der Schimmlers. Der Garten war fein säuberlich gepflegt, als handle es sich um eine überdimensionierte Modelleisenbahnlandschaft. Das Gras sah aus wie ein makelloser, zwei Zentimeter dicker Teppich, ohne auch nur die Andeutung einer Schattierung oder eines Unkrauts. Offensichtlich hatten die Schimmlers sämtliche wilden Blumen mit Akribie ausgerottet. Anne hatte den kleinen Weg vom Gartentor zur Haustür noch nicht zurückgelegt, da riss Herr Schimmler bereits die Tür auf – als hätte er die ganze Zeit durch das kleine Fenster geschaut und nur auf sie gewartet.
»Hereinspaziert, hereinspaziert, die junge Mutter«, tönte er begeistert. Anne lief es eiskalt über den Rücken.
»Ist Lisa …?«
»Ja, natürlich ist das verlorene Kind bei uns, gell, wir haben doch ein Herz für Kinder, ein großes!«, meinte Schimmler mit pastoraler Stimme. »Kommen Sie doch herein.«
Anne betrat den braun gefliesten Flur, in dem es nach Desinfektionsmittel roch. Sofort nachdem sie eingetreten war, schloss Schimmler die Tür und sperrte ab. Anne versuchte, sich nicht irritieren zu lassen, und wartete, bis er die vor ihnen liegende Tür mit dem Glaseinsatz öffnete. Im nächsten Raum, es war die Küche, saß Lisa vor zwei Schalen – einer mit Gummibärchen und einer mit Schokoladenkeksen.
»Hallo, Mama«, sagte sie mampfend.
»Na«, sagte Anne und grüßte Frau Schimmler, die am Herd stand.
»Grüß Gott, Frau von Rothbach, wir haben ihr halt was zum essen gegeben, weil’s so hungrig war, gell.«
»Loop heiße ich«, korrigierte Anne schnell. »Guten Tag, Frau Schimmler, da bin ich Ihnen und Ihrem Mann aber dankbar, dass Sie sich meiner Tochter angenommen haben«, log sie.
»Ja, wie geht es denn dem jungen Herrn von Rothbach?«, fragte die Schimmlerin.
»Das weiß ich ehrlich gesagt noch gar nicht, Frau Schimmler, ich bin direkt zu Ihnen gekommen, um nach Lisa zu sehen, ich habe noch gar nicht mit ihm gesprochen.«
»Dass er einen Gehirntumor hat, hat er halt g’sagt, gell. Das ist schlimm, gell.«
»Ja, wenn es sich bewahrheiten sollte«, meinte Anne. »Aber bislang hat er sich das doch Gott sei Dank meist nur eingebildet.«
»So etwas bildet man sich doch nicht ein!«, wandte Herr Schimmler ein und runzelte streng die Stirn. »Sie sollten schon zu ihm halten, schließlich können Sie froh sein, dass …«
»Dass was?«, fragte Anne scharf.
»Dass er Sie … er ist immerhin aus gutem, ich meine adeligem, tadellosem …«
»Jetzt geh, Hans«, versuchte die Alte ihren Mann zu bremsen, »das haben wir doch gesagt, dass uns das nichts angeht.«
Doch Schimmler hatte Fahrt aufgenommen. »… und Sie, Sie sind alleinstehend, uneheliches Kind, oder? Früher hat man da … also uns geht’s ja nix an, aber …«
»Hans, jetzt reicht’s aber«, verbot Frau Schimmler dem Mann das Wort.
Anne fühlte sich hin- und hergerissen zwischen der Peinlichkeit dieses lächerlichen Auftritts und riesiger Wut. Doch dann beschloss sie, das dumme, beleidigende Gerede einfach zu übergehen, und sagte ruhig: »Ich weiß nicht, ob Sie davon schon gehört haben, aber Bernhard leidet an einer Krankheit, die sich Hypochondrie nennt.«
»Kenn’ ich, kenn’ ich«, Schimmler nickte, »die eingebildete Krankheit, nicht?«
»Genau.«
»Dann hat er also gar keinen Gehirntumor, der Bernhard, und scheucht uns so im Viereck!«, schimpfte Schimmler nun. So plötzlich konnten Stimmungen wechseln.
»Nein, einen Tumor hat er wahrscheinlich nicht«, erwiderte Anne, nun doch hilflos, »aber krank ist er trotzdem. Er hat halt Angst um sein Leben.«
»Wer hat das nicht«, sagte Schimmler nun mit ernstem Blick und rückte Anne so nahe, dass sie den Mundgeruch des alten Mannes riechen konnte. »Die Rumänenbanden kommen immer öfter hierher für ihre Überfälle. Zuerst die Banküberfälle in Gmund, und jetzt auch noch der Kürschner. Der Iwan wird uns noch umbringen!«
Anne nickte, aber eigentlich wollte sie nur noch raus, weg, mit Lisa nach Hause. Bernhard, dieser Idiot.
Als Anne am nächsten Morgen um kurz vor sieben die Tür öffnete und Hans Schimmler vor ihr stand, bekam sie einen gehörigen Schreck. In T-Shirt und Slip stand sie vor dem alten Mann, der ein kurzes »Oha!« ausstieß und sich die linke Hand vor die Augen hielt – die rechte konnte er nicht nehmen, denn in dieser trug er eine Plastiktüte. Mit der Hand vor den Augen teilte er Anne mit, dass er gerade vom Fischen komme, vier Renken und zwei Saiblinge. Und da er so viel nicht essen könne, auch zusammen mit seiner Frau nicht, die allerdings schon ziemlich viel esse, habe er sich gedacht, Anne könne ja zwei Fische haben, gratis, das versteht sich. Ob Anne sich vielleicht etwas anziehen könne, weil dann könne er die Hand von den Augen nehmen und ihr die Fische überreichen, sie seien in der Plastiktüte. Anne meinte, dass er ruhig schauen könne, schließlich sei sie nicht nackt.
Ob der Herr von Rothbach noch nach Hause gekommen sei, heute Nacht, wollte Schimmler nun, da er die Tüte überreicht hatte, wissen. Nein, meinte Anne, leider nein. Dass sie ihn am Vorabend auch telefonisch nicht erreichen hatte können, behielt sie lieber für sich.
»Vielen Dank für die Fische«, fügte sie noch hinzu.
»Sperren Sie eigentlich Ihre Haustür zu, nachts? Das würde ich Ihnen schon empfehlen, auch in Tegernsee gibt’s allerhand Gesindel, und mir wohnen hier ja schon in feiner Gegend, gell, das zieht das Gesindel ja geradezu magisch an. Und Sie, als Frau, allein, nur mit Kind«, er blickte auf Annes schlanke Beine, »da sind Sie ganz besonders gefährdet.«
»Ja, also vielen Dank für die Fische, darf ich Ihnen die wirklich nicht bezahlen?« Doch Schimmler winkte ab.
»Also dann.« Und weg war er.
Anne schob die Fische in die Tiefkühltruhe und rief erneut in Bernhards WG an. Als sie am Vorabend die Nummer seines Mobiltelefons gewählt hatte, hatte es in seinem Arbeitszimmer geklingelt. Wieder hatte er sich nicht an ihre Bitte gehalten, das Telefon mitzunehmen! Warum liebte sie diesen Typen eigentlich? Ehe sie den Gedanken weiterspinnen konnte, hörte sie, wie am anderen Ende der Leitung der Hörer abgenommen wurde, eine verschlafene Frauenstimme »Arschloch, es ist Nacht« sagte und wieder auflegte.
»Fuck«, fluchte Anne, was Lisa hörte und umgehend mit einem »Das sagt man nicht, Mama« verurteilte.
»Okay, Entschuldigung. Was magst du frühstücken?«
Anstatt die Frage zu beantworten, stellte Lisa fest, dass sie heute nicht in den Kindergarten wolle. Sie habe keine Lust.
»Aber warum denn nicht?«
»Weil!«, sagte Lisa und schwieg. Anne fasste ihrer Tochter an die Stirn, um zu sehen, ob sie fiebrig war.
»Weißt du, das geht gerade heute überhaupt nicht, dass du zu Hause bleibst, weil Bernhard nicht da ist und ich eine ganz wichtige Durchsuchung machen muss.«
»Was für eine Durchsuchung«, fragte Lisa trotzig.
»Einen großen alten Bauernhof müssen wir durchsuchen, der liegt genau auf der anderen Seite des Sees.« Anne zeigte durchs Wohnzimmerfenster schräg hinüber nach Wiessee.
Lisa, grimmig: »Und warum musst du den durchsuchen?«
»Weil da jemand eingebrochen ist, und wir herausfinden müssen, wer es war.«
»Räuber?«
»Einbrecher. So, und jetzt machen wir uns fertig. Magst du ein Marmeladenbrot?«
»Wo ist Bernhard?«, wollte das Mädchen wissen.
Sehr darauf konzentriert, ihre eigene Ratlosigkeit wenigstens nicht durch den Tonfall ihrer Stimme zu offenbaren, meinte Anne, dass sie das auch nicht wisse, dass er aber sicher bald wiederkomme.
»Darf Bernhard einfach so abhauen, ohne zu sagen, wohin er geht?« Lisa runzelte die Stirn.
»Das ist eine gute Frage«, sagte Anne und dachte nach. »Nun, Bernhard ist unser Freund. Als Freund …«
Lisa wartete nicht, bis ihre Mutter die Ausführungen beendet hatte, sondern überfiel sie mit der Frage: »Warum heiratet ihr eigentlich nicht?«
»Das fragst du mich zum ersten Mal«, sagte Anne verdutzt.
»Ja, weil im Kindergarten haben die mich gefragt, ob Bernhard mein Papa ist, da habe ich gesagt ›Ja‹, aber da hat die Rosa gesagt, dass ihre Mutter gesagt hat, dass das nicht stimmt, weil ihr nicht verheiratet seid. Wo ist eigentlich mein Papa?«
»Ach Lisa, das habe ich dir doch schon so oft erklärt, dein Papa ist weggegangen, als du noch ganz klein warst.«
»Warum?« Das Kind sah sie mit großen, nach einer Erklärung verlangenden Augen an.
Anne musste gegen eine Welle von Tränen kämpfen. »Weil er uns nicht haben wollte.« Schnell schob sie hinterher: »Aber jetzt haben wir ja Bernhard«, bemerkte aber im selben Augenblick, dass das ja auch nicht stimmte, denn Bernhard war sonst wo. »Also, komm, es ist schon so spät, wir ziehen uns jetzt ganz schnell an. Du kannst das, glaube ich, schon selbst, oder? Und dann lassen wir das Frühstück heute ausfallen und gehen in die Bäckerei. Und dort darfst du dir ausnahmsweise was Süßes zum Frühstück aussuchen. Und ich bekomme einen Kaffee. Magst du ein Kleid anziehen?«
Nachdem sie Lisa im Kindergarten abgeliefert hatte, schwang sich Anne auf ihr Mountainbike und radelte los, so schnell es ging. Sie wählte die Südroute über Rottach-Egern, und als sie die Passage am See erreicht hatte, war sie froh, dass es mit einem Mal zu schütten begann wie aus Kübeln, so fielen wenigstens die Tränen nicht auf, die ihr über die Wangen liefen. Irgendwie hatte der Regen auch etwas Reinigendes. Und die Regentropfen, die auf den See prasselten wie kleine Edelsteine, vermittelten Lebendigkeit und Fröhlichkeit. Kurz vor Bad Wiessee hatte sie sich wieder im Griff. Und in der Dienststelle merkte nicht einmal der einfühlsame Sepp Kastner, dass Anne Loops Morgen nicht ganz reibungslos verlaufen war.
In der Umkleide im Keller der Polizeiinspektion zog sich Anne trockene Kleider an und ging nach oben, um ihrem Chef Nonnenmacher einen guten Morgen zu wünschen. Der begrüßte sie mit einem »Pfundiger Sommer, das«, und Anne spürte gleich, dass seine Laune eher nicht gut war. Nonnenmacher erklärte, dass die Bürgermeister von Tegernsee und Wiessee soeben kurz nacheinander angerufen und gefragt hätten, ob man denn nun endlich ein Ermittlungsergebnis zum Einbruch in den Grundnerhof habe, einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte, weil es ein ungutes Gerede gebe, sogar Prominenz habe sich schon zu Wort gemeldet und gefragt, ob der Tegernsee denn eigentlich noch sicher sei oder ob man seine Anwesen insgesamt aufrüsten müsse, wach- und alarmtechnisch. Ob die Polizei sich eigentlich in der Lage sehe, die Sicherheit der Menschen im Tal zu gewährleisten, und und und.
»Sind die Ergebnisse aus Miesbach schon gekommen?«, fragte Anne, ohne auf die Ausführungen ihres Chefs einzugehen.
»Nein, die Kollegen von der Kripo nehmen uns ja auch gar nicht ernst«, erwiderte Nonnenmacher. »Dieser Schönwasser …«
»…wetter«, unterbrach ihn Anne.
»Dann halt Schönwetter«, sagte er unwirsch und setzte an zur Jagd auf eine Fliege, die sich ihm auf die Nase gesetzt hatte, »der ist halt in erster Linie ein Wichtigtuer. Segelkurse für Schönheitschirurgengattinnen oder russische Millionäre kann der meinetwegen schon geben, aber hier den großen Max spielen und dann nix, aber auch gar nix zuwege bringen – der Mann, der ist ein wandelnder Treppenwitz, das ist er.« Wegen der Fliege, die er nicht erwischt hatte und die ihn weiterhin ärgerte, hatte er angefangen, wild herumzufuchteln. Jetzt rief er sogar noch »Sauviech« und schlug mit der Hand so fest auf den Computerbildschirm, dass das darauf stehende Familienfoto zu Boden segelte.
»Sepp Kastner und ich wollen gleich den Grundnerhof noch einmal gründlich umkrempeln, vielleicht finden wir ja was«, sagte Anne, um Nonnenmacher auf andere Gedanken zu bringen.
»Gut, da bin ich dabei«, entgegnete er und kroch unter den Schreibtisch, um das Foto wieder heraufzuholen.
Im Auto erkundigte er sich in betont unverfänglichem Ton, wie die gestrige Vernehmung im Bräustüberl verlaufen sei. Doch die Antworten, die er erhielt, waren auffällig wortkarg.
»Haben’s nix reden wollen über Sex, der Pius, der Klaus und der Wastl, ha?«, fragte Nonnenmacher, jetzt angesichts des Themas schon besserer Stimmung.
»Na«, verneinte Sepp Kastner kurz.
»Das hätt’ ich euch gleich sagen können«, meinte Nonnenmacher jetzt selbstbewusst. »Der Tegernseer Mann ist von Natur aus stark und verfügt schon aus diesem Grund über ein gesundes Sexleben, aber reden tut er darüber natürlich nicht. Das wär’ ja noch schöner!« In das darauf folgende Schweigen und das leise Fahrgeräusch, das der Dienstwagen im Nieselregen verursachte, mischte sich ein anschwellendes Heulen, das eindeutig aus Nonnenmachers Leib kam, weshalb er seine starken Sprüche gleich wieder bereute.
Als sie am Grundnerhof ankamen, verzog er sich auch gleich in den Saunabereich, mit der Anweisung an die anderen, das Wohnhaus und das Schwimmbad unter die Lupe zu nehmen. Frau Gsell öffnete den Beamten alle Türen und half Anne beim Durchforsten der einzelnen Räume des von Kürschner nur zu einem geringen Teil bewohnten Wohnbereichs.
In Kürschners Schlafzimmer konnte Anne nichts Außergewöhnliches entdecken, außer, dass Kürschner offensichtlich ein Fan von Playmobileisenbahnen war, denn der Nebenraum, in dem Anne sein Ankleidezimmer vermutet hatte, entpuppte sich als gigantisches Spielzimmer. In Kürschners Kleiderschrank wartete eine nigelnagelneue Golfausrüstung, die aufgrund ihres Designs aus den Achtzigerjahren stammen musste, auf einen Einsatz, der nun nie mehr stattfinden würde. Die Schublade von Kürschners Nachtkästchen war bis oben hin gefüllt mit Werbekugelschreibern, und in den Ablagefächern darunter stapelten sich – das erkannte Anne an den Aufdrucken – unzählige Notizblöcke von Hotels aus der ganzen Welt. Herr Kürschner, erklärte die Haushälterin, sei sehr sparsam gewesen und habe deshalb stets alle Werbegeschenke und was es sonst kostenlos gab, mitgenommen. Das bewies auch der Inhalt des Garderobenschranks, der ausschließlich Handtücher, Bademäntel und Badeschlappen mit Hotelaufdruck enthielt. Darüber hinaus fand Anne eine große Wanne vor, in der kleine Shampoofläschchen, Seifen und Duschhauben versammelt waren. Während sie und die Haushälterin die Schränke durchsuchten, erläuterte Elisabeth Gsell, dass Herr Kürschner nie in den teuersten Hotels abgestiegen sei, obwohl er sich dies natürlich hätte leisten können. Außerdem habe er sie und seine anderen Mitarbeiter stets angewiesen, Hoteliers und andere Dienstleister zu drängen, nicht den vollen Preis zu verlangen, egal um welche Leistung es ging.
»Er hat immer gesagt: ›Ich bin ein guter Geschäftsmann, und ich weiß, dass jeder gute Geschäftsmann in seinem Preis noch einen Spielraum für einen Rabatt einkalkuliert hat. Und diesen Spielraum will ich haben.‹ Und wenn einer sich geweigert hat, ihm Rabatt zu geben, dann hat er bei dem auch nicht gebucht«, erklärte Gsell.
»Passt das für Sie zusammen, dass er einerseits so sparsam war und sich andererseits als Mäzen hervorgetan hat?«, fragte Anne vorsichtig.
»Ja mei, er hat es halt von den Geschäftsleuten genommen und den Bedürftigen gegeben, gell, so seh’ ich das. Warum meinen Sie?«
»Ach, nur so«, sagte Anne gedankenverloren, während sie gerade den Spiegelschrank im Schlafzimmer des toten Milliardärs öffnete. Dann fragte sie aber wie elektrisiert: »Und was ist das?« Sie hielt eine Packung mit der Aufschrift »Cymbalta« in der Hand.
»Oh, das hat der Herr Kürschner immer genommen, wenn er Angst bekommen hat.«
»Wie meinen Sie das: ›Angst bekommen‹?«, fragte Anne erstaunt nach.
»Der Herr Kürschner hat immer Angst gehabt, dass er kein Geld mehr haben könnt’. Da ist er dann ganz traurig geworden, und dann hat er dieses Medikament genommen. Auch, weil er nicht mehr hat schlafen können wegen der Angst. Aber das Medikament hat ihm dann immer geholfen, und dann ging’s ihm schon gleich besser«, erklärte die Haushälterin in einem um Verständnis heischenden Tonfall. Als sie Annes verstörten Blick wahrnahm, fügte sie hinzu, dass sich Anne das doch einmal vorstellen müsse, wie viel Verantwortung der Herr Kürschner gehabt habe, schon von jungen Jahren an. Schließlich hätten ja Tausende von Menschen von seinem Erfolg und seiner Arbeit gelebt. Da sei es ja wohl klar, dass das einem manchmal Angst mache und man nicht schlafen könne wegen all der Sorgen.
»Ja schon«, meinte Anne. »Aber wissen Sie, Frau Gsell, Cymbalta ist ein richtig schweres Geschütz, das geht direkt ins zentrale Nervensystem. Hat der Herr Kürschner das oft genommen? War er davon abhängig?«
»Nein, nein, Herr Kürschner war nicht süchtig«, beschwichtigte die Haushälterin hastig, »er hat es halt genommen, wie unsereins eine Kopfschmerztablette nimmt. Das müssen Sie doch verstehen, dass, wenn man eine solche Verantwortung trägt die ganze Zeit, dass das kein normaler Mensch aushalten kann, gerade auch heutzutage … mit der Wirtschaftskrise. Der Herr Merckle ist doch auch vor den Zug gesprungen.« Sie zögerte. »Wobei ich ja vermute, dass das überhaupt kein Selbstmord war«, jetzt flüsterte sie, während Anne die Augenbrauen hochzog. »Ich glaube, dass hinter dem Merckle seinem Tod die Mafia steckt.«
Anne nickte verschwörerisch und gab der Tür des von einem Goldrahmen gefassten Spiegelschranks einen Stups, woraufhin sie sich fast lautlos schloss.
Unter dem Waschbecken stand ein zylinderförmiges goldenes Gefäß. Als Anne fragte, was das sei, antwortete Gsell hastig: »Oh, das ist nur der Badezimmerabfalleimer, aber warten Sie, den habe ich, glaube ich, noch gar nicht geleert. Da ist vielleicht noch etwas drin.«
»Na, umso besser«, sagte Anne und hob, ehe die Haushälterin sie daran hindern konnte, den Goldeimer hoch und stellte ihn auf dem Schrank aus Teakholz ab.
»Sie werden doch jetzt nicht …«, begann Elisabeth Gsell entsetzt, »… Sie werden doch jetzt nicht … nicht im Müll eines Verstorbenen wühlen? Das ist doch nun wirklich privat!«
»Frau Gsell, es geht hier um einen Einbruch, in dessen Folge einer der reichsten Männer Deutschlands gestorben ist. Da gibt es nichts Privates, das nicht interessant wäre für uns.«
»Aber der Müll!«, jammerte Gsell wie über eine frische Wunde.
Anne achtete nicht auf die Haushälterin, sondern schnappte sich ein großes weißes Handtuch aus dem Regal, auf dem sie den Abfall ausbreitete. Sie fand eine weitere, dieses Mal leere Verpackung des Antidepressivums, außerdem einen Herrennylonstrumpf mit Loch, einige zerknüllte Papiertaschentücher, einen leeren Nasenspray und mehrere zusammengeknüllte Zettel. Der erste war eine Restaurantquittung von Alfons Schuhbecks Südtiroler Stuben am Münchner Platzl. Der zweite war eine Einladung zu dem Vortrag »Clever und diskret anlegen in der Finanzkrise« einer bekannten Münchner Privatbank, vermutlich Kürschners Konkurrenz. Beim dritten handelte es sich um eine Seite aus dem Programmheft zu einem Konzert in der Münchner Philharmonie. Den vierten Zettel, den Anne fand, hätte sie beinahe übersehen, so klein war er. Als sie das Papierknäuel, das nicht größer als eine Murmel war, auseinanderfaltete, erkannte sie, dass es sich um den Teil eines größeren Blatts handelte. Auch sah der Schnipsel aus, als wäre er aus einem Block herausgerissen worden, der als Werbegeschenk gedient hatte, denn am unteren Rand entlang lief ein roter Strich.
Als Anne die drei Wörter las, die einzig auf dem Abriss zu erkennen waren, weil der Rest des Textes vermutlich auf dem wesentlich größeren, fehlenden Teil des Papiers stand, war sie wie elektrisiert. Sofort sprang sie auf und rannte durch den Flur, das Treppenhaus hinab und hinüber in den Saunabereich. Völlig außer Atem erreichte sie Nonnenmacher in der Saunakabine. Er saß auf der untersten Bank und löffelte verstohlen etwas Weißes aus einer lilafarbenen Tupperdose.
»Was machen Sie denn da?«, fragte Anne den Leiter der Polizeiinspektion Bad Wiessee verdutzt.
»Das sehen Sie doch, Frau Polizeihauptmeisterin, ich esse«, antwortete dieser ärgerlich. Da es aber in der Kabine relativ dunkel war, konnte Anne nicht sehen, dass Nonnenmacher rot geworden war. Obwohl die Reisdiät seiner Frau gegen das Magengrimmen zu helfen schien, wollte er partout vermeiden, dass sich sein neues Ernährungskonzept in der Inspektion herumsprach. Ein Tegernseer, der während der Arbeit kalten Reis löffelte, obendrein noch ein leibhaftiger Dienststellenleiter, das ließ sich nicht mit der Außendarstellung in Einklang bringen, die Nonnenmacher bei der öffentlichen Positionierung seiner Polizeieinheit im Sinn hatte, der Reis war kein heimisches Gewächs.
»Was gibt’s denn, dass Sie mich so beim Brotzeiten aufhetzen?«, wollte er nun wissen und versuchte hastig, den Deckel auf die Kunststoffdose zu drücken, was dazu führte, dass dieser ihm entglitt und unter die Saunabank kullerte.
Nonnenmacher machte Anstalten, ihn dort hervorzuholen, doch Anne kam ihm zuvor.
»Warten Sie«, sagte die junge Polizistin, glitt geschmeidig auf den Boden und kroch unter die Bank. Sekunden später konnte man nur noch ihren perfekt geformten Po und die Beine sehen.
Nonnenmacher war sich nicht sicher, wer nun mehr über das sonderbare optische Arrangement in der Sauna – Dienststellenleiter thront über vor ihm kniender, sehr attraktiver Mitarbeiterin – staunte, Elisabeth Gsell oder Sepp Kastner, der, wie er gleich betonte zu sagen, »komische Geräusche« gehört habe und deshalb auch herbeigeeilt sei.
»Was macht’s ihr denn da?«, wollte er eifersüchtig wissen.
»Mir machen gar nix. Mir ist nur der Deckel von der Tupper runtergefallen«, sagte Nonnenmacher bestimmt. Und zu Anne: »Finden Sie ihn, Frau Loop?«
Alle drei schauten auf Annes Hintern, was ihnen aber erst bewusst wurde, als dieser sich langsam wieder zurück in Richtung Saunatür bewegte.
Als Anne aufschaute, sah sie die Blicke und kombinierte sofort: »So, war das rund und gut? Dann darf ich euch jetzt etwas zeigen, was euch vielleicht noch mehr interessiert als mein Po.« Sie drückte Nonnenmacher mit der linken Hand den Deckel seiner Box in den Schoß und hielt zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand den kleinen Zettel mit der abgerissenen Kante in die Höhe. »Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer Schritt für uns.« Nonnenmacher, Kastner und Gsell schauten ungläubig auf den Papierschnipsel.
»Und warum?«, fragte Kastner.
»Weil da draufsteht Die Tegernseer Kammerjäger.«
Nonnenmacher, Kastner und Gsell starrten Anne Loop an, als wäre sie verrückt geworden.
»Ach so, das wisst ihr noch nicht: Der Sebastian Hörwangl, der Klaus Amend und der Pius Nagel nennen sich selbst die ›Tegernseer Kammerjäger‹. Das haben die mir mal – ich glaube eher aus Versehen – bei einem informellen Gespräch gesagt. Dieser Zettel ist also wohl Teil eines Briefs oder einer Nachricht an Herrn Kürschner. Den Rest vom Brief habe ich zwar nicht gefunden, aber immerhin haben wir mit diesem Papierfetzen ganz klar eine Spur. Warum sollte von denen denn gerade jetzt ein Zettel in einem Mülleimer Kürschners liegen? Zufall? Sicher nein! Da muss es also irgendeine Verbindung geben.«
»Also mir sind keine Kammerjäger bekannt«, merkte Elisabeth Gsell an. »Wie sollen diese Herren heißen?«
»Hörwangl, Amend und Nagel«, antwortete Anne bestimmt.
»Wenn die mal bei uns gewesen wären, dann wüsste ich das«, sagte Frau Gsell selbstbewusst. »Wir hatten auch nie Probleme mit Ungeziefer. Überhaupt nie.«
»Ja genau, wieso nennen die sich überhaupts Kammerjäger?«, wollte Kastner wissen. »Haben die nebenbei noch eine Rattenbekämpfung oder was?«
Anne zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht, aber das ist jetzt auch fürs Erste egal. Hauptsache, wir haben einen Anknüpfungspunkt.«
»Der da wäre?«, fragte Nonnenmacher.
Dass der Chef so gar nichts kapierte! »Was ist denn der Pius Nagel von Beruf, hä?«, so Anne genervt.
»Bauer.« Nonnenmacher schaute sie verständnislos an.
»Und was stellt ein Bauer her?«
»Milch«, sagte Kastner.
»Genau«, stimmte Anne zu. »Und wir waren doch die ganze Zeit auf der Suche nach einer Milchprobe, die wir als Vergleichsmaterial zur Milch aus dem Pool an das Labor in Kempten schicken können. Diese Probe haben wir jetzt.«
»Die Probe vom Nagelhof!« Kastner lächelte.
Nur Nonnenmacher fand das Ganze nicht gut. Er glaube nicht, grummelte er, dass wer vom Tegernsee mit dem Einbruch beim Kürschner was zu tun habe, schon gar nicht der Pius, der Wastl oder der Klaus. Und wieso denn auch? Schließlich sei man dem Kürschner im gesamten Tal für seine Wohltaten dankbar. »Der Kürschner hatte keine Feinde.« Warum sollte da jemand, vor allem drei harmlose, absolut unbescholtene Männer, die ihm, Nonnenmacher, persönlich bestens bekannt seien, bei ihm einbrechen und ihn umbringen? Das sei doch Unsinn. Kürschners Haushälterin Elisabeth Gsell nickte heftig. Er sei gegen die Einsendung einer Probe von Pius Nagels Hof, sagte Nonnenmacher mit Donnerhall in der Stimme.
»Aber Kurt!« Der sonst so harmlose Sepp Kastner wurde jetzt richtig böse. »Das ist doch wirklich eine eindeutige Spur! Die dürfen wir uns doch nicht durch die Lappen gehen lassen. Und außerdem ist das doch für uns auch total einfach: Probe einpacken, hinschicken, abwarten. Wenn’s nix war, dann war’s halt nix. Aber wenn die Proben übereinstimmen, dann haben wir vielleicht ein Indiz, das uns weiterhilft.«
Nonnenmachers gesenkter Blick war auf die noch offene Dose mit kaltem Reis gerichtet.
»Kurt, wir müssen das machen, das sag’ ich!«, insistierte Kastner.
»Das darf doch nicht sein!«, sagte Nonnenmacher mit leiser Verzweiflung in der Stimme. »Das darf doch nicht sein, dass unsere eigenen Männer am Ende in so einer Sache drinstecken. Die Russenmafia, ja. Die rumänischen Banden, ja. Aber warum sollten unsere eigenen Männer beim Kürschner einbrechen? Warum sollten ausgerechnet die so einen Schmarren mit der Milch machen, wo’s eh fast nix mit ihr verdienen?«
»Ja vielleicht liegt ja gerade darin der Sinn der ganzen Aktion«, warf Anne ein.
»Aber deswegen muss der Kürschner doch nicht sterben! Das gibt doch alles keinen Sinn.«
»Das können wir ja dann beurteilen, wenn wir wissen, ob die Proben übereinstimmen«, erwiderte Anne Loop mit um Konsens bemühter Stimme. »Vielleicht haben Sie ja recht, und wir sitzen hier einer völlig falschen Spur auf. Aber testen müssen wir die Milch von Nagel auf jeden Fall. Dazu sind wir schon wegen des gefundenen Zettels verpflichtet.«
»Mir könnten aber auch noch warten«, brachte Nonnenmacher noch halbherzig vor.
Nein, das würden sie jetzt sicher nicht tun, denn jetzt sei es Zeit zu handeln, »time to handle«, sagte Sepp Kastner und wunderte sich im selben Augenblick über seinen Mut, gegenüber dem Chef seine eigene Meinung vorzubringen. Das hatte er noch nie gewagt.
Alle vier schwiegen, verharrten regungslos in ihrer Position. Von draußen drang das Gewieher der Pferde des toten Milliardärs herein.
»Also, dann ist die Aktion für heute hier beendet«, unterbrach Nonnenmacher das Schweigen. Er klang niedergeschlagen. »Dann fahrt’s ihr jetzt zum Pius und bittet’s ihn um eine Milchprobe. Aber fasst ihn nicht zu hart an. Noch ist nix bewiesen. Unschuldsvermutung!«
Doch Kastner meinte, dass man gar nicht zu Nagel müsse, denn seine Mutter hole sich jeden Tag etwas frische Milch vom Hof des Verdächtigen. Also werde er gleich bei ihr welche für die Analyse besorgen.
Ehe Anne Loop den Grundnerhof verließ, bat sie, unbemerkt von ihren Kollegen, Kürschners Haushälterin noch um einen Gefallen: »Frau Gsell, falls Sie den Rest von dem Zettel, den wir im Mülleimer gefunden haben, finden sollten, dann wäre mir das eine riesengroße Hilfe.«
Elisabeth Gsell nickte eifrig: »Ja klar, ich schau’ gleich noch einmal nach. Vielleicht find’ ich ja was.«
Nach einem Telefonat mit dem Labor in Kempten war klar, dass Anne übers Wochenende würde warten müssen, bis die Ergebnisse vorlägen. Als sie den Hörer aufgelegt hatte, stellte sie erschrocken fest, dass es bereits ein Uhr war und nur sie Lisa vom Kindergarten abholen konnte, weil Bernhard ja nach wie vor verschollen war.
»Sepp, ich muss schnell Lisa abholen. Liegt heute Nachmittag sonst noch etwas an?«
»Ja, der Kurt hat g’meint, mir machen heut eine Geschwindigkeitskontrolle.«
»Ach, da kann ich die Lisa ja vielleicht mitnehmen.«
»Ist dein … äh … Freund schon wieder weg?«
»Ja, zur Recherche«, log Anne hastig.
Obwohl Kastner spürte, dass das nicht stimmte, sagte er nichts. Als Anne weg war, ging er zu Nonnenmacher und erzählte ihm, dass die Frau Loop ihn gerade gefragt habe, ob sie ihre Tochter mit zur Radarkontrolle nehmen könne.
Was denn mit der los sei, dass da am Nachmittag niemand auf das Kind aufpassen könne?, so der Chef.
Kastner erklärte ihm, dass, soweit er das verstanden habe, der sogenannte Lebensgefährte von der Anne nachmittags auf das Mädchen aufpassen müsse, dass der aber wohl ein bisschen ballaballa sei und deswegen oft nicht könne.
Ob der nichts arbeiten müsse, wollte Nonnenmacher wissen, und Kastner erläuterte, dass der sogenannte Lebensgefährte an seiner Doktorarbeit schreibe.
»Also Arbeit in Anführungszeichen«, stellte Nonnenmacher fest.
»Halt ein adeliger G’studierter«, fügte Kastner hinzu.
»Und sie, sie muss dann aber unbedingt ganztags arbeiten?«, fragte Nonnenmacher.
Kastner, vorsichtig: Von irgendwas müssten die Frau Loop und ihre Tochter ja auch leben. Und wenn kein Ernährer da sei, dann müsse das halt sie machen.
»Und Unterhalt kriegt’s keinen?«
Kastner zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Wer ist denn der Kindsvater?«
»Den hat sie bis jetzt nie erwähnt.«
Nonnenmacher schüttelte den Kopf. »Das ist doch eine Scheißzeit, oder? Es gibt keine Ehepaare mehr; die wo’s noch gibt, die lassen sich scheiden; um die Kinder kümmert sich keiner, weil auf einmal jeder arbeiten muss. Dann soll’s das Kind halt einer Kindsmagd geben.«
»Meine Mutter tät’s ja machen, sogar umsonst«, sagte Kastner hilflos, »aber die Anne will’s ja nicht.«
»Besser ist’s natürlich, wenn die Mutter sich drum kümmert.«
»Schon«, meinte Kastner. »Aber das will ja nicht einmal unsere Regierung.«
Nonnenmacher schaute ihn erstaunt an. Kastner erklärte: »Wenn’st du schaust, was da jetzt familienpolitisch alles geplant wird, dann ist doch klar, was die Regierung will: dass die Erwachsenen alle arbeiten und die Kinder von wildfremden Leuten in irgendwelchen Horten aufgezogen werden. Darauf lauft’s raus. Und warum will die Regierung das?«
Nonnenmacher zog die Mundwinkel nach unten und zuckte mit den Schultern.
Kastner brauste auf: »Weil, je mehr Leut’ arbeiten, umso mehr Leut’ zahlen Steuern. Das ist der Grund. Mehr Kühe zum Melken, mehr Milch. Hast du schon gebrotzeitet?«
Jetzt hätte sie bald die Polizei gerufen, meinte die Erzieherin aufgebracht, als Anne völlig außer Atem die Tür zum Kindergarten aufstieß.
Dann fiel der Kindergärtnerin aber wieder ein, dass Frau Loop ja selbst Polizistin war. »Frau Loop, ich muss Sie bitten, in Zukunft pünktlicher zu sein, sonst bekommen wir da ein Problem.«
»Ich weiß, ich weiß, es tut mir leid«, sagte Anne ehrlich bedauernd. »Aber wir hatten heute Morgen eine wichtige Hausdurchsuchung, und mein Freund konnte nicht.«
Sie habe es ihr aber schon einmal gesagt, erwiderte die Erzieherin angesäuert, dass sie auch eine Familie zu Hause habe und man nicht von ihr erwarten könne, dass sie immer die mangelnde Organisation anderer ausbade. Anne sah die Erzieherin ernst an, nickte, beschloss, nichts mehr zu sagen.
»Haben’s denn keine Großeltern, die auf die Lisa aufpassen können?«
Anne schüttelte den Kopf.
»Und wenn Sie’s vielleicht mal mit einer Tagesmutter probieren?«
»Ja, wenn das mit meinem Freund so weitergeht, müssen wir das machen, wobei, da würde ich vielleicht sogar lieber nur Teilzeit arbeiten.«
»Ja, vom Geld her lohnt sich’s ja sowieso nicht, wenn mir Frauen arbeiten, nicht? Tragen die ganze Verantwortung und stehen am End’ allein da.«
»Na ja, ganz so schlimm ist’s auch nicht, aber … wissen Sie, wir müssen schon wieder weiter, weil – unter uns …«, Anne senkte verschwörerisch die Stimme, »… wir machen heute Nachmittag eine Radarfalle.«
»Was? Wo?«, wollte die Kindergärtnerin wissen.
»In Rottach-Egern, auf der Tegernseer Straße, aber das behalten Sie für sich!«
»Ja klar«, raunte die Erzieherin. Als Anne draußen war, rief sie sofort ihren Mann und ihre drei besten Freundinnen an.
Die Radarfalle war wegen des strahlenden Sonnenscheins ein voller Erfolg. Weil es so oft blitzte, hatte sogar Lisa ihren Spaß dabei. Sie zählte die Geblitzten und kam auf hundertunddrei Autos. Zwischendurch rief Anne mehrmals in Bernhards WG an. Die ersten drei Mal hob niemand ab, dann war eine Frauenstimme am Apparat zu hören, und Anne sagte: »Hier spricht das Arschloch von heute Morgen.«
Die Frau am anderen Ende: »Waaas?«
»Na, du hast doch vorhin ›Arschloch‹ zu mir gesagt«, antwortete Anne ruhig.
»Hab’ ich das? Äächt?«
»Mhm. War aber auch wirklich ein bisschen früh, mein Anruf«, meinte Anne versöhnlich. »Ist Bernhard da?«
»Nö, der war doch schon seit letzter Woche oder länger nicht mehr da. Warst du da nicht auch dabei, mit deiner Tochter?«
Anne wurde nervös. »Bernhard war seitdem nicht mehr da?«
»Nö«, sagte die WG-Frau spitz. Auch gestern sei er nicht da gewesen, sie könne aber vorsichtshalber mal in seinem Zimmer nachsehen. Anne hörte ein Klopfen, eine Tür, dann wieder die Stimme am Telefon: Nein, Bernhard sei nicht da, und sein Zimmer sehe auch unberührt aus. »Ruf ihn doch mal auf dem Handy an.«
»Hab’ ich schon, hat er hier liegen gelassen.« Anne hörte Sepp Kastner mit jemandem laut diskutieren und beendete deshalb schnell das Gespräch mit den Worten: »Okay du, danke, ciao.«
Auch Lisa beobachtete das Geschehen gespannt vom Streifenwagen aus. Offensichtlich war ein Porsche geblitzt worden, nach dem Blitzen aber gleich umgekehrt, und der Fahrer stand nun bei Kastner und Nonnenmacher, um mit ihnen zu diskutieren. Anne näherte sich dem Trio und hörte, wie der Mann sagte: »Binne Arzte, musse zu bekannte Moderatorin Nina, musse untersuchen.«
»Ja und?«, fragte Nonnenmacher grantig.
»Isse meine Patient, Nina von Fernseh, moderierte mal Sendung ›Alles wirde gute‹. Nina fühlt sich nix gut, ich komm’ sofort, muss snell gehe undesoweiterundesoweiter.«
»Auch für einen Arzt gelten unsere Geschwindigkeitsbegrenzungen«, meinte Nonnenmacher und klang dabei wie ein Pfarrer.
Jetzt warf sich der kleine gebräunte Mann, teure Uhr, lockiges graues Haar, platinfarbener Designeranzug im Mao-Schnitt, vor Anne auf die Knie und faltete die Hände: »Sie habe Verständnisse, Frau Polizist, Sie habe sicher Verständnisse. Sind auch schöne wie Nina. Sag, Kollega Carabiniere, wenn Frau krank, musse Hilfe schnell … iste so?«
»Schon, schon«, beschwichtigte Anne, »aber wir müssen uns ja auch an unsere Vorschriften halten. Und die besagen, dass, wenn jemand zu schnell fährt, er dafür einstehen muss. Jetzt stehen Sie mal wieder auf. Wie viel sind Sie denn zu schnell gefahren?«
»Ach nixe viel, zwanzige, dreißige, weiße nix!« Er griff nach Annes Hand und wollte sie küssen.
Anne zog die Hand energisch weg. »Nein, nein, das lassen wir jetzt aber schön bleiben. Wir haben ja noch anderes zu tun hier. So wie ich das sehe, müssen Sie, weil Sie in Italien gemeldet sind, jetzt sowieso nur ein Bußgeld zahlen. Und das werden Sie als Arzt von der berühmten Moderatorin Nina ja wohl begleichen können.«
»Genau«, pflichtete Kastner bei und schob sich zwischen den italienischen Prominentenarzt und Anne, um diese vor weiteren Handküssen zu bewahren. Nonnenmacher ging der ganze Promischeiß gewaltig gegen den Strich, weshalb er sich schimpfend zum Streifenwagen zurückzog, in dem Lisa auf Annes iPod mittlerweile »Kalle Blomquist« anhörte. Wie verrückt sein Beruf heutzutage eigentlich sei, dachte Nonnenmacher sich insgeheim: Morgens in einem Todeshaus Papierschnipsel entziffern, die falsche Verbrechensspur zu altehrwürdigen Bauern legen, und nachmittags mit italienischen Promiärzten herumdiskutieren. Wo war überhaupt seine heutige Ration kalter Reis?
Auf dem Weg zurück zur Polizeiinspektion fragte Sepp Kastner vorsichtig, ob Anne denn ihren – »ähm« – Freund schon erreicht habe.
»Warum machst du eigentlich immer ›ähm‹, wenn du von Bernhard redest?«, fragte daraufhin Lisa den verdutzten Sepp Kastner.
Wahnsinn, wie schlau die Kinder heutzutage sind, dachte sich Kastner, der bei Lisa auf der Rückbank des Kombis saß, erwiderte aber nichts, sondern zog nur etwas den Kopf ein. Das Mädchen spürte die Unsicherheit des Kollegen ihrer Mutter und fragte nun, ob er denn eigentlich keine Freundin habe, woraufhin Kastner den Kopf noch weiter einzog, wie eine Schildkröte. Nonnenmacher, der das Gespräch vom Fahrersitz aus mitverfolgt hatte, fragte belustigt nach hinten, ob er Kastner zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt fahren solle, weil er auf einmal kein Wort mehr herausbringe. Da fand Kastner seine Contenance wieder und meinte, dass er solche Verhörsituationen schließlich nur von der anderen Seite her kenne.
»Und Kinder hast du wohl auch keine«, meinte Lisa jetzt triumphierend, was Anne dazu veranlasste, nun doch einzuschreiten, obwohl sie es nicht schlecht fand, wenn ihre Tochter Kastners Eifer, sich als Ersatzvater aufzudrängen, etwas bremste.
»Weißt du, Lisa«, sagte sie, »es ist gar nicht so einfach, jemanden zu finden, der zu einem passt. Hast du denn eigentlich einen Freund im Kindergarten?«
»Ja«, sagte Lisa, »der Quirin. Der hat gesagt, er will mich heiraten. Aber ich weiß nicht, ob ich überhaupt heiraten will.«
Weil es Freitag war und wieder eine Menge Wochenendurlauber den See überschwemmten, brauchte das ungewöhnliche Quartett fast eine halbe Stunde von der Tegernseer Straße zur Dienststelle. Dort angekommen, verabschiedete sich Nonnenmacher gleich in den Feierabend. Kastner fragte Anne noch, ob er sie beide zum Eisessen einladen dürfe, aber Anne winkte ab. »Wir fahren übers Wochenende nach München.«
»Och«, jammerte hierauf Lisa, »ich will aber nicht nach München, ich will lieber Eis essen, und morgen will ich Minigolf spielen. Der Quirin geht auch.«
»Wir müssen aber nach München.«
»Wiesooo?«
»Weil«, sagte Anne. Den Grund wollte sie vor Sepp Kastner nicht aussprechen, denn natürlich ging es nur um eines: um die Suche nach dem verschollenen Bernhard.